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Spielsituation 14 Beim Therapeuten

VII. Arbeit und Weg

3. Zur Verwendung der ‚Ergodizität‘

Ergodizität für Systeme anzunehmen, die das System ‚Mensch – Maschine‘ in Computer-spielen repräsentieren, ist eine starke Annahme. Ergodizität als Eigenschaft von Systemen anzunehmen, ist generell eine starke Annahme, auch in der Physik. Die Anwendung des Begriffs beziehungsweise die Entlehnung des Begriffs aus der Physik, die Aarseth so nicht intendierte oder in dieser Form in nachträglicher Ergänzung nicht mehr sehen will, macht nur Sinn unter den Voraussetzungen einer noch stärkeren Annahme, die die Integration des Users auf Ebene des Texts mit einer quasimechanischen Organisation des Users selbst ermöglicht. In diesem Szenario wären Spiele als ergodische Systeme dann durchaus denkbar, da ohne den Willen und die Eigenschaften eines Spielers jeder Zustand im Spiel gleich und

‚spielbar‘ wäre. Dann wären statistische Aussagen über den Spieler möglich, vorausgesetzt sein Verhalten gerät nie zum Störfaktor des Systems.418 Reduziert auf rein statistische Größen tritt der Verlust der anthropologischen Perspektive in diesen Arten formalistischer Modelle deutlich hervor, was diesen Ansatz jedoch nicht im Wert herabsetzen muss.

415 Welche Dimensionen so etwas annimmt, kann gut in den populären Speedruns wie Quake oder Half Life Done Quick genauso beobachtet werden wie in der Trickjumping-Community von Quake III Arena (id software 1999).

416 Aarseth: „Playing Research”, S. 6.

417 Hier noch einmal der ausdrückliche Hinweis, dass Aarseth diese Kontinuität seiner Modelle selbst nicht in dieser Form annimmt. Er trennt die textwissenschaftlichen Beiträge der Vergangenheit von seiner Arbeit in den game studies. Diese Einschätzung ist durch persönliche Korrespondenzen mit Aarseth bestätigt.

418 Brush beschrieb Systeme, die durch die Ergodenhypothese charakterisiert sind, als mechanische Systeme, die durch jeden Punkt eines Phasenraums laufen, der auf einer bestimmten ‚Energieoberfläche‘ liegt – „if left undisturbed“, wie es hieß; vgl. Brush: The kind of motion we call heat, S. 363.

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Entscheidend ist, bestimmte Perspektiven auf einen Gegenstand nicht unter falschen Voraussetzungen zu führen, sondern sie als Perspektivierung in einer bestimmten Hinsicht mit klaren Annahmen zu markieren.419 Aarseth weist zwar explizit auf die Grenzen seines Modells hin, versteckt diese Hinweise jedoch auch hinter der dominanteren Ausstellung eines vermeintlich universelleren Geltungsanspruchs des Theoriemodells. Dadurch macht er Grenzen wieder undeutlicher.

Grenzen werden jedoch in anderer Hinsicht auch überschritten, was ein größeres kommunikatives Problem erzeugt. Aarseths Begriffsentlehnung aus der Physik lediglich zum Anlass für das Experiment der letzten Abschnitte zu nehmen, hätte den letztlich betriebenen Aufwand allein kaum rechtfertigen können. Das eigentliche Problem besteht darin, dass die Entlehnung zu nah am Thema selbst stattgefunden hatte:420 Die beharrlichs-te Art des Verweises auf die etymologische Wurzel des Begriffs funktioniert nicht, wenn der Ursprung der Entlehnung tatsächlich Relevanz für die Fragestellungen zum eigenen Gegenstand besitzt.421 In einer Diskussion von Wardrip-Fruins Online-Beitrag zur Klärung der Begriffe ‚Ergodic and Cybertext‘ ist auch dem nicht auf Physik spezialisierten Publikum aufgefallen, dass der Begriff ‚ergodic‘ bereits spezifische Bedeutungen in anderen Kontexten aufweist, die vom eigentlichen Gegenstandsbereich nicht vollkommen isoliert sind.422 Aarseth selbst distanziert sich in eben dieser Diskussion von den Begriffen Cybertext und ‚ergodic‘, nachdem er sich bereits am gleichen Ort zuvor von der Entlehnung des Begriffs aus der Physik abermals nachdrücklich distanziert hatte:

I rarely use these two concepts anymore, however, since they are of little use in the study of games. And I hope people will come up with better terms, that is, terms that can explain and describe differences and properties more clearly, accurately, and more nuanced than mine could.

419 Manchmal hilft es, Grundvoraussetzungen dieser Art explizit zu benennen, und zu sagen, was jeweils in der eigenen Perspektivierung gut gezeigt werden kann und was gegebenenfalls sicherlich auf der Strecke bleibt. Auch dies könnte die Spielforschung aus dem Hinweis Winklers lernen, dass eine Perspektivierung nicht nur stets die eigene Reichweite zu reflektieren hat, sondern sie von Zeit zu Zeit auch als solche zu markieren hat. Sein Hinweis ist hier erneut ohne Einschränkungen einsetzbar: „Diese Perspektiven würden sich von der ersten Variante dadurch unterscheiden, dass sie die eigene Reichweite mitreflektieren, also sagen, inwieweit sie Perspektive sind, oder welchen Raum sie gut beschreiben, oder welchen zweiten Raum sie möglicherweise gar nicht gut beschreiben. Und ich glaube je perspektivischer sich eine solche Definition versteht, desto anschlussfähiger wird sie dadurch und desto weniger usurpatorisch. Eine technische Definition wird sicher andere Bereiche gut beschreiben, als andere Typen von Definitionen.“, in: Hartmut Winkler: „Zeichenmaschinen oder warum eine semiotische Dimension für die Medien unerlässlich ist“.

420 Aarseth wehrt sich an verschiedenen Stellen dagegen, seine Entlehnung als ‚Metapher‘ zu begreifen und zu bezeichnen – er selbst sieht dies als „belanglosen Diebstahl“ („petty theft“), wie er in einer persönlichen Korrespondenz verdeutlichte. Doch genau als belanglosen Diebstahl eines Wortes für die Eigenverwendung könnte man eine Metapher definieren.

421 Die etymologische Wurzel erscheint im Übrigen nicht ganz so klar, wie Aarseth es vorführt. Vgl.:

Giovanni Galavotti: Statistical Mechanics. A Short Treatise, Berlin/Heidelberg/New York 1999, S. 36.

422 Unter anderem meldet sich hier auch Ian Bogost zu Wort und adressiert folgende Frage an Aarseth: „This is an extremely pedantic question, and one I normally wouldn’t have interest even in posing, but why not in this context. In the book you’re very clear about borrowing the word „ergodic“ from physics, but as I understand it physics in turn borrows the term from mathematics (a statistically representable recurring state) for use in periodic systems theory. I’m not a physicist and I could be wrong about this. I’m just curious if there was any reason you refer to physics in particular and not mathematics (or statistics).“ Aarseth antwortet:

„No reason, at least none that I still remember. Probably carelessness mellowed by ignorance.“ Alles zitiert aus: Wardrip-Fruin: „Clarifying Ergodic and Cybertext“, response 14f.

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At any rate, misunderstandings are unavoidable, since people will read any text in the way which best serves their own purpose, my own reading of my own work included.423

Der letzte Teil des Zitats belegt Aarseths Fähigkeit zur reflektierten, kritischen Betrachtung der Praxen und Methoden der Forschung auch noch einmal in Bezug auf das, was einige Kapitel zuvor im Kontext des ‚Playing Research‘ Entwurfs diskutiert worden war.424 Die im Zitat enthaltene Distanzierung von den Begriffen fand 2005 statt, demnach 7 Jahre nach Veröffentlichung seiner Arbeit, und etwas mehr als ein Jahr nachdem Aarseth beispielswei-se den Begriff ‚ergodic‘ in beispielswei-seinem Aufsatz ‚Playing Rebeispielswei-search‘ beispielswei-selbst noch mitten im Kontext der game studies verwendet hatte.425 Andere arbeiten im Bereich der Computerspielforschung weiterhin mit dem Begriff ‚ergodic literature‘ oder ‚ergodic art‘.426 Der Begriff scheint in den ‚game studies‘ nach wie vor lebendig zu sein.

Aarseths Aussage, der Begriff ‚ergodic‘ sei für die Spielforschung von geringem Nutzen, ist in zweierlei Hinsicht zu widersprechen: Einerseits im Sinne meines Gedankenexperiments.

Andererseits weil der Begriff ‚Ergodizität‘ noch eine zweite Sinnebene parat hält, die für die weiteren Betrachtungen eine tragende Rolle spielen, wenn es um Fragen zur zeitlichen Ordnung von Ereignissen und deren kausalen Verknüpfungen in Computerspielen geht, zu denen wir nun thematisch zurückkehren.

423 Ebd., response 6.

424 Vgl. Kapitel IV.

425 Aarseth: „Playing Research“, S. 6.

426 Vgl. beispielsweise: Markku Eskelinen/Ragnhild Tronstad: „Video Games and Configurative Performances“, in: Mark J. Wolf/Bernard Perron (Hrsg.): The Video Game Theory Reader, S. 195-220, oder aktueller: Tom Tyler: „A Procrustean Probe“, in: Game Studies, Volume 8, Issue 2 (December 2008), URL:

http://gamestudies.org/0802/articles/tyler (19.01.2012).

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