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Gedankenexperiment: Ergodizität – hier und dort

Spielsituation 14 Beim Therapeuten

VII. Arbeit und Weg

2. Gedankenexperiment: Ergodizität – hier und dort

Die Ergodentheorie hat sich in der Mathematik als eine Theorie der maßerhaltenden Transformationen aus einer Hypothese Boltzmanns aus dem 19. Jahrhundert ergeben. „In its broadest interpretation ergodic theory is the study of qualitative properties of actions of groups on spaces“,403 wie es im ersten Satz einer Einführung in die mathematische Ergodentheorie heißt. Dies mag sich noch nahbar oder gar in Analogien übertragbar anhören, doch die Ergodentheorie vereitelt derartige Bestrebungen. Selbst im Bereich der Mathematik gilt sie durchaus als ‚speziell‘.

400 Aarseth: Cybertext, S. 2.

401 Ebd., S. 14.

402 Noah Wardrip-Fruin: „Clarifying Ergodic and Cybertext“, in: Grand Text Auto, 12.8.2005, URL:

http://grandtextauto.org/2005/08/12/clarifying-ergodic-and-cybertext/ (19.01.2012).

403 Peter Walters: An introduction to ergodic theory, Heidelberg/New York 1982, S. 1.

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Abbildung 50: Ein Theorem aus der Ergodentheorie nebst Beweis – Formelästhetik für den diesbezüglich Geneigten.404

Um allerdings grundlegend zu verstehen, worum es in der Ergodentheorie der Physik beziehungsweise Mathematik geht, ist es nicht unbedingt nötig, das Terrain eines allgemeinverständlichen Vokabulars zu verlassen. Was sind also ergodische Systeme?

Um dies zu beantworten befragen wir nicht die weitaus abstraktere Ergodentheorie, sondern die historisch relevantere ‚Ergodenhypothese‘, die sich qualitativ maßgeblich von der ‚Theorie‘ unterscheidet und an die Ludwig Boltzmann (1844-1906) und zeitgleich James Clerk Maxwell (1831-1879) gleichermaßen glaubten. Sie besagt in einer Formulierung Brushs:

A mechanical system, if left undisturbed, will pass through every point of the phase space lying on a certain energy surface. In other words, the positions and velocities of all the mass points (representing the atoms) will eventually take every possible value consistent with the given total energy of the system.405

404 Ebd., S. 27.

405 Stephen G. Brush: The Kind of Motion We Call Heat. Book 2: Statistical Physics and Irreversible Processes, Amsterdam/New York/Oxford 1976, S. 363.

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Das ergodische System wird also durch alle möglichen Zustände gehen, wenn es lange genug in Ruhe gelassen wird – äußerst lange in Ruhe gelassen wird – „ [...] ergodicity (if you think about it) is clearly also the sort of thing one has in the back of one’s mind when one speaks of trajectories wandering aimlessly and randomly and all over the place and in no particular direction.”406

Obwohl diese Hypothese genügte, um in den Modellen der statistischen Mechanik rechnen zu können, erwies sie sich als eine zu starke Annahme, was Plancherel und Rosenthal 1913 unabhängig voneinander veranlasste zu zeigen, dass eine Bahn, die durch jeden Zustand eines sogenannten ‚Phasenraums‘ geht, keine mechanische Bahn sein kann. Ihre Ergebnisse führten zur abgeschwächten ‚Quasiergodenhypothese‘, die nun besagte, dass die Bahn durch einen solchen Phasenraum jedem Punkt ‚so nahe wie gewünscht‘ kommen kann.

Diese abgeschwächte Version der Hypothese erfüllte nicht den gewünschten Zweck, da es die Gleichheit von Zeitmittlelwert mit Scharmittelwert (dem Phasenmittelwert) nicht bestätigte, die der eigentliche Beweggrund für Boltzmann war, diese Hypothese überhaupt zu formulieren. Es war genau diese Gleichheit, die Rechnungen im ‚statistischen Ensemble‘

ermöglichte. Dies ist eine der wichtigen Grundlagen, auf Basis derer die statistische Mechanik überhaupt erst betrieben werden konnte. In den frühen 1930er Jahren waren es Birkhoff, Koopman und von Neumann, die diese Gleichheit beweisen wollten, ohne auf den Annahmen der Ergodenhypothese aufzusetzen. Dies resultierte in der Ergodentheorie, einer mathematischen Theorie zu allgemeiner Dynamik, deren Formalismus in Abbildung 50 so (visuell) anschaulich repräsentiert ist.407

Nun fragt man sich zurecht, was das denn mit dem eigentlichen Thema zu tun hat, wenn die Darstellung dieser Intimitäten der statistischen Physik und Thermodynamik nicht zum Selbstzweck verkommen sollen. Dazu kann das Ganze auf ein Phänomen abgebildet werden, das zumindest so aussieht wie ein Spiel, in Wirklichkeit aber nur deren Ausstattung nutzt: Ein einfaches, ‚kontrollierbares‘ ergodisches System lässt sich leicht mit einem Satz Würfel konstruieren – je mehr Würfel, desto besser die Annäherung an ein ergodisches System. Beim Würfeln lässt sich feststellen, dass es keinen Unterschied macht, ob man mit einem Würfel 1000 mal würfelt oder mit 1000 Würfeln ein einziges Mal. Dies ist unter anderem deswegen der Fall, da die statistische Mechanik besagt, dass Zeitmittel und die Mittelung über das statistischen Ensemble gleich sind. Dies veranschaulicht uns das Würfelbeispiel. Die Annahme von ergodischen Systemen ergab sich – wie bereits erwähnt – aus Problemen der statistischen Mechanik für dynamische Systeme, in denen Raum- und Zeitmittelwerte gleich sind. Die Erweiterung dieses Konzepts verweist auf abstraktere Systeme, die mit einem sogenannten Phasenraum operieren und lautet dann: Systeme, in denen Schar- und Zeitmittelwerte gleich sind. Die hierzu äquivalente Formulierung der Ergodenhypothese besagt, dass alle verfügbaren Mikrozustände über lange Zeit gleich wahrscheinlich sind.408

406 Albert: Time and Chance, S. 59.

407 Für eine exzellente, kurze und noch verständliche Einführung vgl.: Massimiliano Badino: „The Foundational Role of Ergodic Theory“, Preprint 292 of the Max Planck Institute for the History of Science 2005, URL: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P292.PDF (19.02.2012).

408 Gewöhnlich spielt in ergodischen Systemen die Zeit eine zwiespältige Rolle, denn sie muss als sehr groß angenommen werden. Andererseits wird die Zeit aber auch ‚wegtransformiert‘: Über lange Zeiten betrachtet ist die Aufenthaltszeit in einer Region des Phasenraums der Mikrozustände der gleichen Energie proportional zum Volumen dieser Region, das heißt, dass alle verfügbaren Mikrozustände gleich wahrscheinlich sind, wenn man lange Zeiträume betrachtet. Lange Zeiträume können für ergodische Systeme gewöhnlich sehr lange sein.

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Selbst bei der metaphorischsten aller metaphorischen Lesarten: Interessieren Mikrozustän-de in einer makroskopischen Welt wie Mikrozustän-der unsrigen, in Mikrozustän-der die Spiele und ‚Textspiele‘

stattfinden, die uns im eigentlichen Sinne interessieren? Es gibt zunächst keinen einsichtigen Grund, über relevante Zustände des ‚Phasenraums‘ eines Computerspiels zu mutmaßen, obwohl es durchaus möglich wäre, einen halbwegs plausiblen und relevanten Phasenraum zu definieren, aufgespannt durch zwei Koordinaten, die einen Zustand im Spiel beispielsweise durch observable Größen definieren. Doch die Behandlung potenzieller Zustände durch statistische Methoden bleibt wenig plausibel für unseren primären Gegenstand: Man braucht kaum zu überlegen, ob die Möglichkeiten, in einem Computerspiel relevante ‚Zustände‘ anzunehmen, vergleichbar wären mit einer Zahl aller verfügbaren Mikrozustände in echten ergodischen Systemen. Es wäre auch nicht erstrebenswert, eine solche Anzahl von Zuständen in einem Computerspiel zugängig zu machen. Spiele funktionieren eben anders als die Wirklichkeit – das definiert sie ja geradezu. Es ist wohl auch so, dass ergodische Systeme anders funktionieren als die Wirklichkeit, denn die Ergodenhypothese bleibt Hypothese. Zumindest eine gewisse Distanz zur tatsächlichen Wirklichkeit haben Spiele und ergodische Systeme in jedem Fall gemeinsam. Beide modellieren die Wirklichkeit für eigene Zwecke.

Selbst wenn die Bestimmung derartiger Zustände im Spiel sinnvoll wäre, so wäre die Masse der Zustände für Spieler hochgradig irrelevant, da sie durch die Beliebigkeit ihrer Verteilung keinen Zugang zu Bedeutungsstrukturen eröffnen. Sie wären im wahrsten Sinne des Wortes bedeutungslos in ihrer statistischen Verteilung. Doch die Zustände eines Phasenraums wären auch nicht gleichwertig: Nehmen wir einen großen, dreidimensionalen Raum in einem Computerspiel – eine Tür als Eingang A, eine andere als Ausgang B.409 Es gibt in einem solchen Spielraum beliebig viele Wege und Pfade (‚hodos‘), die vom Eingang zum Ausgang führen. Sie statistisch alle zu beschreiten, sie allein in strategische (nicht statistische) Erwägung zu ziehen, würde in der Tat in (unsinnige) Arbeit ausarten (‚ergon‘).

Wir erkennen hier, was die mechanische Organisation des Users oder Spielers als Konsequenz nach sich ziehen würde: Ein Modell, das gegen jede denkbare anthropologi-sche Perspektivierung wirkt, indem sie menschliche Intention und jeglichen Willen ausklammert. Zumindest dies führt die genaue Betrachtung der begrifflichen Implikationen der Ergodizität von Systemen hier schon vor Augen. Wir unterschätzen dies nicht im Wert, denn die Grenze zwischen formalistischen Ansätzen und anthropologischen Perspektivie-rungen ist an dieser Stelle markiert – und damit ist auch die Kernfrage dieses Kapitels angesprochen.

Für den Spieler und dessen strategische Erwägung von A nach B zu kommen, spielt meist nur ein Pfad die entscheidende Rolle. Dies wäre der direkte Weg unter den gegebenen

Wie man in Manfred Eigens und Ruthild Winklers Buch ‚Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall‘ liest,

übersteigen die betrachteten Zeiten schnell die Lebensdauer des Universums. „Beim Nachrechnen der Zeiten aber, die zur Reproduktion einer bis ins kleinste fixierten Verteilungskonstellation nötig sind - der Physiker nennt diese die (Poincaréschen) Wiederkehrzeiten –, kommt heraus, dass diese im allgemeinen größer als das Lebensalter des Universums sind, das ist größer als zehn Milliarden Jahre. Boltzmann berechnete, dass man für eine Reproduktion der Lagekoordinaten aller Atome innerhalb von zehn Angstrom sowie für eine Reproduktion der Geschwindigkeiten innerhalb von 0.2 Prozent ihres mittleren Wertes in einem

Kubikzentimeter eines verdünnten Gases (ca. 1/30 des Atmosphärendrucks) bereits mehr als (1010)19 Jahre benötigen würde“, aus: Manfred Eigen/Ruthild Winkler: Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 1976, S. 196f.

409 Einen solch idealisierten Beispielraum hatte ich in Kapitel V.4.c) bereits angeführt.

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Randbedingungen, die ein Spiel durch die in diesem Raum angelegte Ereignisstruktur vorsieht (‚Zwischenfälle‘ wie Gegner als ‚challenges‘ und Ähnliches). In Kapitel IV.3.b) wurde gezeigt, dass die Verteilung von Ereignissen oder Herausforderungen in den virtuellen Räumen von Computerspielen linear vorgegeben sein können, während in einem absolut vergleichbaren Raum der Weg des Spielers explorativer genutzt werden kann, um eine vorgegebene Anzahl von Herausforderungen zu bewältigen. Dadurch dass die Bahn des Spielers in der explorativen Orientierung mehr Entscheidungsfreiheiten des Spielers zulässt als im Fall der linearen Verteilung von Herausforderungen im Raum, legen die Entwickler der angenommenen Spielerfahrung eine statistische Größe zugrunde – einen

„expected player vector“ –, der in beiden Fällen helfen soll, einen ähnlichen Rhythmus (‚pacing‘) der ‚challenges‘ für eine vergleichbare Spielerfahrung zu erzielen. Daran erkennt man, dass in der ‚Medienrealität‘ selbst bei statistischen Methoden, beziehungsweise gerade bei statistischen Methoden, die Spielerfahrung nie ausgeklammert werden kann. Eine zusätzliche, aber entscheidende Verkomplizierung tritt auf, wenn das Scheitern eines Spielers bei seiner Raumdurchquerung durch die Platzierung von Gegnern und anderen Hindernissen (‚challenges‘) einen ‚reset‘ verursacht. Dies ist wie bereits mehrfach erwähnt kein Zurücksetzen der Erfahrung eines Spieler, sondern ein Zurücksetzen der Zustände eines Spiels und dessen Prozess, sofern man den Spieler für diese Beschreibungszwecke ausklammern kann.

Forschungsfragen, die uns die Möglichkeit eines neutralen, homogenen Raums in Computerspielen, in dem alle Zustände gleich sind, nahelegen sind nicht vernünftig begründbar, da sie Nutzerbedürfnisse in einem blinden Fleck behalten und nicht freigeben.

Anzunehmen, die Planung eines Spiels als Design von Spielstrukturen könne diese Bedürfnisse und Anliegen missachten, wäre ein Trugschluss. Auch die Betrachtungen in Kapitel V.4 unterstützen diese Sicht. Dort ging es gerade darum, wie die Entwickler von Computerspielen antizipieren müssen, was ein Spieler jeweils denken und für seinen Weg planen mag, schon allein aus dem Grund, eine gewisse Dramaturgie ins Spiel zu bringen.

Die Spieleentwicklung muss immer schon mit dem Spieler und dessen, in gewissen Grenzen abschätzbarer, Erfahrung kalkulieren.

Unabhängig von Aarseths ursprünglicher Intention kann nur der Satz über die gleiche Wahrscheinlichkeit aller Zustände und ohne eine Bedeutung dieser Zustände in der Wahrnehmung der Spieler und Spieleentwickler vorauszusetzen die wirkliche Begründung liefern, Computerspiele als ‚ergodisch‘ oder als ‚ergodisches System‘ zu begreifen – als physikalisches, mechanisches System überhaupt, ließe sich bedenkenlos ergänzen.

Wohin kann die Annahme von Ergodizität nun führen, und was fängt man damit gegebenenfalls in anderen Kontexten als den Naturwissenschaften an? Typisch für ergodische Systeme ist deren Unvorhersagbarkeit. Echte Zufallsprozesse und chaotische Systeme sind ergodisch. Es klingt paradox, aber gerade die Unvorhersagbarkeit chaotischer oder zufälliger Prozesse macht das System letztendlich wieder vorhersagbar – eben über die Statistik. Die Unbestimmbarkeit macht das System bestimmbar, fast schon in einer Weise, wie die Unbestimmbarkeit den Menschen, das Spiel oder das Medium bestimmt. Es ist dennoch ‚belastend‘, diese statistischen Systeme konkret mit Computerspielen zu vergleichen, unterliegen diese doch einer hochgradigen Lenkung der Aufmerksamkeit des Spielers und bestehen aus weitgehend festgelegten Sequenzen und ähnlich

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chaotischen Strukturen ohne deutlich erkennbares Gewicht des Zufalls, die bestimmte Reaktionen des Spielers antizipieren und herausfordern.410

Aarseth sagt in ‚Aporia and Epiphany‘: „Ergodic phenomena are produced by some kind of cybernetic system, i.e., a machine (or a human) that operates as an information feed back loop, which will generate a different semiotic sequence each time it is engaged.”411 Es sind aber gerade ‚information feedback loops‘, die für ergodische Systeme auszuklammern wären, es sei denn man trennt Information von Bedeutung, was durchaus der Fall sein könnte in einem Modell, das bereits „textonomy (the study of textual media)” von

„textology (the study of textual meaning)” trennen konnte412 – mit Erfolg oder nicht und für welchen Betrachtungsrahmen, für welche Zielsetzung und Perspektivierung geeignet bleibt diskutierbar.

Was wir als generelle Beobachtung von ergodischen Systemen ‚hier und dort‘ festhalten und lernen können, ist die deutliche Tendenz weg von kognitiven Entscheidungsinstanzen – weg von menschlichen Entscheidungsträgern im System. Diese Tendenz wird noch deutlicher, wenn man als Beispiel einen Mückenschwarm, also eine Ansammlung in gewissen Grenzen denkender Organismen betrachtet. Man kann diesen Haufen Mücken auf das Würfelbeispiel abbilden, sofern einen die mittlere (skalare) Geschwindigkeit der einzelnen Mücken interessiert, die weitestgehend wirr und ungeordnet innerhalb des Schwarms herumfliegen – so zumindest unser Eindruck, von Schwarmintelligenz und Ähnlichem abgesehen. Auf zwei Weisen kann man diese mittlere Geschwindigkeit messen:

Erstens, man folgt einer wahllos herausgegriffenen Mücke für einige Zeit, misst ihre Geschwindigkeit – eine observable Größe wie es heißt, also eine Eigenschaft – zu verschiedenen Zeitpunkten und bildet daraus den Mittelwert – das Zeitmittel der gewünschten Größe. Zweitens, man misst die Geschwindigkeit hinreichend vieler Mücken zu einem Zeitpunkt und mittelt über die Einzelgeschwindigkeiten – bildet das Scharmittel der gewünschten Größe. Falls die Mücken sich in ihrem statistischen Verhalten nicht unterscheiden, müssen beide Mittelungsverfahren denselben Wert ergeben.413 Die Mücken sind also statistische Größen mit Teilchencharakter in diesem Modell, das die Wirklichkeit für dessen Anliegen präpariert. Keine Mücke verlässt den Schwarm414, hat einen eigenen Willen, keine kommt hinzu, keine stirbt, keine wird gefressen. Die Mücke besitzt keine biologischen Eigenschaften. Das System ist geschlossen, isoliert, von Außeneinwirkung abgeschlossen. Im sogenannten 1-Teilchen-Modell hätte es die betreffende Mücke besonders schwer, die gleiche Wahrscheinlichkeit aller Zustände des Systems einzulösen.

Auf den Spieler übertragen impliziert dies eher den Verlust von Motivation oder das Verlieren des Spiels, Ausstieg aus dem System, Veränderung des Systemcharakters und

410 Ein Spielverständnis, das die Unordnung eines Systems betont und darin gerade die Befreiung des Menschen im Spiel erkennt, spielt innerhalb meiner eigenen Arbeit auf Ebene der ‚Unbestimmtheiten‘ eine Rolle, die das Spiel herausfordert und einfordert. Wieder und je nach Perspektivierung sind beide

Betrachtungsweisen (Ordnung und Unordnung etc.) begründbar und gleichberechtigt. Vgl. erneut:

Bredekamp: „Die Kunstkammer als Ort spielerischen Austauschs“, in meiner Arbeit bereits erwähnt in Kapitel V, S. 126.

411 Aarseth: „Aporia and Epiphany“, S. 32.

412 Aarseth: Cybertext, S. 15.

413 Vgl. URL:

http://www.tf.uni-kiel.de/matwis/amat/mw1_ge/kap_6/advanced/t6_3_1.html#Ergodenhypothese (19.01.2012).

414 Diese Prozesse – lediglich als Hinweis in den Fußnoten – sind durch das Konzept der Fluktuation oder statistischen Schwankungen oder Ähnlichem offenbar grundlegend mitgedacht. Dies müsste weiter ausgearbeitet oder verfolgt werden, für die aber zugegebenermaßen durchaus rhetorischen Zwecke hier soll dies nicht weiter verfolgt werden.

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Verlust der Ergodizität – in Bezug zur äquivalenten Formulierung der Ergodenhypothese gesetzt: Man fasse das System von Spiel und Spieler folgendermaßen, indem 1000 Spieler ein und dasselbe Spiel spielen, und man mittle über deren Erfahrung, deren Puls, Hautleitwert, Schweißfluss oder Ähnlichem, was wir als observable Größe festlegen können. Dann lassen wir ein und denselben Spieler jenes Spiel 1000 mal spielen. Die Motivation des Spielers wird sinken oder er wird lernen oder er wird Zustände des Spiels entdecken, die niemand eingeplant hatte.415 Aarseth selbst erklärt in ‚Playing research‘: „Like ergodic works in general, there are variations in the realization of the games which means that a collective pool of experience will always bring new aspects forward.”416 Ergodische Systeme sind kein Ort dieser Arten unvorhersehbarer Emergenz.

Doch ergibt sich überhaupt ein Weg, menschliche Erfahrungsdimension in das Konzept der ‚ergodic works‘ auf dieser angesprochenen Ebene zu integrieren? Die Antwort muss wohl ‚nein‘ lauten, denn in der Radikalisierung des Modells werden die Grenzen des Cybertext-Modells für eine anthropologische Perspektivierung deutlich – auch wenn dieses Resultat einem Spiel mit den Annahmen des Modells entspringt. Die Fragen nach der Erfahrungsdimension von Spielern, die Aarseth in ‚Playing Research‘ selbst gestellt hat, sind mit den früheren Annahmen des Cybertext-Modells oder eben des Modells der

‚ergodischen Literatur‘ nicht vereinbar.417 Über Spiele als ‚ergodisches System‘ nachzuden-ken und gleichzeitig die Dimension der User- beziehungsweise Spielererfahrung wahrzunehmen, erscheint unmöglich – wenn man den Begriff in dessen Bedeutung aufgreift.