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TEIL I: THEORETISCHE GRUNDLAGEN

A) Der liberale Intergouvernementalismus von Moravcsik

II. Der Ansatz von Moravcsik

1. Die Prämisse von Moravcsik’s Theorie: Der rationale Rahmen

Moravcsik wirft dem Studium der europäischen Integration vor, dass es lange nur von klassischen großen Integrationstheorien betrieben wurde, die die EWG/EU entweder mit einem beherrschenden Antriebsfaktor oder als Idealtyp analysiert haben, was dazu geführt hat, dass sie als eine Disziplin mit einer eigenen „sui generis“ Terminologie entstanden sind. Laut Moravcsik kann man die wichtigsten Integrationsentscheidungen dagegen mit engeren fokussierten, aber leichter verallgemeinerbaren Theorien von mittlerer Reichweite mit einem Fokus auf wirtschaftlichen Interessen, Verhandeln und institutioneller Auswahl, die aus der allgemeinen Literatur der internationalen Kooperation hervorgehen, besser erklären.23

Moravcsik strukturiert seine Untersuchung mit einem dreiteiligen rationalen Rahmen der internationalen Kooperation. Den Ausdruck Rahmen, im Gegensatz zu Theorie und Modell,

21 Ebd. S. 17.

22 Ebd. S. 23.

23 Ebd. S. 19.

definiert er als ein Set von Annahmen, die ihm erlauben ein Phänomen in seine Elemente aufzuteilen, von denen jedes einzeln behandelt werden kann. Weitere Theorien, von denen jede mit den Annahmen des übergeordneten rationalen Rahmens konsistent ist, werden angewendet um jedes Element zu erklären. Die Elemente werden dann zusammengefasst um mit einer aus mehreren Faktoren bestehende Erklärung ein größeres Politikresultat wie ein multilaterales Abkommen erklären zu können.24

Der rationale Rahmen teilt internationale Verhandlungen in drei Phasen ein: nationale Präferenzenformierung, zwischenstaatliches Verhandeln und institutionelle Auswahl. Jede Stufe wird durch eine eigene Theorie erklärt: Zuerst formulieren Regierungen ein konsistentes Set von nationalen Interessen, deren Existenz Moravcsik unabhängig von jeglicher speziellen internationalen Verhandlung definiert. In der zweiten Stufe verhandeln Staaten miteinander um Ergebnisse zu erzielen, die ihre nationalen Interessen besser schützen, als es unilaterales Handeln würde. Zum Schluss wählen sie internationale Institutionen aus um die geschlossenen Abkommen zu überwachen.25

Der dreistufige Analyseschritt beruht auf der Prämisse von allen konventionellen Theorien über Macht oder Verhandeln: Der Einfluss von Akteuren kann nicht analysiert werden, solange unklar ist, welche Ziele diese zu realisieren versuchen. Diese Unterscheidung ist der Kern der modernen Regimetheorie: Erst muss in zwischenstaatlichen Verhandlungen über das Ziel und das Ausmaß der internationalen Kooperation entschieden werden, bevor die Frage entschieden wird, wie die Souveränität geteilt wird. Regierungen debattieren erst dann über Institutionen, wenn sie ein bedeutsames Abkommen geschlossen haben.26

Der Nationalstaat als einheitlicher und rationaler Akteur

Dieser dreiteilige Rahmen ist theoretisch nicht neutral, da er bereits wichtige theoretische Annahmen beinhaltet. Er beruht auf der Annahme, dass das primäre politische Instrument, durch das Individuen und Gruppen in einer Zivilgesellschaft Einfluss auf internationale Verhandlungen nehmen wollen, der Nationalstaat ist, der nach außen als einheitlicher und rationaler Akteur handelt.

Die Annahme, dass Staaten einheitliche Akteure sind, bedeutet, dass jeder Staat in internationalen Verhandlungen mit einer einheitlichen Stimme auftritt und Regierungen innerhalb einer gewissen Periode der Verhandlungen stabile Präferenzen verfolgen.

Moravcsik möchte zwei potentiellen Kritiken entgegenwirken:

24 Ebd. S. 20.

25 Ebd. S. 20.

26 Ebd. S. 21.

Erstens nimmt er nicht an, dass Staaten in der Innenpolitik mit einer Stimme sprechen. Im Gegenteil, die Herausbildung nationaler Präferenzen, die materieller oder ideeller Natur sein können, erfolgt in einer Auseinandersetzung der innenpolitischen Akteure. Aber die „Staat als einheitlicher Akteur These“ nimmt an, dass sobald ein Ergebnis des innerstaatlichen Machtkampfes feststeht, Staaten sich strategisch gegenüber anderen Staaten als einheitliche Akteure positionieren um ihre Interessen durchzusetzen. In diesem Sinne unterscheidet Moravcsik im Verhalten nach Außen auch nicht mehr zwischen Regierung und Staat.

Zweitens brauchen Regierungen nicht unbedingt einen einzelnen Repräsentanten bzw. eine streng hierarchische Struktur verwenden, um einheitlich nach Außen zu agieren. Selbst wenn in mehreren Institutionen unterschiedliche Akteure eines Staates integriert sind, werden diese eine gemeinsame nationale Position vertreten.27

Die Annahme, dass Staaten nicht nur einheitlich, sondern auch rational handeln, bedeutet, dass Regierungen ihre Position aus einem stabilen Set aus innenpolitischen Politikoptionen auswählen. Laut Moravcsik soll diese Annahme nicht zu weit getrieben werden, da sie sehr schwach ist. Die Interessen von Staaten variieren in Reaktion auf exogene Veränderungen in der wirtschaftlichen, ideologischen und geopolitischen Landschaft. Die „Staat als rationaler Akteur These“ behauptet lediglich, dass ein politisches System eines Landes für jede internationale Verhandlung ein Set von stabilen und gewichteten Zielen erzeugt, die Regierungen mit maximaler Effizienz bei begrenzten Mitteln verfolgen. Die „Staat als rationaler Akteur These“ bezieht aber keine Position zur Frage, inwieweit Staaten völlig informiert sind, obwohl ein Rahmen, der davon ausgeht, dass Staaten sehr gut informiert sind, gute Ergebnisse liefert.28

Die Behauptung, dass der Nationalstaat das primäre politische Instrument ist, durch das Individuen und Gruppen in einer Zivilgesellschaft Einfluss auf internationale Verhandlungen nehmen und der nach Außen als einheitlicher Akteur auftritt, bedeutet, dass Moravcsik den europäischen Institutionen keinen eigenen Willen zuerkennt, sondern davon ausgeht, dass ihre Vertreter genau wie ihre Nation agieren werden. Demnach sollte das Abstimmungsverhalten des Parlaments die Konfliktlinien des Rates widerspiegeln. Aus seiner Fokussierung auf den Nationalstaat als Hauptvehikel der Einflussnahme von Individuen und Gruppen auf internationale Verhandlungen folgt, dass Akteure, die innenpolitisch unterliegen, keine Chance haben sollten, auf europäischer Ebene ihre Interessen durchsetzen zu können.

27 Ebd. S. 22.

28 Ebd. S. 23.

2. Die Erklärung nationaler Präferenzen