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IV. Methoden – Instrumente und Spielzeug

1. Heuristischer Möglichkeitsraum

Wenden wir uns dem gerade geschilderten Problem zu, bei dem es hieß, es sei oftmals aufgrund bestehender Medienübergriffe nicht immer einfach, das Spiel im Spiel noch sicher zu bestimmen oder grundsätzlich auszumachen.

Um zu zeigen, dass es sich auch bei modernen Computerspielen nach wie vor um Spiele im weitgehend traditionellen Sinne handle – auch in der Traditionslinie der elektronischen Spiele allein – könnte man strategisch all jenes subtrahieren, was den Blick auf das ‚reine‘

Spiel verdeckt. Legt man auf diese Weise eine bestimmte Spielmechanik frei, trägt man einer archäologischen Arbeit ähnlich Schicht für Schicht die modernen Überbauungen und

‚crossmedialen‘ Verbundformen in aktuellen Spielen ab, so erkennt man ohne große Anstrengung die Verwandtschaft eines Rhythmusspiels wie ‚Guitar Hero‘ (Harmonix Music Systems, Inc. 2005, Abbildung 20) mit dem gut zwanzig Jahre älteren ‚Tetris‘ (Atari 1988, Abbildung 19). Wir betrachten die entsprechenden Spielsituationen:

Spielsituation 3 ‚Tetris‘ (Atari 1988)

In ‚Tetris‘ (Abbildung 19) steuert und dreht der Spieler von oben herunterfallende geometrische Formen (Steine) mithilfe eines Steuerhebels (Joystick) und zwei Aktionsknöpfen. Ziel ist es, verschiedene dieser Stein-Formen in ein möglichst lückenloses Gefüge am Boden einzupassen.

Es existieren vier Grundformen, die alle in Abbildung 19 zu sehen sind; zwei dieser Bausteine verdoppeln ihre Form durch Achsenspiegelungen. Komplett lückenlose Reihen verschwinden nach ihrer Komplettierung. Wer dieses Schema möglichst lange aufrecht erhält und zudem mehr Reihen gleichzeitig zum Verschwinden bringt, dessen Punktzahl erhöht sich immer weiter. Der nächste Stein wird jeweils angekündigt, in Abbildung 19 oben links zu erkennen.

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Abbildung 19: ‚Tetris‘ (Atari 1988)

Abbildung 20: ‚Guitar Hero‘ (Harmonix Music Systems, Inc. 2005), hier: ‚Guitar Hero II‘ (Harmonix Music Systems, Inc. 2007) in der Xbox360-Version

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Spielsituation 4

‚Guitar Hero‘ (Harmonix Music Systems, Inc. 2005)

In ‚Guitar Hero‘ (Abbildung 20) bedient der Spieler einen Controller in Form einer Gitarre, auf der er verschiedenfarbige Tasten am Hals niederhalten muss und entsprechend der Position bestimmter Töne und Akkorde – bunt markiert auf der Partitur eines laufenden Bands am Bildschirm – zur exakt richtigen Zeit ‚schlagen‘ muss. Dies geschieht durch eine Taste, die die Saiten repräsentiert und mit der anderen Hand bedient wird. Der Spieler sieht maximal die sechs nächsten Schläge der Saiten als Ereignisse auf sich zulaufen und kann dementsprechend vorausplanen, sofern er genügend Zeit für eine derartige strategische Vorausplanung verspürt.

In beiden Spielen wird ein Spieler mit visuell klar repräsentierten, punktuellen Ereignissen konfrontiert, auf die er in schnellen Reaktionsfolgen mit einem Eingabegerät reagieren muss. Die Vorschau auf die nächsten Ereignisse wird in beiden Fällen ähnlich umgesetzt – im einen Fall kontinuierlich am buchstäblichen laufenden Band, im anderen diskret nach separierten Einzelereignissen. In ihrer Reduktion auf die zugrundeliegenden Reaktionsme-chanismen gleichen sich beide (Bei-)Spiele.

Auch in anderen Spielen mag man noch relativ leicht über vergleichbare, weitreichend basale, qualitative Muster konzeptionelle und historische Kontinuität herstellen, zum Beispiel durchaus verwandte Spielmechaniken ursprünglicher Arcade-Automaten wie

‚Asteroids‘ (Atari 1979) oder ‚Battle Zone‘ (Atari 1980) im Spielmodus ‚Onslaught‘ von ‚Unreal Tournament 2004‘ (Digital Extremes London/Epic Games, Inc. 2004) wiederentdecken und so weiter und so fort. Weitere Beispiele für diese Art der Spurensuche ließen sich hier noch in beliebiger Zahl anschließen.

Die Frage ist im Fall von (klassischen) Adventure-Spielen pointierter: Was bliebe in diesem traditionellen Genre einer Analyse als Gegenstand, wenn die häufig eher als spielfremd gewerteten narrativen Anteile und Sequenzen (wie ‚cut-scenes‘ oder ‚ingame dialogue‘) von klassischen Spielen wie ‚The Dig‘ (LucasArts Entertainment Company LLC 1995) oder eines

‚interactive movie adventure‘ wie dem bereits beschriebenen ‚Gabriel Knight II – The Beast Within‘

(Sierra Studios 1996, Spielsituation 1) abgezogen würden. Was bleibt, wäre für die Analyse eines Spiels als Spiel gegebenenfalls wenig wert, mitunter aber wertvoll für eine Analyse, die sich auf die Ebene der Narration in Spielen einstellt. Auch dies gehört ‚zum Spiel‘, auch wenn dies mitunter schon vehement bestritten wurde. Die Medienrealität konfrontiert uns in Spielen auch mit Dingen, die nicht primär zum Spiel gehören mögen. Doch wer entscheidet letztendlich was zum Spiel gehört und was nicht? Es geht also immer auch um normative Festlegungen und die Hoheitsrechte bestimmter Gruppen, die sich hierbei eine Stimme verschaffen.

Einen Gegenstand hinsichtlich bestimmter Eigenschaften und Aspekte zu präparieren ist legitime methodologische Praxis, sofern sich der Handelnde dabei bewusst ist, dass er nicht nur den Blick auf einen Gegenstand für bestimmte Zwecke der Erkenntnis manipuliert, sondern gegebenenfalls den Gegenstand selbst verändert. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn sich der Gegenstand wie im Falle des Spiels oder ‚der Medien‘ klaren Definitionen entzieht und damit beachtlichen Spielraum zur Manipulation innerhalb weitgefasster Grenzen bereitstellt. Diese Einsicht ist kein Standard, und diese Einsicht gilt auf sensible Weise nicht in den game studies, die sich in der Vergangenheit nur vordergründig über Zuständigkeiten bestimmter disziplinärer Zugänge stritten. Hinter diesem Streit um vermeintliche Hoheitsrechte, übermäßig veranschaulicht in der Auseinandersetzung der

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ausgewiesenen Spielforschung ‚Ludology‘ und der traditionsorientierten ‚Narratologie‘154, verbirgt sich eben jenes gravierende Missverständnis über Methoden, das sinnvollerweise in ersten Annäherungen an eine dem Problemhorizont angemessene Methode zunächst bewältigt werden müsste. Zuerst muss dieser Horizont überhaupt ins Blickfeld rücken.

Markieren und illustrieren lassen sich die gängigen Missverständnisse über Methoden mithilfe eines gut dokumentierten Falls aus der noch jungen Geschichte der game studies:

Markku Eskelinens 2001 getroffene, zur notorischen Aussage verkommene Behauptung, Erzählungen (stories) seien lediglich „uninteresting ornaments or gift-wrappings to games“155, entstand aus der Betrachtung der so genannten ‚gaming situation‘ heraus, und damit aller Berechtigung einer Methode zufolge, die den Gegenstand hinsichtlich bestimmter Aspekte und Erkenntnisinteressen weitgehend direkt und unmittelbar am Spiel präparieren will. In diesem Fall war das Vorhaben ausdrücklich Richtung ‚reinem Spiel‘

orientiert, wenn auch nicht immer unmissverständlich, und ganz gleich, ob es so etwas

‚real‘ geben kann. Die Realität stand nicht unbedingt zur Debatte. Die Frage nach dem

‚reinen Spiel‘ orientiert sich an der versuchten Definition des Gegenstands unter bestimmten Eigenschaften und Aspekten und bleibt genau in dieser Ausrichtung legitim.

Eskelinen markierte seine reflektierte Einschränkung zur Absicherung zusätzlich, indem er explizit auf die Gültigkeit in diesem einen Szenario verweist; in seiner Schlussfolgerung heißt es dort dementsprechend deutlich:

In this scenario stories are just uninteresting ornaments or gift-wrappings to games, and laying any emphasis on studying these kinds of marketing tools is just a waste of time and energy. It's no wonder gaming mechanisms are suffering from slow or even lethargic states of development, as they are constantly and intentionally confused with narrative or dramatic or cinematic mecha-nisms. [Herv. FF]156

Die Ludology spricht hier keineswegs ein Quasiverbot für die Auseinandersetzung mit Spielen hinsichtlich ihrer erzählerischen Qualitäten aus. Im vorliegenden Beispiel würde dies die Tatsache ignorieren, dass Eskelinen (und dies zudem in aller Deutlichkeit) die eigenen Präferenzen im Auge hat und in diesen schlichtweg nicht an Auseinandersetzungen mit Spielen hinsichtlich ihrer erzählerischen Qualitäten interessiert ist. Er kommuniziert über dieses persönliche Desinteresse hinaus indirekt, wie sehr die Ludology als bereits deutlich im Namen ausgewiesene ‚Spielforschung‘ an jeglicher Art von Spiel-Narrationsforschung oder Ähnlichem nicht interessiert ist. Dieses selbstbewusste und in weiten Abschnitten auch plausibel begründete Auftreten zielte mitten in das Herz der auf Einheit ausgerichteten Identitätsstiftungsprozesse innerhalb der jungen game studies. Man hielt diese bisweilen ganz besonders einem geschlossenen Auftreten verpflichtet, schon im Interesse des gemeinsamen Bemühens, den in akademischen Kreisen oft nicht besonders ernst genommenen Gegenstand aufzuwerten. Dass spätestens am Spiel eine ‚neue‘ Art der Wissenschaft zu fordern wäre, die sich in den eigenen Problemen und Aufgaben nicht täuscht, sondern sie mittels geeigneter Methoden bewältigt, wäre, wenn überhaupt im Ansatz vorhanden, am ehesten der Ludology zu verdanken und keinem anderen Zugang

154 Vgl. Fußnote 87.

155 Markku Eskelinen: „The Gaming Situation“, in: Game Studies, Volume 1, Issue 1, July 2001, URL:

http://ww.gamestudies.org/0101/eskelinen (19.01.2012).

156 Ebd.

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innerhalb der game studies, die oft fälschlicherweise als insgesamt synonym zur Ludology verstanden werden.

Der Wettstreit um den ‚richtigen‘, korrekten Blick auf das Spiel bleibt hinderlich. Dabei wäre es für die jeweils anderen konfliktlos möglich, sich in der eigenen Forschung um eben jene Reste zu kümmern, die die einen aus ihrem Zuständigkeitsbereich verbannt hatten – im Falle der Ludology auf der Suche nach dem, was Jesper Juul in einem (etwas schräg) abgewandelten Literaturtitelzitat als „heart of gameness“ bezeichnet hat.157 Sich auf die Resteverwertung anderer zu besinnen, schadet aber leicht dem Selbstansehen und kann zudem kaum Zielorientierung einer Theorie sein, die auf allgemeingültige Aussagen baut.

Doch eine so verfasste Theorie kann nach wie vor kein primäres Ziel sein, folgt man meiner bisherigen Argumentation. Auch als sekundäres Ziel erscheint dies fragwürdig. Dies lässt sich auf eine beinahe schon empirisch begründete Wahrscheinlichkeitsrechnung stützen: Das ‚curriculum framework‘ der International Game Developers Association (IGDA) listete bereits 2004 neun ‚core topics‘, wie Aarseth beispielsweise erwähnt.158 Darunter befinden sich Game Criticism, Analysis & History, Games & Society, Game Systems & Game Design, Technical Skills, Programming & Algorithms, Visual Design, Audio Design, Interactive Storytelling, Writing & Scripting, Business of Gaming and People & Process Management. Diese Kerngebiete münden in ein Delta von rund 200 Subdisziplinen, die wie Aarseth vermutet, leicht durch 100 weitere ergänzt werden könnten, die sich nicht einer ‚praktischen‘

Perspektive zuordnen lassen, also beispielsweise rein (spiel)theoretische und kulturwissen-schaftliche Relevanz besitzen.

Das akademische Feld der Spielforschung ist ganz besonders von dieser Vielseitigkeit des Gegenstands und damit der möglichen Zugänge betroffen und je nach Betrachtungsweise belastet oder gesegnet. Es leidet weiterhin unter fehlender Akzeptanz von Spezialisierungen genauso wie unter den Anstrengungen, eine Metadisziplin zu synthetisieren, gewissermaßen einen homogenen Körper zu schaffen, dessen Organe als System funktionieren. Ein Schöpfungsakt tritt gegen evolutionäre Entwicklungen an. Das Bemühen und die herrschenden Motivationen für den Aufbau eines solchen Gebildes erstaunt dabei immer wieder angesichts der augenscheinlichen hybridmedialen Voraussetzungen des Gegen-stands, die auch in verschwommenen Genretypologien und Ähnlichem gut dokumentiert sind. Die begrifflichen Anleihen aus der Biologie – Hybrid aus der Genetik, Evolution aus der Evolutionsbiologie eben – wachsen über ihren Geltungsbereich als reine Metaphern im wahrsten Sinne des Wortes hinaus: Durch die vielen Möglichkeiten der Zugänge zum Computerspiel ist es eher unwahrscheinlich, dass eine funktions- und lebensfähige Theorie aus einem einzelnen Schöpfungsakt entstehen kann. Die Vielfalt der Zugänge, deren mögliche Durchmischung und gegenseitige Befruchtung macht eine Theoriewelt wahrscheinlicher, deren Identität am Ende eines längeren Prozesses steht, geprägt durch Variation und Selektion.

Die ‚Mechanik‘, die hinter einer Identitätsbildung stehen könnte, entdecken wir auch im produktiven Ansatz der Intermedialität, wenn wir den Blick auf Theoriekonzepte der Medienwissenschaft werfen, die hier bereits in ihren Ansätzen behandelt wurden:

Intermedialität steht gegen Multimedialität insofern, als dass sie eben kein akkumulierendes

157 Jesper Juul: „The Game, the Player, the World: Looking for a Heart of Gameness“, in: Marinka Copier/Joost Raessens (Hrsg.): Level Up, S. 30-45.

158 Aarseth: „Playing Research“, S. 1f; nachprüfbar auch im ‚curriculum framework‘ der IGDA selbst, unter URL: http://www.igda.org/sites/default/files/IGDA_Curriculum_Framework_Feb03.pdf (19.01.2012) in der Version von 2003.

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Prinzip umfasst, sondern in einem verbindenden Prozess Neues erzeugt und hervorbringt.159 Weniger im Begriffsspektrum der Biologie als nun vielmehr der Physik (genauer gesagt der Wellenmechanik, Abbildung 21) geht es demnach um die konstruktiven Interferenzen, die in den Wechselwirkungen der Überlagerung entstehen. Dies gilt mitunter auch für Medientheorien und andere Theorien und deren Vermittlung untereinander: halluzinierte, kumulative Mediendefinition aus nicht aufaddierbaren Perspektiven heraus entwickelt, wie Winkler gefordert und festgestellt hatte.

Abbildung 21: Wellenüberlagerung am Doppelspalt – konstruktive Interferenzen gibt es nur in bestimmten Richtungen und Winkeln – ‚Perspektiven‘ im übertragenen Sinne.

Die Heterogenität des jeweiligen Feldes war bislang weder in den game studies noch in den Medienwissenschaften eine frohe Feier von Diversität und Reichtum des Gegenstands

‚Spiel‘ und/oder Medium. Die Ursachen scheinen in analogen Eigenschaften der jeweiligen Gegenstände begründet zu sein. Auch die Zugänge zum Gegenstand lassen sich parallel lesen: Der Unterschied zwischen multidisziplinär und interdisziplinär erscheint wie die Analogie zu den medialen Formen und Eigenschaften der Spiele zwischen multimedial (nebeneinander) und intermedial (eher konzeptionell verzahnt und interdependent). Folgen wir hier der Einschätzung, Intermedialität könne als Prozess über den Prozessen oder Vermittlung über die Vermittlung einzelner Medien gelten, so bedeutet dies auf Disziplinarität übertragen, dass ein interdisziplinäres Feld ebenfalls eine Vermittlung anzustrengen hat.

Vom Modellverständnis ausgehend hätte man zu fragen, ob Multidisziplinarität eine notwendige Vorstufe von Interdisziplinarität wäre, die sozusagen den nächsten Grad einer Selbstreflexion erreicht, sobald sie eben vermittelt und damit eventuell, aber nicht unbedingt planbar Neues erzeugt. In dieser Auffassung wäre das Verhältnis von ‚multi‘ und ‚inter‘

Ausdruck einer Entwicklung, die eben im obigen Sinne als ‚evolutionär‘ zu verstehen wäre und nicht als Zustandsveränderung in einem einzelnen Akt als ‚revolutionär‘.

Derartige übergeordnete Fragen beschäftigen die game studies noch eher selten und dieser Mangel an Selbstreflexion hemmt den eigenen Identitätsbildungsprozess. Der tiefer

159 Vgl. Kapitel I.4.

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liegende Grund der herrschenden Streitverhältnisse über die Hoheitsrechte werden wenn überhaupt nur oberflächlich als Ausdruck konstitutiver disziplinärer Probleme gewertet.

Die tiefer liegende Verbindung dieser Situation mit der Verfasstheit des Gegenstands ist kein ausgesprochenes Thema.

Kehren wir den Blick von dem, was eventuell sein könnte, zunächst wieder auf die Fakten des bereits Geschehenen und landen erneut bei Espen Aarseth, der 2001 als Jahr Eins der Computer Game Studies markierte und meinte: „Today we have the possibility to build a new field. We have a billion dollar industry with almost no basic research, we have the most fascinating cultural material to appear in a very long time, and we have the chance of uniting aesthetic, cultural and technical design aspects in a single discipline.”160 Ob sein Hinweis, es fehle in der ‚billion dollar industry‘ die Grundlagenforschung, die Situation richtig erfasst sollte zumindest kritisch hinterfragt werden. Begründen kann Aarseth dies nur in der voraussetzungsfrei gedachten Utopie, eine eigene wissenschaftliche Welt für das Spiel zu erschaffen, eine neue Disziplin zu begründen. Die eigentliche Realität in der Forschungswelt stellt sich letztendlich als das Gegenteil dar: Es gibt zu viel der guten Grundlagenforschung, die durch den enormen Assoziationsraum legitimiert wird, den der Gegenstand durch die vielseitige Inkorporation ‚anderer‘ medialer Ausdrucksformen eröffnet. Damit landen wir wieder beim Grundproblem auch einer Medienwissenschaft, deren definitorischer Notsituation bei der Gegenstandsbestimmung – erneut angeführt:

Die Wurzel des Problems liegt entweder am Mangel verlässlicher, allgemein gültiger Definitionen oder an der schieren Menge möglicher Definitionen. Direkt übertragen auf die Frage an dieser Stelle: Die Wurzel des Problems liegt entweder am Mangel verlässlicher, allgemein gültiger Grundlagenforschung oder an der schieren Menge möglicher, vorhandener Grundlagenforschung. Das Schema scheint intakt.

In der gegenwärtigen Forschungspraxis reduziert sich vieles auf die Frage, ob und inwiefern die Forscher bereit sind, jene traditionellen Modelle hinter sich zu lassen, die sich von vornherein zur Beschreibung zumindest bestimmter Aspekte der Computerspiele anbieten. Dies würde bedeuten, an entsprechend neuen Modellen zu arbeiten beziehungs-weise gegebenenfalls aktiv gegen die bestehenden anzuarbeiten. „Nachhaltigere theoretische Erneuerungen sind also auf einen Austausch der applizierten Theoriemodelle und damit auf entsprechend neue Theoriemodelle angewiesen“, so der Medienwissen-schaftler Rainer Leschke zum Konzept genereller Medientheoriemodelle.161 Austausch bedeutet aber sinnvollerweise nicht Verwerfung – wie es manchmal auch in den game studies angenommen wird –, sondern Relativierung unter dem Einfluss neuer Voraussetzungen.

Relativierung applizierter Modelle bedeutet dann die Qualität eines neuen Mediums zumindest soweit ernst zu nehmen, dass man selbst scheinbar bekannte mediale Formen, die automatisch mit den neuen Medien auftreten, in entsprechend neuen (Funktions-) Zusammenhängen diskutieren kann.

Die Ludology hatte die Frage für sich verneint, ob es sich zunächst lohnen könnte, bestehende Modelle zu applizieren oder zu adaptieren. Ein legitimer Anspruch, der die nominierten Erfinder der game studies jedoch aus einer anderen Richtung schneller einholen könnte als gedacht, sofern ‚alte‘ Theorie zwar nicht primär dem neuen Gegenstand angepasst wird, jedoch der neue Gegenstand einer alten Theorie – oder der Idee, was die alte Theorie am neuen Gegenstand der elektronischen Spiele bedeuten könnte: Auch die

160 Aarseth: „Computer Game Studies, Year One”.

161 Leschke, Einführung in die Medientheorie, S. 322.

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game studies besitzen eine eigene Tradition, die zunächst noch wiederzuentdecken wäre, an einem bestimmten Punkt dann aber gegebenenfalls zu einem vergleichbaren Hindernis in der Theoriebildung werden könnte, wie dies im Falle der bestehenden Theorien der Literatur- und Filmtheorie global und in Einzelfälle hinein diagnostiziert wurde.162 Es ist auch nicht von sich heraus plausibel, warum Theorien der jüngeren Zeit, wie die aus der Hypertexttheorie entstandene Cybertext-Theorie Aarseths, unbedingt geeigneter sein sollten, die Ansprüche der Ludology gut zu erfüllen. Die Anwendung dieser (ebenfalls in der Literaturwissenschaft entstandenen) Theorie auf Computerspiele – unter anderem durch Aarseth selbst – lenkte zwar den Fokus auf die richtigen Fragen, der Eindruck, hier werde eine Reanimation ‚alter‘ Theorie am neuen Gegenstand vollzogen, ergab sich streckenweise dennoch. Im Resultat verkam der Begriff ‚ergodic literature‘ in der Übertragung auf ‚ergodic art‘ zur Selbstgewissheit und büßte durch einen Mangel an Differenzierung seine primär deskriptiv gedachte Funktion ein.163

Das problembelastete Verhältnis von Gegenstand und Theorie wurde bereits bei den

‚Voraussetzungen medienwissenschaftlicher Projekte‘ einleitend besprochen, vor allem im Zusammenhang mit Isers Beobachtungen zur Literaturtheorie, die ihn dazu veranlasst hatten, eine ‚anthropologische Wende‘ in diesem Bereich zu formulieren: „Instead of providing a matrix for modelbuilding, it has to explore the sign-function of the medium, thus turning the text into a reflection of the needs in question“, hieß es.164 Aarseth setzt für die, in dieser Weise benannte ‚matrix for modelbuilding‘ seinerseits ein Schema ein, nach dem ausdrücklich nicht zu handeln wäre: „the theoretical perspective of <fill in your favorite theory/theoritician here> is clearly really a prediction/description of <fill in your favorite digital medium here>.“165 Die Kritik lässt sich prinzipiell noch leicht an Isers anschließen, Aarseths Konsequenz ist jedoch in Verlängerung der Beobachtung keine anthropologische Orientierung im Modell wie im Falle Isers, auch wenn er diesen Anspruch mitunter erhebt.166

Jede Betrachtungsweise und korrespondierende Heuristik präpariert den Gegenstand für die eigenen Belange, Perspektiven und Betrachtungen. Die Befreiung von traditionsreicher Theorielast – Eskelinen meinte, es sei relativ stressfrei über Spiele zu schreiben – ist bisweilen auch eine Frage ökonomisch orientierter Aufwandseinschätzung, da es mühsam erscheinen mag, gegebene Modelle zu applizieren. Wenn die Resultate im Anschluss von vornherein nicht aussichtsreich erscheinen, dann ist eine Kosten-Nutzen-Rechnung anzufertigen. Für generelle Theoriemodelle tragen alle Ansätze ein Risiko, da sie Gefahr laufen, in der Reduktion des Gegenstands bei einer Perspektivierung auf bestimmte Aspekte hin entscheidende Qualitäten – neue und alte gleichermaßen – zu übersehen oder eben im ‚blinden Fleck‘ der Theorien nicht zu erkennen. Kein Theoriemodell wird in ersten Schritten jemals wirklich signifikante Ergebnisse für Computerspiele insgesamt liefern

162 Auf Einzelfälle möchte ich hier abermals nicht eingehen. Wie bereits in den ersten Kapiteln dieser Arbeit gesagt, konzentriert sich diese Arbeit nicht auf umfassende Diskursanalysen, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit einer Theoriebildung in den game studies geht, deren Nutzwert insbesondere im Kontext meiner eigenen Arbeit unklar ist. Der Blick ist tendenziell immer vorwärtsgewandt. Die Hoffnung bleibt dennoch, dass sich en passant die jeweiligen Positionen für einen Eindruck des Lesers konturieren.

162 Auf Einzelfälle möchte ich hier abermals nicht eingehen. Wie bereits in den ersten Kapiteln dieser Arbeit gesagt, konzentriert sich diese Arbeit nicht auf umfassende Diskursanalysen, wenn es um die Aufarbeitung der Vergangenheit einer Theoriebildung in den game studies geht, deren Nutzwert insbesondere im Kontext meiner eigenen Arbeit unklar ist. Der Blick ist tendenziell immer vorwärtsgewandt. Die Hoffnung bleibt dennoch, dass sich en passant die jeweiligen Positionen für einen Eindruck des Lesers konturieren.