• Keine Ergebnisse gefunden

3. Die Entstehung der polnischen Bibliotheksgesetze

3.2 Die Entstehung des Dekrets über Bibliotheken und die Betreuung von

3.2.1 Der Ausgangspunkt und die herrschenden politischen

Bereits in den ersten Monaten nach Kriegsende fielen wichtige Entscheidungen für die Ent-wicklung des polnischen Bibliothekswesens. Die kommunistischen Kräfte strebten erfolgreich danach, die Herrschaft im Land zu übernehmen. Polen wurde sukzessive in den sowjetischen

28 Der polnische Begriff województwo (entspricht am ehesten einem Regierungsbezirk) (Kilian, Hanckel, S. 403) wird der heute verbreiteten Praxis folgend, in der Studie als Woiwodschaft wiedergegeben.

Machtbereich eingebunden. Das am 21. Ju1i 1944 in Cholm konstituierte und durch den Kreml gelenkte Polnische Komitee der Nationalen Befreiung29 (Polski Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN) fungierte als Regierungsapparat für die von der Roten Armee zu be-setzenden Gebiete. Durch den Vormarsch der Roten Armee zog das PKWN bereits am 25. Juli 1944 nach Lublin um und wurde deshalb auch Lubliner Komitee genannt. Es berief noch im selben Jahr im Ressort für Bildung (Resort Oświaty) das Referat Bibliotheken (Referat Biblio-tek) (Janiczek 1946c, S. 48).

Die Kommunisten engagierten sich mit Elan für das nationale Bibliothekswesen. Die biblio-thekarischen Belange bekamen im Ressort für Bildung, welches kurze Zeit später in das Ministerium für Bildung (Ministerstwo Oświaty, Min. Oświaty) umbenannt wurde, eine hohe Priorität. In den Vordergrund rückte insbesondere die Sicherung der vorhandenen Biblio-theksbestände. Auch wenn die Verluste im Bereich des Bibliothekswesens im Ressort für Bil-dung nicht beziffert werden konnten30, war allen bewusst, dass der Schaden immens war. Es

29 Das PKWN war eine von der Sowjetmacht eingesetzte in Konkurrenz zum Exilkabinett stehende Regierung.

Vorsitzender des PKWN wurde Edward Osóbka-Morawski, ein junger bis dahin unbekannter Sozialist. Das PKWN wurde angeblich vom Landesnationalrat als provisorische Exekutive eingesetzt. Der Landesnationalrat selbst proklamierte sich gleichzeitig zur einzigen Vertretung der Nation. Bis zu diesem Zeitpunkt verstand sich der Landesnationalrat als Legislative und Exekutive im Untergrund und beschloss die Bildung weiterer Nationalräte auf Woiwodschafts-, Kreis- und Gemeindeebene sowie die Aufstellung einer Volksarmee. Am 1. Januar 1945 wurde das PKWN zur Provisorischen Polnischen Regierung (Polski Rząd Tymczasowy, PRT) umgebildet und amtierte vom 18. Januar bis 25. Juni in Warschau. Am 28. Juni 1945 kam es auf Beschluss der Jalta-Konferenz zur Bildung der Polnischen Regierung der Nationalen Vereinigung (Polski Rząd Zjednoczenia Narodowego, PRZN). Gebildet wurde sie aus Ministern des PKWN und ehemaligen Ministern der Londoner Exilregierung. An der Spitze stand wieder Osóbka-Morawski. Obwohl die Exilregierung ihren Anspruch aufrechterhielt, das einzige legitime Staatsorgan des polnischen Volkes zu sein, wurde die PRZN sehr schnell von der Sowjetunion und wenig später von Großbritannien und den USA anerkannt. Die Anerkennung durch die übrigen Länder erfolgte sukzessive. (Borodziej 2010, S. 248; Rhode 1979, S. 1035–1036)

30 Der Grad der Zerstörung der polnischen Bibliotheken lässt sich bis heute kaum einschätzen. Die vorhandenen Daten und Archivquellen lassen eine zuverlässige Bilanz der Verluste in den polnischen Bibliotheken nicht zu. Die vagen Einschätzungen basieren auf den Angaben in den Nachkriegspublikationen von Janiczek und Maria Wodzinowska. Nach Janiczek gab es vor dem Kriegsausbruch 35.411 Bibliotheken mit insgesamt 21.000.000 Bänden, darunter 72 wissenschaftliche Bibliotheken mit 6.900.000 Bänden, 9.411 öffentliche Bibliotheken mit 6.500.000 Bänden und 25.928 Schulbibliotheken mit 7.600.000 Bänden. (Janiczek 1946a, S. 1) Nach Wodzinowska gab es 36.500 Bibliotheken mit insgesamt 22.500.000 Bänden, darunter 1.000 wissenschaftliche Bibliotheken mit 8.500.000 Bänden, 9.500 öffentliche Bibliotheken mit 6.500.000 Bänden und 26.000 Schulbibliotheken mit 7.500.000 Bänden. Die Differenz ergibt sich vor allem daraus, dass sich Janiczek nur auf größere wissenschaftliche Bibliotheken konzentrierte (Wodzinowska 1947, S. 12). Barbara Bieńkowska kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie schätzt die Anzahl der Bände vor dem Ausbruch des 2.

Weltkriegs auf 50.000.000. Sie stützt sich dabei auf die Angaben von Janiczek und Wodzinowska, die unvollständigen Zahlen im „Mały Rocznik Statystyczny“ [Kleines Statistisches Jahrbuch] von 1939 und ihre Feststellung, dass in die Berechnungen sechs weitere Bibliothekstypen mit reichen Bibliotheksbeständen nicht berücksichtigt wurden. (Bieńkowska u. a. 1994, S. 50–51) Der Zustand der einzelnen Bibliothekstypen war unterschiedlich. Die wissenschaftlichen Bibliotheken hatten reiche Bibliotheksbestände, waren gut organisiert und hatten ein gut ausgebildetes Personal. Die meisten von ihnen befanden sich in

bestanden keine Zweifel an der Notwendigkeit, Maßnahmen zur Sicherung der Bestände ergreifen zu müssen. Am 29. November 1944 wurde ein wichtiges Rundschreiben an die Schulbezirkskuratorien (Kuratoria Okręgów Szkolnych) herausgebracht, in dem die Vorge-hensweise bei der Sicherung der Bestände geregelt wurde (Knot 1947, S. 97). Am 9. Juli 1945 trat im Zusammenhang mit der Durchführung der Agrarreform eine Anordnung über den Empfang der Bestände der Gutsbibliotheken von den Bevollmächtigten der Landwirtschafts-reform in Kraft (Knot 1947, S. 100-102). (Janiczek 1946a, S. 3–4)

Die sich andeutende territoriale Westverschiebung Polens festigte die kommunistische Herr-schaft in Polen. Denn für die Gebietserweiterung im Westen war eine Bindung an die Sowjet-union unumgänglich. Die Gebiete im Osten galten als verloren. (Borodziej 2010, S. 253–257) Die Verschiebung der alten polnischen Grenzen Richtung Westen wurde faktisch auf der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 beschlossen und das Territorium Polens verkleinerte sich damit um 77037 km² im Vergleich zum 31. August 1939 (Jezierski, Leszczyńska 1994, S. 132). Das Ministerium für Bildung wurde erneut im Bibliothekssektor tätig. Am 4. August 1945 wurde eine weitere Anordnung bezüglich der Sicherung und Nutzung der verlassenen Bibliotheksbestände erlassen (Knot 1947, S. 103-105).

Als Folge der Grenzverschiebung wurde eine gewaltige Bevölkerungsbewegung auf diesem Gebiet ausgelöst, die sich bis heute in genauen Zahlen kaum benennen lässt. Allein aus den verlorenen Ostgebieten wurden 1,5 Millionen Polen repatriiert. Sie wurden überwiegend in den nach Flucht und Vertreibung zurückgelassenen, bis dahin deutschen Ostprovinzen ange-siedelt. Das Ergebnis der Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen sollte ein ethnisch homo-gener Staat sein. (Borodziej 2010, S. 257–259) Die Bevölkerung Polens betrug im Jahr 1946 ca. 24 Mio. Einwohner. (Jezierski, Kubiczek 1994, S. 132–138) Die polnische Innen- und Au-ßenpolitik bestimmte Moskau. Die Grundlinien der Innenpolitik wurden neu ausgerichtet. Der

Universitätsstädten. Die Anzahl der öffentlichen Bibliotheken war zwar sehr hoch, doch ihr Bestand war übersichtlich. Ein Drittel hatte lediglich ca. 100 Bände im Bestand. Ähnlich schlecht stellte sich die Situation in den Schulbibliotheken dar. Sieben Prozent der allgemeinbildenden Schulen hatten keine Schulbibliothek.

Mittelschulen und Berufsschulen verfügten über größere Bibliotheksbestände mit durchschnittlich 1.600 Bänden und waren gut organisiert. Geleitet wurden sie von Lehrern. (Janiczek 1946a, S. 1; Wodzinowska 1947, S. 12–13) Der Gesamtschaden der Jahre 1939 – 1945 wurde auf etwa 70 % des Vorkriegsvolumens geschätzt (Janiczek 1946a; Bieńkowska u. a. 1994, S. 51). Dabei erlitten die allgemeinen öffentlichen Bibliotheken und die Schulbibliotheken zahlenmäßig den größten Schaden (Wodzinowska 1947, S. 13). Die wissenschaftlichen Bibliotheken verloren weniger, aber dafür kostbare Bestände. Abgesehen davon gab es Schäden an Gebäuden und Verluste unter dem Bibliothekspersonal (III. Sprawy Związku Bibliotekarzy i Archiwistów Polskich 1947, S. 73).

Kernbereich Wirtschafts- und Agrarpolitik wurde von der Verstaatlichung der Industrie und der Agrarreform bestimmt. Auch das kulturelle Leben wandelte sich. Die Gesellschaft war entwurzelt und arm. Die Elite war dezimiert. Die Intelligenz überlebte den Krieg nicht oder kehrte aus dem Exil nach 1945 nicht zurück. (Borodziej 2010, S. 260–278) Das allgemeine Bildungsniveau war niedrig. Die wirksame Bekämpfung des Analphabetismus wurde zur wichtigsten Aufgabe des Staates. (Dobosiewicz 1955, S. 18) Es ist zu vermuten, dass die Be-seitigung des Analphabetentums und eine Anhebung des Bildungsstands mit dem Buch als konkurrenzloses Leitmedium von hoher politischer Relevanz waren. Die Bibliotheken sollten wohl bei der Bewältigung dieser Aufgaben eine bedeutende Rolle spielen.

3.2.2 Die Beauftragung des Referats Bibliotheken mit der Erarbeitung eines Dekrets