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Spielsituation 5 (idealisiert) Boss-Fight, beliebiges Spiel

V. Kontrollmechanismen und epistemischer Zugriff

2. Etablierte Kontrollsysteme II: Spiel

Über die im vorigen Kapitel thematisierten Kontrollmechanismen in den Wissenschaften erschließt sich die Relevanz des Spiels als Welt- und Erkenntnismodell. Um an Rortys Aussage anzuknüpfen: Große Naturwissenschaftler erfinden zwar Beschreibungen der Welt, die dem Zweck der Vorhersage und Kontrolle dessen dienen können, was geschieht.

Die Zwecke, zu denen die Menschen virtuelle Welten und Computerspiele als eigene Wirklichkeiten einsetzen, unterscheiden sich von dieser Praxis allerdings nicht grundsätz-lich – nicht in einer Weise, die Rorty vielleicht bei jenem im Auge hatte, was auch immer Dichter und politische Denker in anderen Beschreibungen der Welt erfinden.

Wie im Falle ‚Tristram Shandy‘248 kommt der Held erst spät zur Welt, nachdem die Welt (des Lesers) gut für eine solche Geburt vorbereitet ist: Gewagt wird eine erste (explizite) Spieldefinition. Sie orientiert sich ganz im Sinne dieser Kapitel am Kontrollbegriff. Die Definition ist keine selbstgemachte, sondern stammt von Elliot M. Avedon und Brian Sutton-Smith und ist zugegebenermaßen so allgemein wie an dieser Stelle passend:

[…] we define play as an exercise of voluntary control systems. But what of games? […] At its most elementary level then we can define a game as an exercise of voluntary control systems in

245 Vgl. auch Kapitel I.1.

246 Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, S. 21.

247 Ebd, S. 22.

248 Vgl. Kapitel I.1.

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which there is an opposition between forces, confined by a procedure and rules in order to produce a disequilibrial outcome.249

‚Game‘ ist hier schlicht eine deutlicher durch explizite Regeln bestimmte Sonderform von

‚play‘, die am Ende einen Gewinner oder zumindest einen Ausgang voraussetzt, auf den sich der Fortschritt im Spiel ausrichtet. Trotz oder gerade wegen ihrer allgemeinen Form ist diese Spieldefinition von ‚play‘ und ‚game‘ eine äußerst produktive – und dies zählt im Assoziationsraum des Spiels, um Hartmut Winklers Beobachtung aus der Medienwissen-schaft erneut ins Spielfeld zu ziehen.250 Avedons und Sutton-Smiths Angebot, Spiel als Kontrollsystem zu definieren, erschließt einen solchen Assoziationsraum und bleibt dabei Perspektivierung. Es handelt sich hier natürlich um eine mögliche Definition von Spiel und nicht um die eine Definition des Spiels als letzte Wahrheit. Um letztere kann sich die Suche nach aller bewältigter Vorarbeit nicht mehr drehen. Wie kommt diese Definition zu einer produktiven Anwendung, die auch spezifische Erkenntnisse erlaubt?

Spiele werden eingesetzt, um die tatsächliche Welt zu bestimmten Zwecken zu ändern. Sie fördern einen Gewinn an Kontrolle, der in der primären, einen Wirklichkeit nicht möglich wäre. Ein Beispiel aus der Welt der Computerspiele (im Film): Steve Wiebe, zeitweise Highscore-Rekordhalter des Spiels ‚Donkey Kong‘ (Nintendo of America 1981), schildert in Seth Gordons dokumentarischem Film ‚King of Kong‘ (2007) seine Motivation, der weltweit beste Spieler dieses Arcade-Spiels zu sein:

When I got laid off and I had time on my hands, I was thinking what can I do to kinda feel like I have control over something. So I looked at Twin Galaxies. I just typed in ‚Donkey Kong World Record‘. Some spreadsheet came up and I saw what the score was. It was held by Billy Mitchell, and it was like 847000. And I go ‚Hey, I can beat that! ‘“.

Den Rekord an sich zu halten war nach Wiebes Aussage nicht der primäre Antrieb. Die Motivation lag vielmehr darin, in einer von den unkontrollierbaren Umständen einer komplexen Welt befreiten Spielumgebung ein Gefühl der Kontrolle wiederzuerlangen, die Wiebe in seiner Arbeitslosigkeit verlorengegangen war.

Um das Gefühl von Kontrolle zu gewinnen, werden eigens zu diesem Zweck immer neue Welten erzeugt und eingesetzt, in denen eine solche Kontrolle möglich ist. Dabei können Spiele auch ein Suchtpotenzial freilegen. Der Gewinn an Kontrolle tröstet effektiv über jeglichen Verlust an verlässlichen Wahrheiten in der tatsächlichen Welt hinweg – ein Verlust, der die Erzeugung von vielen möglichen Welten mit entsprechend multiplizierten Wahrheiten fortwährend begleitet. Die Strategie ist dabei durchschaubar: Anstatt sich mit der schwierigen Suche nach einer Wahrheit zu belasten, vielleicht sogar der philosophischen Suche nach der einen Wahrheit, nur um über diese eine dann die Welt zu kontrollieren, setzt man alternativ die Kontrolle an vorderste Stelle und erzeugt für die Ausübung dieser Kontrolle lieber beliebig neue Wahrheiten, die in multiplen, kontrollierbaren Welten gelten.

Dies ist der vorrangige Zweck von Welten, in denen Komplexität reduziert und vor allem fokussiert wird – und aus diesem Grund sind sie als ‚virtuell‘ zu verstehen: Die virtuellen Welten von Spielen sind zum Großteil durch klare Regeln definiert und von ihren Mechanismen überschaubar, da sie die Komplexität einer realen Welt reduzieren sollen, um

249 Brian Sutton-Smith/Elliott M. Avedon: The Study of Games, New York 1971, S. 7f.

250 Winkler: Basiswissen Medien, S. 10.

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sie kontrollierbar zu machen. Als in sich geschlossene Weltmodelle sind sie deswegen auch leichter zu verstehen.

Man könnte nun die Hoffnung hegen, diese Welten für sich genommen doch noch in der Forschung angemessen beschreiben und auch als Gegenstand kontrollieren zu können.

Doch die eingesetzten Welten lassen sich nur bedingt als abgeschlossen wahrnehmen, da andere Welten und Modelle permanent auf sie einwirken und auf diese Weise ein interdependentes Gefüge entsteht, das dann wiederum komplex und schwer zu verstehen ist. Man muss sich weiterhin im Klaren darüber sein, welchen Geltungsbereich eine Betrachtung dieser virtuellen Welten voraussetzt, was uns in der Forschung erneut auf die eigenen Methoden verweist. Auch wird hier in unserer zweckorientierten Spieldefinition eine allgemeine Gültigkeit heraufbeschworen, in der man sich ebenfalls leicht täuschen kann. Wir können weiterhin nur sehr bedingt verallgemeinern, da verschiedene konkrete Spiele jeweils andere Kontrollmechanismen für andere Regelsysteme einsetzen.

Generalisierungen fallen schon deshalb schwer, weil Vorprägungen von Spielern und Nutzern eine empfindliche Rolle spielen.251 Es kommt also unverändert auf Einzelstudien an, die Generalisierungen eher entgegenwirken als entgegenkommen, sollte man signifikant mehr sagen wollen, als es die reine Definition bereits tut.

Für das Spiel als Kontrollsystem ist entscheidend, dass die Kontrollmechanismen schon einen ästhetischen Effekt erzeugen, wenn allein die Kontrolle selbst bestätigt wird. Das Feedback über die Kontrolle der Welt ist eine verlässliche Wahrheit, die im Spiel zählt.

Spielwelten können äußerst selbstgenügsam und selbstgefällig sein: Die erzeugten Welten stellen den Effekt der Kontrolle als Medium aus, und die Vermittlung der Kontrolle durch direktes Feedback in Computerspielen kommt darin als (ästhetische) Erfahrung beim Nutzer an, entweder individuell für einen einzelnen Spieler oder kollektiv für eine Gruppe von Spielern. Auch wenn sie noch so trivial und unbedeutend erscheint, ist es nicht selten die reine Sichtbarkeit und direkte Spürbarkeit von kausalen Wirkeffekten der ausgeübten Kontrolle in Raum und Zeit, die die verlässliche Wahrheit dieser Welten bestimmt. Der Kontrollmechanismus definiert den ‚interaktiven‘ Rezeptionsmodus in Spielen: Er ist durch die Vermittlung von Kontrolle an Gefühle von Macht gebunden, die in der tatsächlichen Welt nicht denkbar wären – höchstens ‚träumbar‘. In dieser Richtung will ich Spiel hier in Verlängerung von Avedons und Sutton-Smiths Spieldefinition verstehen und den durch die allgemeine Definition eröffneten Assoziationsraum voll nutzen. Dieses Verständnis ist zunächst nur Ausgangspunkt und freilich erst noch zu präzisieren und zu belegen.

Dass dies nicht immer so einfach sein wird wie die Aufstellung der soeben bewältigten Liste voller Behauptungen ohne gültige Belege, ist offensichtlich, denn man kommt leicht in Bedrängnis, sobald man Spiele über ihre Regel- und Kontrollmechanismen hinaus präzisieren will. „Das Spiel war, seitdem Platon den Menschen als ‚Spielzeug Gottes‘

bezeichnet hat, immer auch eine ernste Angelegenheit“, so Horst Bredekamp 1993 zur von ihm wahrgenommenen Renaissance des homo ludens: „[…] die These vom spielerischen Charakter aller natürlichen und menschlichen Existenz hat mit Leichtigkeit wenig zu tun.“252 Dies vereitelt jedoch nicht den notwendigerweise selbst spielerisch kreativen Umgang mit diesen Fragen – im Geiste des Spiels eben.

Die oft befremdliche Beschäftigung mit Spielen wurde in einen kulturellen, auch wissenschaftskulturellen Rahmen hineingeboren, den es zu verstehen gilt, sofern man ein

251 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Kapitel V.4.

252 Horst Bredekamp: „Die Kunstkammer als Ort spielerischen Austauschs“, in: ders.: Bilder bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel, Berlin 2007, S. 121-135: 121.

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ernsthaftes Interesse hat, Spiele im hier veranschlagten Sinne zu verstehen. Für Bredekamp entspricht der Neuaufstieg des Spielbegriffs philosophisch „dem Widerstand gegen deterministische Denksysteme“.253 Belegt wird dies mit Gilles Deleuzes Bekenntnis am Ende seines „Nietzsche-Buchs“: „Das Spiel bestätigt den Zufall und die Notwendigkeit des Zufalls.“254 Auch Vilém Flusser erscheint hier, der in der „Transformation der Arbeit in Spiel“ – so Bredekamp – „denn auch einen Schlüssel der Zukunft [sah]: ‚Der Mensch wird nicht mehr der Arbeiter sein (‚homo faber‘), sondern ein Spieler mit Informationen (‚homo ludens‘)“.255 Ist Bredekamps Hinweis darauf, dass das Spiel immer auch eine ernste Angelegenheit sei, noch uneingeschränkt teilbar, so zeigt sich in den mit Deleuze und Flusser angeführten Belegen schon der vehemente Widerspruch zum zuvor skizzierten Spielverständnis, das auf ausgeübter Kontrolle basiert. Auch wenn man an jene, auch von Bredekamp zitierte Stelle zurückkehrt, die den homo ludens als Begriff überhaupt erst hat erscheinen lassen, so liest man in den Worten Johan Huizingas: „Hier sieht man also noch einen neuen, noch positiveren Zug des Spiels. Es schafft Ordnung, ja es ist Ordnung. In die vollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit. Das Spiel fordert unbedingte Ordnung. Die geringste Abweichung von ihr verdirbt das Spiel, nimmt ihm seinen Charakter und macht ihn wertlos.“256 Dies lässt sich fast in Negation zu Deleuzes Einschätzung formulieren: Das Spiel bestätigt die fast uneingeschränkte Kontrolle in vollkommener Ordnung über den Zufall, sollte dieser eintreten – in nahezu radikaler Affirmation deterministischer Denk- und Ordnungssysteme.

Anstatt Deleuzes Ansicht aber zu widersprechen, kann man auch diesen vermeintlichen Widerspruch als Teil der Ambiguität des Spiels begreifen, und diese Einsicht mit der anderen verbinden, die die games studies über ihre Hetrogenität charakterisiert. Die multiplen Wahrheiten bestimmen das Spiel weiterhin. Und der Mensch als Spieler und Wissenschaft-ler wird vielleicht tatsächlich zum SpieWissenschaft-ler mit Informationen im Sinne Flussers. Es kann aber zumindest darauf beharrt werden, dass er zum Spieler mit Möglichkeiten verschiede-ner Wahrheiten wird. In rückwirkender Betrachtung des vorigen Kapitels über das

‚Kontrollsystem Wissenschaft‘ erscheint auf dieser Betrachtungsebene auch Wissenschaft als ein Spiel mit Möglichkeiten, wenn wir sie als Kontrollsystem über so genannte ‚objektive‘

Tatsachen verstehen wollen.

Nicht nur der erwähnte Mangel an verlässlichen Aussagen, auch die wahrhaft inflationäre Verwendung des Spielbegriffs als Metapher und Ähnliches machen die Beschäftigung mit Spielen selbst zu einem Spiel mit den Möglichkeiten des Spiels an sich – eine Art Meta-Spiel, das ebenfalls wie eine Übung an willkürlich eingesetzten Kontrollsystemen aussieht. Dieser Ansatz ist vielleicht nur bedingt besser als die inflationäre metaphorische Nutzung des Spielbegriffs, die in dieser Arbeit so weit es möglich erscheint ausgeklammert werden soll.

Sie unterstreicht aber den immensen Geltungsbereich, den der Spielbegriff beanspruchen kann.

253 Ebd.

254 Ebd.

255 Ebd.

256 Johan Huizinga: Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes der Kultur, Amsterdam 1940, S. 17.

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