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TEIL I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN

A) Der liberale Intergouvernementalismus von Moravcsik

II. Der Ansatz von Moravcsik

3. Zwischenstaatliches Verhandeln

Nachdem Moravcsik die Herausbildung der nationalen Präferenzen erklärt hat, folgt nun im zweiten Schritt seines rationalen Rahmens die Analyse der zwischenstaatlichen Verhandlungen auf EU Ebene. Im Mittelpunkt stehen für Moravcsik dabei die Nationalstaaten, während er den supranationalen Institutionen auf EU Ebene in diesem Prozess nur eine untergeordnete Rolle zugesteht.

Da die nationalen Präferenzen verschiedener Länder oft heterogen sind, will Moravcsik wissen, inwieweit man die speziellen Bedingungen erklären kann, unter denen Regierungen wichtige Verhandlungen führen. Um diese Frage zu beantworten behandelt er die Vertragsverhandlungen als Verhandlungsspiele mit den Bedingungen internationaler Kooperation als Einsatz. In der Literatur der Spieltheorie existieren zwei Dimensionen um Ergebnisse von Verhandlungen zu messen: Effizienz und die zwischenstaatliche Verteilung von Gewinnen. Die erste Dimension fragt: Haben die Regierungen alle möglichen Abkommen geschlossen, oder hätte es noch mehr Gewinn für alle gegeben? Die zweite Dimension fragt:

Welcher innerstaatliche Akteur hat bei diesem Ergebnis verloren und welcher gewonnen?43 Moravcsik lässt nun zwei miteinander konkurrierende Theorien, die beide die Effizienz und die Verteilung der Gewinne von EU Verhandlungen erklären wollen, gegeneinander antreten:

Zum einen die aus dem Neofunktionalismus abgeleitete supranationale Theorie und zum anderen seine intergouvernementale Theorie. Die Erklärungskraft beider Theorien wird in den folgenden drei Dimensionen miteinander verglichen: Verteilung von Informationen zwischen den Akteuren, Einfluss der Akteure in den Verhandlungen und Zustandekommen der Ergebnisse.44

Die supranationale Theorie betont die entscheidende Rolle der führenden supranationalen Akteure, die den Regierungen Informationen zur Verfügung stellen. Dies führt dazu, dass ansonsten ineffizient verlaufende zwischenstaatliche Verhandlungen einen erfolgreichen Abschluss erreichen können und die Verteilung der Gewinne für alle akzeptabel ist.

43 Ebd. S. 50f.

44 Ebd. S. 52.

Die intergouvernementale Theorie unterstreicht dagegen, dass nicht die Hilfe der supranationalen Akteure, sondern die unterschwellige Notwendigkeit nach Kooperation zu Ergebnissen führt. Die Effizienz der zwischenstaatlichen Verhandlungen ist zu keinem Zeitpunkt gefährdet, da alle Regierungen auch ohne die supranationalen Akteure über genügend Informationen verfügen um zu agieren. Der Hauptfokus der Verhandlungen liegt dagegen auf der Verteilung der Gewinne, die durch die relative Macht jeder Regierung, gemessen in der asymmetrischen politischen Abhängigkeit, entschieden werden. Diese gegenseitigen Abhängigkeiten unterliegen glaubwürdigen Drohungen wie Vetos, Abbruch der Verhandlungen, Ausschluss von anderen Regierungen, Verbindungen von unterschiedlichen Themengebieten und Zahlungen.45

Kurz gesagt, die supranationale Theorie geht davon aus, dass der Zugang zu Informationen für die staatlichen Akteure im Verhältnis zu den Gewinnen relativ hoch sind und nur durch die supranationalen Akteure überwunden werden können. Die intergouvernementale Theorie nimmt dagegen an, dass der Zugang zu Informationen für die staatlichen Akteure niedrig sind und das daher die entscheidenden Faktoren von abgeschlossenen Abkommen in den Staatspräferenzen, dem Machtpotential und den Opportunitätskosten von künftigen Abkommen liegen.46 Obwohl Moravcsik die supranationale Theorie verwirft und nur die Ergebnisse der intergouvernementalen Theorie anerkennt, sollen hier beide Theorien kurz vorgestellt werden, da ihre Konfrontation den theoretischen Anspruch Moravcsik klarer herausstreicht.

Supranationale Verhandlungstheorie: Einfluss durch Informationen

Moravcsik kritisiert viele Studien für ihre Behauptung, wonach die Teilnahme von supranationalen Akteuren bei Verhandlungen eine notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Abschluss sein soll. Er wirft ihnen vor, nur zu demonstrieren, dass diese supranationalen Akteure Vorschläge machen, zwischen Regierungen vermitteln, Lobbygruppen mobilisieren und vielleicht Vorschläge durchsetzen. Was diese Studien laut Moravcsik nicht zeigen ist, dass supranationale Akteure entscheidende Akteure sind.

Supranationale Anstrengungen können daher auch nur symbolisch, redundant oder antizipierend sein.47

45 Ebd. S. 52.

46 Ebd. S. 52.

47 Ebd. S. 53.

Dementsprechend bezeichnet Moravcsik die Hervorhebung der angeblich entscheidenden Rolle der supranationalen Institutionen in den Verhandlungen als eine der ehrgeizigsten Behauptungen in der Literatur über die europäische Union.

Angeblich unterscheidet die Existenz der supranationalen Akteure – das Parlament, die Kommission und der EuGH – die EU von anderen internationalen Organisationen und hilft den Erfolg der europäischen Integration zu erklären. Ohne die entscheidende Intervention dieser Kräfte wären wichtige EU Verhandlungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner von nationalen Gruppeninteressen abgeschlossen worden.48 Nach dieser Theorie wären supranationale Akteure eine notwendige Bedingung um ein unbestimmtes Set von Möglichkeiten in ein gemeinsames europäisches Interesse und Abkommen umwandeln zu können. Ohne ihre Führung wäre das Verlangen nach Kooperation gering geblieben.49 Supranationale Akteure üben diese Führung in drei Wegen aus: Erstens durch die Initiierung von Vorschlägen, die gemeinsame Probleme und Lösungen aufwerfen und als Basis für die Verhandlungen dienen. Zweitens durch die Vermittlung zwischen den Regierungen. Drittens durch die Mobilisierung von innerstaatlichen Politikern, Beamten und Interessengruppen, indem sie Informationen selektiv preisgeben.50

Moravcsik steht dem sehr skeptisch gegenüber. Seiner Auffassung nach liegen der Vorstellung, wonach supranationale Akteure Verhandlungen entscheidend bestimmen, drei Annahmen zugrunde: Erstens, dass Macht in internationalen Verhandlungen zu großen Teilen aus der Erzeugung und Manipulation von Informationen besteht. Zweitens, dass diese Informationen, die für den erfolgreichen Abschluss von Verhandlungen benötigt werden, für die Regierungen sonst nur mit hohen Kosten zu erlangen und kaum verfügbar sind. Drittens, dass zentralisierte supranationale Akteure privilegierten Zugang zu Informationen haben.

Falls diese daher über eigene Präferenzen verfügen, können sie diese selektiv verteilen und sind unter Umständen in der Lage, die Verhandlungsergebnisse zu beeinflussen.51

Supranationale Theorien müssen daher erklären, warum supranationale Akteure einen Vorteil gegenüber Staaten in der Erzeugung und Verteilung von Informationen besitzen. Die dafür vorgebrachten Argumente fallen in drei Kategorien: Erstens wegen der Kreativität der supranationalen Akteure. Zweitens wegen dem Vertrauen, das Regierungen und innerstaatliche Interessengruppen den neutralen supranationalen Akteuren entgegenbringen.

48 Ebd. S. 54.

49 Ebd. S. 56.

50 Ebd. S. 56.

51 Ebd. S. 57f.

Drittens wegen der Kommunikation, da der Austausch und die Koordination von Informationen kostspielig sind.

Sollten die obigen drei Annahmen der supranationalen Verhandlungstheorie zutreffen, dann gibt es gute Gründe zu glauben, dass supranationale Akteure Verhandlungsmacht und Einfluss in intergouvernementalen Verhandlungen besitzen.52 Sollte das nicht der Fall sein, dann ist das supranationale Modell theoretisch unbrauchbar und empirisch falsifiziert.

Die supranationalen Hypothesen

In der ersten Dimension, der Verfügbarkeit von Informationen, sagt die supranationale Theorie voraus, dass Informationen asymmetrisch verteilt sind. Supranationale Akteure sollten im Gegensatz zu Staaten über einen privilegierten Zugang dazu verfügen.53

In der zweiten Dimension, dem Einfluss der Akteure in den Verhandlungen, sagt die supranationale Theorie voraus, dass der Zugang zu Informationen nur durch die Beteiligung von supranationalen Akteuren ermöglicht werden kann. Sollten diese nicht ihre Dienste zur Verfügung stellen, so drohen suboptimale Ergebnisse in den Verhandlungen. Die Positionen der Regierungen sollten sich ändern, wenn sie Informationen seitens der supranationalen Akteure bekommen. Insgesamt konzentrieren sich die Verhandlungen in erster Linie auf das Erreichen eines effizienten Abkommens im Sinne des Ausschöpfens aller Möglichkeiten, anstatt um Verteilungskonflikte zwischen den Akteuren.54

In der dritten Dimension, der Struktur der Verhandlungsergebnisse, folgen drei Vorhersagen:

Erstens, dass verhandelte Abkommen ohne die Beteiligung supranationaler Akteure Pareto-suboptimal und damit ineffizient sind, also nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen. Zweitens, dass wenn supranationale Akteure ihre verfügbaren Informationen manipulieren können, Verhandlungsergebnisse wahrscheinlich systematisch zu ihren Gunsten gewendet werden.

Drittens, dass Regierungen in Verhandlungen weder Ausschluss noch Abbruch androhen, sondern sich stattdessen den bestehenden Institutionen verpflichtet fühlen, da sie in ihnen handeln können, um das gemeinsame Interesse zu verbessern. Die supranationale Theorie macht keine Aussagen über etwaige „linkage deals“, außer, dass sie davon ausgeht, dass diese durch supranationale Akteure vermittelt werden.55

52 Ebd. S. 59.

53 Ebd. S. 60.

54 Ebd. S. 60.

55 Ebd. S. 60.

Zwischenstaatliche Verhandlungstheorien: Einfluss durch asymmetrische Abhängigkeiten Moravcsik verwirft in seinem Buch die supranationale Theorie und beweist die Richtigkeit seiner intergouvernmentalen Theorie. Sie konzentriert sich nicht auf den Zugang von Informationen und die Interventionen von supranationalen Akteuren, sondern auf die verschiedenen Interessen der Länder und die Verteilung von Verhandlungsmacht in dem diesbezüglichen Politikbereich. Moravcsik wirft der politikwissenschaftlichen EU Literatur vor, die Macht von Staaten oft zu erwähnen, ohne diese jedoch genauer zu präzisieren.56 Moravcsik versucht die Macht von Staaten in zwischenstaatlichen Verhandlungen durch die Verwendung von Verhandlungstheorien genauer anzugeben. Er will dabei zeigen, dass die asymmetrische, gegenseitige Abhängigkeit den relativen Wert, den jeder Staat dem erfolgreichen Abschluss eines Abkommens einräumt, diktiert. Kurz gesagt, umso wichtiger dem Staat das Erreichen eines Abkommen ist, desto höher ist seine Konzessionsbereitschaft.57 Er stellt für seine intergouvernementale Verhandlungstheorie drei Annahmen auf: Erstens, dass die Verhandlungen in einem einstimmig entscheidenden System stattfinden, zweitens, dass der Zugang zu Informationen leicht für alle Akteure ist und drittens, dass die asymmetrisch wechselseitige Abhängigkeit die relative Macht jedes Akteurs definiert. Sollten diese Annahmen sich bewahrheiten, dann müsste das Verhandlungsergebnis folgende Faktoren reflektieren:58

Erstens den Wert der möglichen unilateralen Politikalternativen relativ zum Status quo für jede Regierung. Diese unilateralen Politikalternativen verkörpern die glaubwürdige Vetodrohung einzelner Regierungen in einem einstimmigen Entscheidungssystem. Demnach muss sich jede Regierung zwischen der einstimmig erzielten europäischen Einigung und der möglichen alleinigen Politikalternative nach einem Veto entscheiden. Diejenigen, die sich mehr von der zukünftigen Kooperation versprechen, werden größere Zugeständnisse machen als die anderen. Die Drohung einstimmige Verhandlungen platzen zu lassen ist allerdings nur glaubwürdig, wenn der betreffende Staat über attraktive, unilateral gangbare Alternativen verfügt.

Zweitens den Wert der alternativ möglichen Koalitionen. Wo andere Koalitionen möglich sind, muss eine rational handelnde Regierung den Wert einer Einigung nicht nur gegenüber unilateralem Handeln vergleichen, sondern auch mit zwei weiteren Möglichkeiten: Zum einen mit dem Wert eines Abkommens mit verschiedenen Koalitionen und zum anderen mit den Kosten bei einem Ausschluss von einem anderen Abkommen.

56 Ebd. S. 60.

57 Ebd. S. 60.

58 Ebd. S. 63.

Drittens die Möglichkeiten Verhandlungspunkte miteinander zu verbinden („issue linkage“) bzw. mit Zahlungen zu verknüpfen („sidepayments“), was die Grundlage für Paketlösungen bildet.59 Sofern sich Verhandlungen über mehrere Sachgebiete erstrecken, sind gegenseitige Konzessionen in unterschiedlichen Sachgebieten möglich. Es existieren drei Möglichkeiten von Paketlösungen: Die Gewinne und Verluste verbleiben erstens beim selben innerstaatlichen Akteur, zweitens bei einem Akteur, der sich nur schlecht wehren kann oder drittens ist noch nicht klar, wann es wen trifft.60

Die Hypothesen der intergouvernementalen Theorie

Folgerichtig macht die intergouvernementale Verhandlungstheorie folgende Vorhersagen: In der ersten Dimension, der Verfügbarkeit von Information, sagt sie leichten Zugang zu Information für alle Akteure voraus. Wichtige Informationen werden von denen eingeführt, die am stärksten an einem Fortschritt in einem Sachgebiet interessiert sind. Daher halten supranationale Akteure keine privilegierte Position inne.

In der zweiten Dimension, dem Einfluss der Akteure in den Verhandlungen, sagt die intergouvernementale Theorie voraus, dass die zwischenstaatlichen Verhandlungen nicht von supranationalen Akteuren, sondern von den Staaten entscheidend betrieben werden. Die Verhandlungen fokussieren sich nicht auf die Effizienz, sondern drehen sich ausschließlich um die Verteilung der Gewinne.

In der dritten Dimension, der Struktur der Verhandlungsergebnisse, sagt die intergouvernementale Theorie vier widersprüchliche Prognosen voraus: Erstens tendieren Abkommen auch ohne die Hilfe von supranationalen Akteuren dazu, effizient zu sein, da alle Staaten über Informationen verfügen. Zweitens bieten Regierungen, die am stärksten an einem Abkommen interessiert sind, die meisten Konzessionen an. Drittens sind Drohungen Verhandlungen scheitern zu lassen nur dann effizient, wenn sie glaubwürdig sind. Viertens sind Paketlösungen nur in einigen limitierten Fällen möglich, da innerstaatliche Verlierer dieses Abkommens dagegen protestieren würden.61

Insgesamt wird hier deutlich, dass Moravcsik in Verhandlungen zwischen Staaten und supranationalen Institutionen den letzteren keinen wichtigen Einfluss zugesteht. Die Ergebnisse werden daher nicht zu Gunsten der internationalen Organisationen ausfallen, wie die supranationale Theorie das voraussagt, da diese keine Informationsvorsprung besitzen und die von ihnen ausgeübte Initiativkraft, Vermittlung und Mobilisierung genauso auch von

59 Ebd. S. 63.

60 Ebd. S. 63-65.

61 Ebd. S. 66.

Staaten übernommen werden können. Dagegen geht Moravcsik davon aus, das die Verteilung der Verhandlungsmacht und die Präferenzen der Staaten die Verhandlungen entscheiden. Das Ergebnis wird in Verhandlungen unter ihnen ausgemacht. Es wird widerspiegeln, dass diejenigen Staaten, die sich mehr von der Kooperation versprechen, größere Zugeständnisse machen, als die anderen, dass Staaten die Kosten eines möglichen Verlierens in ihr Verhalten einbeziehen und dass Staaten „package deals“ über verschiedene Punkte schließen, um ein Abkommen zu ermöglichen, sofern potentielle innenpolitische Verlierer nicht protestieren.