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II. Methoden – Prolegomena

2. Selbstfindung auf Produzentenseite

Durch den Blick auf die Selbstfindung im ‚Medium‘ vorbereitet, geht nun der Blick in Richtung Unterhaltungsindustrie, die Spielhallen, heimische Konsolen und Computer seit einigen Jahrzehnten mit Computer- und Videospielen versorgt. Damit fällt der Blick auf einen, in doch zahlreichen produktzentrierten Betrachtungen vernachlässigten Bereich unserer ‚Medienrealität‘: die Produktionsseite und deren Selbstverständnis.

Die Möglichkeiten von Computerspielen sind nicht nur für ihre Spieler überwältigend, für die Forschung ein kaum zu vereinheitlichendes Phänomen, sondern besonders auch eine Herausforderung für die Hersteller, die ihre Produkte mittlerweile aus einer endlos wirkenden Menge an technischen Möglichkeiten und Repertoires schöpfen können, die der konzeptionellen Gestaltung zunehmend weniger Einschränkungen auferlegen. Diese

120 Ebd., S. 8.

121 Ebd., S. 9.

122 Einige Probleme entstehen auch aus der Beobachtung selbst heraus, aus der McLuhan hier die These entwickelt: elektrisches Licht als Medium ohne Botschaft, in gewisser Weise ohne Inhalt, als reine Information.

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Entwicklung hat natürlich eine Geschichte, bei deren Betrachtung es erneut entscheidend sein wird, nicht ‚Geschichten des Computerspiels‘ in groben Generalisierungen nachzuerzählen, sondern einen historischen Pfad anhand bestimmter Perspektivierungen nachzuzeichnen, beispielsweise entlang eines bestimmten Begriffs, wie im Folgenden dem der ‚Imagination‘.123 Dieser besetzt in (medien-)historischer Betrachtung eine Scharnierstel-le zwischen den ‚alten‘ und den ‚neuen‘ Medien: Als eine Art verinnerlichte Interaktion verweist Imagination auf eine vorgängige Form der Medienpartizipation, die natürlich auch dann noch eine Rolle spielte, als Möglichkeiten technischer Interaktion und Partizipation längst erschlossen waren. In der Mediengeschichte und der Geschichte des menschlichen Spiels spielt der Begriff ‚Imagination‘ zumeist dann eine Rolle, wenn das technische Medium etwas nicht leisten kann, das zum Gelingen der Kommunikation zwischen Medium/Spiel und Nutzer jedoch notwendig ist. Durch die Imagination kommt auch in nüchternen Betrachtungen nicht selten eine mysteriöse Größe ins Spiel, die die häufig nicht weniger mysteriöse anthropologische Komponente in Modellen auffängt.

Ich spanne für meine Betrachtungen einen Bogen von der Anfangszeit (Früher a) der Computerspiele hin zu einem jüngeren Stand der Entwicklungen (Heute b); konkret beginne ich an jenem Punkt in den 1980er Jahren, als die grafische Leistungsfähigkeit der Rechner auch den Einzug von Spielen in den Privatbereich und die heimischen Geräte erlaubte, die man bis dahin nur aus den Arcades oder Spielhallen kannte. Der Einblick endet mit einer detaillierteren Schilderung von Entwicklungen im Bereich der Spielkonsolen, die anhand der prägnanten Markteinführung von Nintendos Spielkonsolen Wii und DS im Jahr 2006 spürbar wurden.124

a) Früher

Den Anfang markiert eine Kampagne, eigentlich eine Werbekampagne, mit der ein Hersteller sogenannter Textadventures, auch ‚interactive fiction‘ genannt, sich gegen die buntere Konkurrenz explizit zu behaupten versuchte. Die Firma Infocom unternahm diese Kampagne gemeinsam mit ihrer damaligen Werbeagentur Giardini Russel125 in den 1980er Jahren, und versuchte in ihren Anzeigen die Vorzüge der eigenen Produkte gegen Computerspiele zu etablieren, die mit damals simpler Grafik jenes Marktsegment begründeten, das heute sichtbar dominiert. Begründet wurde es in den Arcades mit Spielen

123 Der Umgang mit Begriffen unter verschiedenen Zugriffsoptionen wird im Verlauf meiner Arbeit noch mehrfach als Thema hervortreten. So wird es beispielsweise um zwei zentrale Begriffskritiken gehen. Die eine findet in Kapitel VI.3 zur ‚Immersion‘ im Zusammenhang zum erneut aufgegriffenen Grundproblem der Definitionsmöglichkeiten und Definitionsunmöglichkeiten des Spiel- und Medienbegriffs statt; in Kapitel VII geht es um den Begriff ‚ergodisch‘ in unterschiedlichen Kontexten, die zusammen betrachtet den letzten Teil der Arbeit einleiten.

124 In den folgenden Abschnitten werden zwei mediengeschichtliche Beobachtungen zusammengeführt und als konzeptionelle Entwicklung betrachtet, die jeweils für sich in einem etwas anderen Zusammenhang bereits in meinen veröffentlichten Sammelbandbeiträgen „Im Spiel unbegrenzter Möglichkeiten. Zu den

Ambiguitäten der Videospielforschung und -industrie“, in: Jan Distelmeyer/Christine Hanke/Dieter Mersch (Hrsg.): Game over?! Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld 2008 und „Wo die Sonne nicht scheint. Ein Licht auf den Ort der Bilder zwischen Hard- und Software“, in: Inge Hinterwaldner/Carsten Juwig/Tanja Klemm/Roland Meyer (Hrsg.): Topologien der Bilder, München 2008 zur Diskussion gestellt wurden.

125 Ich danke Steve Meretzky für den Hinweis auf den Urheber. Infocom übertrug vor allem in den ersten Jahren der 1980er Aufgaben im Bereich Marketing, Packungsdesign, Handbücher an die Agentur Giardini Russel, die dadurch einen nachweislichen Beitrag zu Infocoms Produktinhalten leisteten.

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wie Pong, die eine interaktive Grafik propagierten. Die Körper ihrer graphisch ausformulier-ten Protagonisausformulier-ten setzen sich aus Bildpunkausformulier-ten zusammen, die beinahe schon an die Größe unserer heutigen Displays heranreichten (Abbildung 12).

Abbildung 12: ‚Der vitruvsche Pixelmensch‘ – eigene Nachempfindung des Protagonisten von

‚Digger‘ (Sega 1980)

Was zunächst wie gewöhnliches ‚competitive advertising‘ anmutet, entfaltete unter dem Deckmantel eines Verkaufsgesprächs einen signifikanten Diskurs von bemerkenswerter Aktualität. Es handelt sich nicht um einen direkten Theoriebeitrag, die Kampagne besitzt in ihrer frühen Selbstreflexion jedoch einen bemerkenswerten Aussagewert für die Theoriegeschichte der Computerspiele.

Infocoms Kampagne findet ihren Platz in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Nachdem 1977 der Apple II die Idee der Homecomputer populär gemacht hatte und Atari mit dem Video Computer System (VCS) einen Nachfolger der Pong-Telespiele mit austauschbaren Modulen für eine Vielzahl von Spielen präsentierte126, erfährt die Konsolenindustrie in der westlichen Welt 1984 erstmalig (und aus verschiedenen Gründen) eine explizite Krisensituation. Kurz zuvor erscheint Nintendo Famicom 1983 in Japan und 1985 als Nintendo Entertainment System

126 Im Fall des Atari VCS rund 500 Spiele über einen für diese Branche heute unfassbaren Zeitraum von 13 Jahren, in der Atari 30 Millionen Geräte verkaufte.

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(NES) auf dem westlichen Markt und leitet die zweite Phase des Erfolgs der auf Modulen als Speichermedien basierenden Spielkonsolen ein. Parallel hierzu entwickelt das Homecomputer-Segment die sogenannte 8-Bit-Ära, mit dem Commodore 64 als treibende Kraft. Dieser Rechner wird rund 20 Millionen Mal verkauft und für ihn werden bis 1994 circa 2000 kommerzielle Spiele entwickelt. Die Verbreitung der Homecomputer erklärt sich auch durch die Verwendung neuer Speichertechnologien: Die Floppy-Disk fördert die Verbreitung der Software und damit den Absatz der Hardware gerade durch Piraterie, im Gegensatz zu den Modulen, die bis heute nur sehr bedingt kopierbar sind. Bevor 1985 die 16-Bit-Ära mit den Homecomputern Commodore Amiga und Atari ST wieder neue Impulse liefert, erscheint 1984 der entscheidende 16-Bit Personal Computer PC/AT (Advanced Technology) des größten Computer-Herstellers IBM, nach der Präsentation eines ersten PCs 1981 und des mit einer Festplatte ausgelieferten PC/XT (eXtended Technology) 1983. Die Entwicklungslinien der Spiele können zu dieser Zeit noch recht gut anhand ihrer Hardware differenziert werden.

Infocom verzichtete in über 30 ihrer bis in die späten achtziger Jahre produzierten Textadventures oder interactive fiction weitgehend konsequent auf den Einsatz von Grafik und setzte auf Verfahren rein textueller Repräsentation in der Kommunikation mit dem Spieler.127 Der Anfang von ‚The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy‘ (Infocom 1984) verdeutlicht einen typischen Ablauf eines dieser Spiele:

Spielsituation 2

‚Hitchhiker’s Guide to the Galaxy‘ (Infocom 1984)

Folgender Textauszug ist die Darstellung des tatsächlichen Spiels. Befehle des Spielers erkennt man an den Nutzereingaben per Tastatur, markiert durch ein ‚>‘.

THE HITCHHIKER'S GUIDE TO THE GALAXY Infocom interactive fiction - a science fiction story Copyright (c) 1984 by Infocom, Inc. All rights reserved.

Release 31 / Serial number 871119 / Interpreter 4 Version F

You wake up. The room is spinning very gently round your head. Or at least it would be if you could see it which you can't.

It is pitch black.

>turn on light

Good start to the day. Pity it’s going to be the worst one of your life. The light is now on.

127 Spätere Titel wie ‚Shogun - A Story of Japan‘ (Infocom 1988), ‚Arthur - The Quest for Excalibur‘ (Infocom 1989) oder ‚Journey: The Quest Begins‘ (Infocom 1989) beinhalteten illustrative Graphiken und sogar graphische Benutzeroberflächen. Infocom produzierte 1988 mit ‚Infocomics‘ auch eine Reihe von vier interaktiven Comics.

Magnetic Scrolls entwickelte hingegen schon ab 1985 interactive fiction in dieser Richtung – zwischen ‚The Pawn‘

(Magnetic Scrolls/Firebird/Rainbird 1986) und ihrem letzten Titel ‚Wonderland‘ (Magnetic Scrolls/Virgin Mastertronic 1990). Schon 1986 wurde Infocom übernommen und existierte nach 1989 nur noch als Labelname des Publishers Activision. Der Publisher Activision selbst wurde 1980 von ehemaligen Atari Mitarbeitern gegründet.

60 Bedroom, in the bed

The bedroom is a mess.

It is a small bedroom with a faded carpet and old wallpaper. There is a washbasin, a chair with a tatty dressing gown slung over it, and a window with the curtains drawn. Near the exit leading south is a phone.

There is a flathead screwdriver here. (outside the bed) There is a toothbrush here. (outside the bed)

>get out of bed

Very difficult, but you manage it. The room is still spinning. It dips and sways a little.

>get gown

Luckily, this is large enough for you to get hold of. You notice something in the pocket.

Eine der Anzeigen Infocoms, die Oktober 1983 im Family Computing Magazine erschien (Abbildung 13), kommentiert einen solchen Spielablauf in parteiischer Euphorie:

Infocom’s prose stimulates your imagination to a degree nothing else in software approaches.

Instead of putting little funny creatures on your screen, we put you inside our stories. And we confront you with startling realistic environments alive with situations, personalities, and logical puzzles the like of which you won’t find elsewhere. [Herv. FF]

Die Anzeige mit dem Titel ‚Would You Shell Out $1000 To Match Wits With This?‘ zeigt eine der typischen ‚little funny creatures‘, von denen sich Infocom distanzierte.128 Der Verzicht auf ähnlich ‚lächerliche‘ Darstellungen wird als Geheimnis des eigenen Erfolgs vermarktet:

We’ve found a way to plug our prose right into your imagination, and catapult you into a whole new dimension. […] Step up to Infocom. All words. No pictures. The secret reaches of your mind are beckoning. A whole new dimension is in the waiting for you.

‚The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy‘ markiert in seiner Exposition der Geschichte ebendiese Situation des Spielers: Der Raum drehe sich um den Protagonisten – der Protagonist wird in passendem Präsens direkt adressiert, der Spieler ist gemeint – sehen kann er dies nicht –, es ist zudem dunkel. Der Absatz vor „It is pitch black” markiert den Übergang von der spezifisch medialen Situation zur Situation der Spielhandlung. Das intro des Spiels ist die literarische Reflexion der Werberhetorik selbst, die besagt, Infocom habe durch den Verzicht auf (externe) Bilder einen Weg gefunden, sich gezielt in die Imagination der Spieler einzuklinken. Sie produziere nun Bilder an einem Ort, an dem die Sonne nicht scheint – zu lesen in einer anderen Anzeige des gleichen Jahres.129

128 Vgl. Abbildung 13 und meine eigene Nachempfindung in Abbildung 12.

129 Zur Werbekampagne muss man vielleicht noch anmerken, dass sie nicht aus einer wirtschaftlichen Notlage der Firma heraus geboren wurde, wie man vielleicht annehmen könnte. Diese stellte sich zwar kurze Zeit später ein, jedoch nicht primär durch die Konkurrenz der graphisch orientierten Spiele, sondern durch einen missglückten Vorstoß in den Bereich der Businesssoftware mit ‚Cornerstone‘ (1985). 1984 verbucht Infocom einen überdurchschnittlichen Erfolg auf dem frischen Markt der Computer- und Videospiele, dem Software-Bereich recreation. Jeweils zehn bis elf verschiedene Titel führte Infocom unter die 30 bzw. 40 erfolgreichsten Titel der Softsel Hot Lists von 1984. Alle anderen Spiele auf dieser Liste waren Vertreter der anderen Entwicklungslinie.

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Abbildung 13: Would you shell out $1000 to match wits with this?, Oktober 1983. Werbeanzeige von Infocom in Family Computing Magazine.

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Douglas Adams, der Buchautor des ‚Hitchhiker's Guide to the Galaxy‘130 und selbst Co-Autor zweier Infocom-Titel131, beschrieb seine Beweggründe in diesem Medium zu arbeiten rückblickend wie folgt: „Early computer graphics, of course, were slow, crude and ugly. As a medium it didn't interest me, so I thought I'd sit things out and wait till the graphics got good.”132 Textadventures sind verbalen Kommunikationsstrategien der Printmedien stark verbunden. „The player gets caught up in a virtual conversation with the machine”, wie Adams deren interaktive Dimension charakterisiert.133

Auch aktuelle Computerspiele, die eine Art virtual visual conversation anstreben und deren Grafik zumindest nicht mehr ‚langsam und grob‘ ist, entwickeln erst allmählich eine spezifisch eigene Sprache, nachdem sie den Großteil ihrer Bildsprache anderen Bildmedien entlehnt hatten – vieles dabei aus dem Bereich Film.134 Wenn Spiele in Narrationen und Beschreibungen auf eine klare Vermittlung von ‚Inhalten‘ abzielen, bleibt das gelesene oder gehörte ‚Wort‘ weiterhin ein verlässliches Mittel, Spieler ohne ein störendes Maß an Informationsrauschen zu erreichen. Spiele zeichnet zwar ein diffuser Zustand zwischen Wirklichkeit und autonomer Spielwelt aus, der sich auch in den Schwierigkeiten begrifflicher Definition äußert,135 wenn es aber darum geht Informationen und Regeln als eindeutig für Spielhandlungen zu kommunizieren, wird jede Form der Ambiguität vermieden. Texte kontrollieren dabei Mehrdeutigkeiten häufig drastisch besser und effektiver als Bilder, was unter anderem der Kunsthistoriker Ernst Gombrich plausibel dargelegt hat.136 Bilder neigen – wenn sie nicht Piktogramme oder Ähnliches sind – zu Informationsanordnungen in eher diffusen Aufmerksamkeitsstrukturen, was sie für einen kommunikativen Einsatz in Spielen problematisch macht, sofern sie mehrere Interpretatio-nen zulassen oder diese bewusst anlegen. Auch hier muss nach funktionalen Kontexten differenziert werden: Bilder können auch vieldeutig sein im Spiel, dann sind sie meist jedoch nicht Informationsträger und -vermittler für Handlungsorientierungen im Spiel, sondern explizite Spielaufgabe als Objekt der Handlung selbst, beispielsweise indem sie der Spieler als Rätsel entschlüsseln muss. In Computerspielen erschließt sich die Funktion meist aus dem Kontext der Bilder, den das game design festlegt. Auch der zeitliche Druck, dem sich ein Spieler in speziellen Spielsituationen aussetzt, kommuniziert schnell, welche Funktion Bilder in einem bestimmten Kontext besetzen. So wird es in einer ereignisreichen Sequenz im Spiel nie darum gehen, sich kontemplativ in ein Bild zu versenken, wie dies in einem Hidden Object Game (HOG) der Fall wäre, bei dem Bilder gezielt und aktiv nach Spuren und Gegenständen durchsucht werden müssen. Doch auch die textuelle Vermittlung tut sich unter Zeitdruck schwer, da man für den Spieler im Design eines Spiels

‚Zeit schaffen‘ muss, einen Text überhaupt lesen zu können. Dies impliziert meist eine eher unerwünschte Änderung des Tempos bis hin zum kompletten Stillstand der Handlungen im Spiel. Schnelle Actionspiele setzen deshalb unterschiedliche Bildebenen ein – Overlays, Filter, dynamische Wegrichtungsanzeigen etc. –, um Spieler auf Handlungen zu fokussieren und diese Handlungen zu informieren. Textadventures, um das Beispiel dieses Kapitels

130 Erschienen erstmals als Buch 1979, basierend auf einem Hörspiel der BBC von 1978.

131 An eben der Umsetzung seines Bucherfolgs zusammen mit Steve Meretzky und an dem Originaltitel

‚Bureaucracy‘ (Infocom 1987).

132 Douglas Adams: „Introduction“, in: Terry Jones: Starship Titanic, London 1997, S. 2.

133 Ebd., S. 1.

134 Vgl. Kapitel III.1 ‚Selbstfindung im Medium‘.

135 Vgl. Kapitel II.3ff, noch einmal expliziter adressiert in Kapitel VI.

136 Vgl. Ernst H. Gombrich: „The Visual Image“, in: Scientific American 227, 3, 1972, nachgedruckt in: „The Visual Image: Its Place in Communication“, in: ders.: The Image and the Eye, Oxford 1982.

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aufzugreifen, sind vorwiegend zeitunkritisch137 und mit illustrativen, den Text ergänzenden Grafiken weniger von diesen Problemen geplagt.

Infocoms Kampagne verkaufte den von Konsumenten vielleicht als ästhetisches Defizit wahrgenommenen Einsatz karger Zeichen präventiv als Vorsprung und Vorteil, indem an kommunikative Verfahren der Literatur angeknüpft wurde, die über die Jahrhunderte erprobt waren. Und sie aktivierte den über Jahrhunderte (zumindest seit der Romantik) geführten Diskurs zur Imagination für das neue Medium, lange vor jeglicher theoretischer Reflexion über Computerspiele in den Geisteswissenschaften. Mit den polemischen Werbetexten hat Infocom mitunter einen wichtigeren Beitrag für eine anthropologische Fundierung der game studies geliefert als die ausgewiesen theoretischen Ansätze jüngeren Datums.

Die gesamte Rhetorik der Kampagne zeichnet eine Doppelbewegung auf: Die „whole new dimension“, in die der Rezipient im Spiel katapultiert werden soll, basiert auf einer ermöglichten Interaktion mit einer Fiktion, die grundlegend literarisch gedacht war.

„Communication is carried on just as it is in a book – in prose. And interaction is easy – you type in full English sentences”, wie in einer der Anzeigen zu lesen ist.138 Der naheliegende Gedanke war, dass die vorausgesetzte Imaginationsleistung beim Lesen literarischer Texte durch die ermöglichte Partizipation noch verstärkt wird. Ein solch schlichtes Modell eines Verstärkungspotenzials durch Partizipation hält sich hartnäckig bis in die heutigen, negativ eingestellten Medienwirkungsdebatten im Umfeld dieser Spiele – es war im vorherigen Kapitel bereits die Rede davon.

Die Orientierung an traditioneller Literatur appellierte gleichzeitig an vorhandene Medienkompetenzen und sucht hier Anschluss. Immersion, die 20 Jahre später schon einmal als der ‚heilige Gral‘ der Computerspielentwicklung bezeichnet wurde,139 lag als Begriff nicht fern. In der Kampagne heißt es:

The most remarkable thing about Infocom’s interactive fiction is that you become almost inextricably involved with it. […] For the first time, you can be more than a passive reader – you can become the story’s main character and driving force. […] As hard as getting out may be, though, we’ve made it easy for everyone to get into Infocom’s interactive fiction. […] So find out what it's like to get inside a story.140

137 Ein Gegenbeispiel ist ‚Borderzone‘ (Infocom 1988). Im Gegensatz zu anderen Textadventures tickt die Uhr dort weiter, auch wenn der Spieler zum Nachdenken pausiert: Ereignisse finden statt, Figuren verändern ihren Ort usw. Damit übertrug Infocom für die Textadventures experimentell ein zeitkritisches Interaktions-schema, das typisch für die grafischen Spiele der anderen Entwicklungslinie war. Das Lesen und Schreiben unter Zeitdruck musste ein Experiment bleiben, auch wenn es sehr viel später in Spielen wie dem

parodistischen ‚The Typing of the Dead‘ (Smilebit/Sega 2001) oder im casual games Bereich als Erschließung der Tastatur für spezielle Spielmechaniken wieder auftauchen sollte, vgl. beispielsweise ‚Typer Shark Deluxe‘

(Popcap Games 2003).

138 Diese Anzeige mit dem Titel ‚The real trick is getting out‘ erschien vermutlich 1984, was an den beworbenen Titeln ablesbar ist.

139 Ernest Adams und Andrew Rollings formulieren die naive Kausalkette: „The better a game supports the illusion, the more thoroughly engrossed you become, and then the more immersive we say the game is.

Immersiveness is one of the holy grails of game design.”(Vgl. Kapitel 3, Game Settings and Worlds, in:

Rollings/Adams: On Game Design, 2003.)

140 Anzeige mit dem Titel ‚The real trick is getting out‘ (1984).

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Die erwähnte Doppelbewegung besteht im zeitgleichen Eintritt des Spielers in die Textwelt und der Textwelt in das Bewusstsein des Spielers, der nun mit seiner eigenen Imaginations-leistung die fiktive/virtuelle Welt für sich ‚im Kopf‘ visualisiert.141

Immersion als Begriff war von Infocom schon in einer Anzeige erschlossen, die 1983 in

‚A.N.A.L.O.G. Computing. The Magazine for Atari Computer Owners‘ erschien. Dort stand zu lesen: „[…] you’re immersed in rich environments alive with personalities as real as any you’ll meet in flesh – yet all the more vivid because they are perceived directly by your mind’s eye, not through your external senses.”142 Was in Infocoms anderer Anzeige (Abbildung 13) noch als Frage nach einem Geheimnis gestellt wurde („The Secret?“), wird hier als ‚Magie‘ in einer rhetorischen Frage angesprochen („The method to this magic?”).

Die Antwort auf das ‚Geheimnis‘ war der Weg, die eigene Prosa direkt in die Imagination des spielenden Rezipienten ‚zu stöpseln‘. Die Antwort auf die ‚Methode der Magie‘ ist nun das Einklinken in die Psyche: „We’ve found the way to plug our prose right into your psyche, and catapult you into a whole new dimension.”

Die Anzeige in ‚A.N.A.L.O.G.‘ markiert mit der Abbildung eines Gehirns den doppelseiti-gen Höhepunkt der gesamten Kampagne, die fast schon über die Szene im engeren Sinne hinaus als so genannte ‚BrainAd‘ bekannt wurde: „We stick our graphics where the sun don’t shine“ (Abbildung 14).

Abbildung 14: We stick our graphics where the sun don’t shine, 1983. Werbeanzeige von Infocom in

Abbildung 14: We stick our graphics where the sun don’t shine, 1983. Werbeanzeige von Infocom in