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10. Die empirische Studie

10.3 Positionierung der ABT-Studie

10.3.1 Der ethnographische Ansatz

Zentrales Anliegen der Ethnographie ist es, das komplexe Handeln einer bestimmten kulturellen oder sozialen Gruppe (hier: der Klasse) in vivo, also im aktuellen Alltagshandeln, -geschehen und -kontext (hier: im Fremdsprachenunterricht der Grundschule) zu beobachten, um es anschließend verstehend beschreiben zu können (vgl. Schocker-von Ditfurth 2001: 96). Das bedeutet, dass der Forscher sich extensiv dem „Feld“, also dem natürlichen setting zuwenden muss und zwar möglichst über einen längeren Zeitraum, um damit vertraut zu werden (vgl. Richards 2003: 14;

Müller-Hartmann 2001c: 210). Dafür eignen sich die Methoden des teilnehmenden Beobachtens und der Datenaufzeichnung, die beide bei der empirischen Studie angewendet wurden. Die Untersuchung dieser Studie erstreckte sich, wie bei der Ethnographie typisch, über einen längeren Zeitraum (über 10 Monate).

10.3.1.1 Explorative Anlage der Studie

Die Begegnung des Forschers mit dem natürlichen setting ist in der ethnographischen Forschung, wie in der qualitativen insgesamt, zugleich theoriegeleitet und offen:

Der Forscher oder die Forscherin geht nicht ohne theoretische Vorstellungen ins Feld. Dennoch determinieren die theoretischen Vorannahmen aber nicht die Beobachtung und Interpretation der Prozesse. Denn die Studie ist explorativ angelegt, das heißt, der/die Forscher/in lässt sich von den Beobachtungen im Feld sowie den subjektiven Sichtweisen der Lernenden und Lehrenden im Sinne eines zirkulären, reflektiven und interpretierenden Ansatzes leiten.

(Müller-Hartmann 2001c: 210)

So gab es in der konkreten Studie die, in den vorangegangenen Kapiteln beschriebenen, Vorstellungen darüber, wie die Leistungseinschätzung des Sprechens gestaltet werden sollte. Im Rahmen dieser Vorgaben wurde den Lehrkräften ermöglicht, zahlreiche Entscheidungen selbst zu treffen (vgl. Kap. 9.2). Aufgrund der Beobachtungen zu den einzelnen Kontexten sowie dem Handeln der Lehrkräfte und Schüler wurde gemeinsam mit den Lehrkräften das ABT-Konzept weiter gestaltet.

Diese Weiter-Entwicklung bedeutete ein hohes Maß an Explorativität, die gegenstandsangemessen war, wenn man bedenkt, dass ethnographische Studien im Alltagsgeschehen und über einen längeren Zeitraum stattfinden. In der konkreten Studie entwickelte sich eine innere Dynamik, die sich zunächst darin zeigte, dass Forscher und Lehrkräfte die Erkenntnisse, die sie in den ersten Versuchen gewonnen hatten, bei weiteren anwendeten. So stellte sich z.B. im Rahmen der Pilotstudie

heraus, dass die Reliabilität der Leistungseinschätzung erhöht werden konnte, wenn die Erwartungen an die Kompetenzen der Kinder bei der Bewältigung der Aufgabe nicht nur mündlich besprochen wurden, sondern, bezogen auf die einzelnen Kriterien des Beobachtungsbogens, schriftlich formuliert wurden. Dadurch wurden sie stärker reflektiert und bewusst gemacht.

Doch die Weiterentwicklung der bereits im Laufe der Studie erworbenen Kenntnisse kam nicht nur innerhalb der einzelnen Klassen, sondern auch klassenübergreifend zum Tragen. So wurden z.B. Erkenntnisse hinsichtlich der hilfreichen Impulse, die in G3 gewonnen wurden, auch in anderen Klassen erprobt. Die immer wieder neuen Überlegungen und Vorschläge, die im Laufe der Studie durch die Auseinandersetzung mit den Lehrkräften und durch die Beobachtungen gesammelt werden konnten, wurden bei der Planungs-Besprechung der einzelnen Stunden als Vorschläge an die anderen Lehrkräfte weitergeben, sodass hier eine zusätzliche Dynamik entstand. Auch Materialien wurden in mehreren Klassen eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist ein Bild, das in einer Klasse erfolgreich zur Beschreibung eingesetzt worden war und anschließend in einer anderen Gruppe genutzt wurde.

Die Explorativität des Ansatzes wurde auch bei den Beobachtungsbögen offenbar.

Was in einer quantitativen Studie nicht vorstellbar wäre, konnte hier verwirklicht werden: Nicht ein und derselbe Beobachtungsbogen war Grundlage aller Unterrichtsversuche, sondern er veränderte sich im Laufe der Studie. Dieses Vorgehen, das im Laufe der Hauptstudie realisiert wurde und vorerst nicht geplant war, ergab sich nach der Analyse und Interpretation der Daten aus der Pilotstudie.

Während der ersten Unterrichtsstunden zeigte sich, dass eine Auswahl an Kriterien sinnvoll war, da nicht alle Aspekte bei jeder Aufgabe beobachtet werden konnten und die Fokussierung auf eine reduzierte Anzahl praktikabler und aussagekräftiger war (vgl. Kap. 12). Diese Erkenntnis für das weitere Vorgehen zu ignorieren, erschien für die komplexe Fragestellung nicht gegenstandsangemessen, und auch nicht den Forschungspartnern gegenüber fair und hilfreich zu sein. Deswegen wurde der Beobachtungsbogen in den folgenden Monaten im Baukastensystem für jede einzelne Aufgabe individuell zusammengestellt und in diesem Kontext jeweils analysiert und interpretiert. Dass dieses Vorgehen zwar keinen objektiven Vergleich zuließ, aber durchaus in der praktischen Umsetzung praktikabel war und erheblich zum Erkenntnisgewinn beitrug, zeigen u.a. die Analysen und Interpretationen in den folgenden Kapiteln.

Auch in anderer Hinsicht wurde der explorative, reflexive und dynamische Ansatz der Studie berücksichtigt. So trafen die Lehrkräfte in Absprache Entscheidungen u.a.

hinsichtlich der Durchführung der Leistungseinschätzung (vgl. Kap. 9.2.9). Jedoch hielten sich die Lehrkräfte nicht immer an diese Vereinbarungen. Dies führte zunächst zu Irritationen, stellte sich aber im Laufe der Zeit zunehmend als große Bereichung und Chance für die Diskussion bzw. Weiterentwicklung des Konzepts dar. So wirkte sich z.B. die Entscheidung von L3, während der Leistungseinschätzung den Schülern gegenüber nicht zurückhaltend zu sein, sehr positiv aus. Das ermutigende Feedback und die hilfreichen Impulse, die von der Lehrkraft kamen, führten dazu, dass die Kinder, nach eigenen Aussagen, die Aufgaben entspannter lösten.

Aber auch Gesichtspunkte, die kritisch wahrgenommen wurden, führten dazu, dass das ABT-Konzept präziser beschrieben werden konnte. So ergab sich aus der Beobachtung der unterschiedlichen Hilfen eine kritische Analyse derselben. Auch die Frage der Transparenz hinsichtlich der Leistungseinschätzung, der Aufgaben und

der Erwartungen, die in den Klassen recht unterschiedlich gehandhabt wurde, ermöglichte eine genauere Festlegung und Beschreibung des eigenen Standpunkts.

Insofern stellte dieses offene Forschungsdesign, das den Lehrkräften Spielraum und Flexibilität gab, einen großen Gewinn für das Erkenntnissinteresse dar.

10.3.1.2 Perspektivenvielfalt

Neben der explorativen Ausrichtung ist ein weiteres Ziel des ethnographischen Ansatzes die Verknüpfung von emischen Sichtweisen (Innenperspektiven der Forschungspartner) und etischen Sichtweisen (Außenperspektiven der Forscherin) (vgl. Müller-Hartmann 2001c: 210; Richards 2003: 15). In dieser Studie ging es bei der emischen Perspektive weitgehend um die der beteiligten Lehrkräfte. Sie wurde erfasst durch

- eine Befragung mit Hilfe eines Fragebogens, - die Gespräche bei der Planung der Stunde

- die restrospektiven, leitfadengestützen Interviews und - die Abschlussinterviews.

Die Sicht der Schüler wurde nicht systematisch ermittelt. Einzig Gespräche von Lehrkräften mit den Schülern, die auf Video aufgezeichnet wurden sowie schriftliche Äußerungen einiger Lerner, vermittelten ein bruchstückhaftes Bild der Lernerperspektive. Deswegen wurden diese Daten sehr behutsam bei der Analyse mit einbezogen.

Durch das In-Beziehung-Setzen der Sicht der Lehrkräfte, der Beobachtungen im Unterricht und der Sicht der Forscherin ergab sich ein vielfältiges Bild, dass die Gefühle und Meinungen der Beteiligten in ihrer Gemeinsamkeit aber auch in ihrer Widersprüchlichkeit und Unterschiedlichkeit berücksichtigte (vgl. Kap. 10.3.2).

Ein Aspekt, der in dieser Hinsicht für die Analyse der Daten besonderer Beachtung bedurfte, war der häufige Standpunktwechsel einer Lehrkraft. Während die anderen Lehrkräfte teilweise im Laufe der Studie ihre Meinung änderten, vertrat eine Lehrkraft innerhalb eines kurzen Zeitraumes (u.a. im Rahmen einzelner restrospektiver Interviews) gegensätzliche Standpunkte. So antwortete sie z.B. auf die Frage, ob Kinder, die eine Aufgabe früher bzw. später im Unterricht bearbeiten einen Vor- oder Nachteil haben, zunächst Folgendes:

74 I_1_L2 L2 Die haben ohnehin einen Vorteil, weil die nämlich immer wieder die Strukturen gehört haben. (...) Die letzten hatten eigentlich easy going, die wussten: „Ah ja, so geht`s halt.“ Die haben das immer wieder gehört, immer wieder diese Fragestellung auch. (...)

Kurz darauf äußerte sie sich zur gleichen Thematik:

95 I_1_L2 L2 Und dann wurde es natürlich auch noch wieder unruhig, klar, dann wurde es unruhig in der Klasse. Was ja normal ist bei 90 Minuten, ist auch normal. Und das wiederum stört ja dann die, die vorne sind. Also ist ja eigentlich eine doppelte Belastung (...) die Konzentration lässt nach weil`s einfach für die Kinder

selber und der Störfaktor Lärm von Außen auch noch.

Höchstens der kleine Vorteil, dass sie die Struktur schon jetzt so oft gehört und gehört haben. Aber ich würde sagen, es ist eher ein Nachteil, am Schluss geprüft zu werden.

Auch zu anderen Aspekten äußert sich L2 widersprüchlich. So schwankt z.B. die Beschreibung des Umfangs der „Starthilfe“ zwischen „ein bisschen“ und „recht viel“:

13 I_1_L2 L2 Und ansonsten hat mich überrascht, dass die Kinder relativ schnell wussten, was sie machen sollten. (...) Ich hab ihnen recht viel Starthilfe gegeben, dass sie so in die Fragestellung rein kamen und dass sie halt auch schon mal ein Beispiel mit mir durchmachen oder untereinander. Dann hab ich gedacht:

„Mhm, vielleicht solltest du das gar nicht, die sollten das vielleicht ganz, ganz selbständig machen.“ Aber ich hatte so das Gefühl, wenn ich ihnen da ein bisschen Starthilfe gebe, dann läuft´s eigentlich ganz gut. (...)

Für die Analyse der Daten bedeutete dies zweierlei. Zum einen musste eine Interpretation sehr vorsichtig und unter Abwägung der unterschiedlichen geäußerten Sichtweisen erfolgen. Zum anderen wurde dabei die Relevanz von weiteren Daten deutlich. So konnten z.B. die Videoaufzeichnungen dabei helfen eine Klärung zu finden, ob die Starthilfe letztendlich „recht viel“ oder „ein bisschen“ war. Insofern war der Datenreichtum, der im Rahmen der Untersuchung gewonnen wurde, wichtige Grundlage für eine Analyse und Interpretation, die die Breite und Tiefe des Forschungsgegenstandes erfasste (vgl. Kap. 10.3.2).

Bei der Studie handelte es sich um eine multiple Fallstudie: Insgesamt vier Klassen wurden über einige Monate regelmäßig begleitet, beobachtet, beschrieben und analysiert. Durch die Erfassung multipler emischer Sichtweisen und die Beobachtung multipler Kontexte war eine fallübergreifende Analyse möglich, die wiederum die externe Validität erhöhte (vgl. Müller-Hartmann 2001c: 210f; Richards 2003: 14ff).

10.3.1.3 Methodenspektrum

Einem weiteren Prinzip der Ethnographie, des methodischen Spektrum bei der Datenerhebung (vgl. Müller-Hartmann 2001c: 210f, Steinke 2000: 320; Richards 2003: 14f), wurde durch die vielfältigen Methoden zum Sammeln der Daten Rechnung getragen. So wurden Fragebögen, Videoaufzeichnungen, Beobachtungsbögen und weitere schriftliche Aufzeichnungen (Feldnotizen, Gesprächspläne, Leitfaden für Interviews, Postscriptum, Notizen während der Interviews) gesammelt (vgl. Kap. 10.5.1).

Da jedes methodische Vorgehen Schwächen hat, wie z.B. die zu starke Nähe bei der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Kap. 10.4.4), sind ein Methodenspektrum und eine Datenvielfalt sinnvoll (vgl. Finkbeiner & Koplin 2001: 115). Diese ermöglichen, den

Forschungsgegenstand „möglichst vielfältig angehen, `einkreisen´ zu können, um die entsprechenden Analysen und Interpretationen aus verschiedenen Perspektiven gleichzeitig abzusichern (Henrici 2000: 32).“ (Müller-Hartmann 2001c: 210). Dafür eignet sich die Triangulation.