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Anfang und Ende: Anfang ohne Ende – Ende ohne Anfang

II. Methoden – Prolegomena

2. Anfang und Ende: Anfang ohne Ende – Ende ohne Anfang

Wie äußert sich das ‚Stolpern auf dem Weg‘ der Forschung in der konkreten Praxis beim Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit? Welche Rolle spielt dort die Methode bei der Orientierung auf Ziele und deren Erfüllung?

Den Weg, der durch eine wissenschaftliche Arbeit beschritten wird, zeichnet eine symptomatische Verkehrung der Richtung aus, denn er ist zu Anfang meist schon durchlaufen und wird analog einer ‚Nacherzählung‘ repräsentiert. Es geht demnach häufig darum, einem ‚Stück‘ Forschung einen vorgeblich vorab gesicherten Plan nachzutragen oder

‚nachzuschreiben‘, d.h. der Plan muss dementsprechend nachträglich inszeniert und so gerichtet werden, dass er für das Vorhaben im Resultat passt.

Abbildung 9: Der klärende Hinweis des in Microsoft Outlook 2007 in-tegrierten Kalenders nach einer als Fehler interpretierten Terminein-gabe – zumindest hier ist man sich offensichtlich einer Fehlleistung in dieser Hinsicht bewusst.

81 Michel Foucault: Schriften, Band 3, S. 523f.

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Die Probleme, die ein (wissenschaftlicher) Autor auf seinem Weg erfahren hat, sind bewältigt und gelöst, wenn sie Eingang in eine wissenschaftliche Arbeit finden. So betrachtet ist die Sicherung, die eine Methode liefert, immer nur eine rhetorische, vor allem aber eine nachträgliche. Sie beruht auf den schon abgeschlossenen Erfahrungen eines Wissenschaftlers, der als Autor seinen Erkenntnisprozess als unabgeschlossen für den Leser inszeniert. Dafür werden gewonnene Erkenntnisse in einer idealisierten ‚Argumentations-kette‘ geordnet, die das eine ins andere (kausal, logisch) überführt.

Qualitativ und strategisch ist dieses Vorgehen dem Plot und der Inszenierung beispielswei-se einer literarischen Erzählung vergleichbar. Mit einem gravierenden Unterschied: Die wissenschaftliche Arbeit wird als sekundäres Produkt eines durchlaufenen Prozesses – eines gegangenen Weges – ausgewiesene Sackgassen und Momente des Scheiterns und Stolperns weitgehend verschweigen, selbst wenn der von Fehlern ‚unbereinigte‘ Prozess der aufschlussreichere wäre.82 Im Anschluss an die Analogie zur literarischen Erzählung wäre ein solcher Weg auch der interessantere, spannendere und überhaupt erst der notwendig ereignisbehaftete.

Stolpern und Tasten im Sinne einer expliziten Ausstellung von Fehlleistungen innerhalb des Forschungsprozesses wären im Rahmen einer schriftlich fixierten wissenschaftlichen Textarbeit jedoch zu inszenieren, vergleichbar einer Täterspur, die in einem Kriminalroman als Handlungsstrang ins Leere führt, um einen nächsten, erfolgreichen dramaturgisch wirkungsvoll zu verzögern. Für die wissenschaftliche Arbeit sind Verzögerungen dieser Art

‚genreuntypisch‘ und als Ausstellung analytischer Schwäche zu vermeiden. Der ‚Wissenspe-gel‘ steigt linear von Anfang bis Ende – Momente des Rückschritts werden aus dem Programm gelöscht. Dadurch ist die wissenschaftliche Arbeit für gewöhnlich weitaus weniger als die ‚halbe Geschichte‘. Der einer wissenschaftlichen Arbeit zugrundeliegende, iterativ aufgebaute Zuwachs an Wissen und Erkenntnissen im ‚Stolpern‘ wird also normalerweise nicht vermittelt. Er wäre schließlich auch nur die Wiederholung eines

‚Stolperns‘ des Autors, das durch den eingebüßten ‚Live-Charakter‘ die ursprüngliche Wirkung im Forschungsprozess nicht überzeugend reproduzieren könnte und auch nur schwer auf die Erfahrung eines Textlesers übertragbar scheint, der Experimente dieser Art wohl schnell als ‚unlesbar‘ empfinden würde. Man nähert sich wieder jenen Grenzen von Texten, die Laurence Sterne plastisch vor Augen führte (Abbildung 10 und Unterkapitel I.1).

Wie im Fall ‚Tristram Shandy‘ verhindern die Bedingungen und Voraussetzungen der Möglichkeiten, einen ‚vernünftigen‘ Anfang zu finden, was den Verlauf der Geschichte nachhaltig beeinflusst: Der Anfang wäre ja von vornherein kein wirklicher gewesen, sondern lediglich ein inszenierter, da er vorneweg Gedanken und Erfahrungen nicht vernichten kann, die immer schon sind und da waren – die den Anfang überhaupt erst motiviert hatten. Gibt es überhaupt einen ‚wirklichen‘ Anfang? Anders gefragt: Lässt sich zu einem Anfang zurückkehren? Nein, dies ist nicht möglich, weil eine Umkehrbarkeit dieser Art die Ereignisse nach dem Anfang jetzt tilgen müsste, um den Anfang selbst zu bewahren. Autor und Leser sind zudem asynchron, was die Situation der Beurteilung zusätzlich verkompliziert: Das Jetzt des Lesers ist nicht identisch mit dem des Autors zum

82 Es sei an die schon einmal angeführte Einschätzung von Beat Wyss erinnert, die für das Wissen nichts aufschlussreicher hält, „als die Wege zwischen entdeckter Wahrheit und der Einsicht eines Irrtums“, in: Beat Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, Köln 2006, S. 9, vgl. auch Kapitel II.5 ‚Spielphilosophie oder Wissenschaft vom Spiel?‘

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Zeitpunkt, an dem dieser schreibt. Von wessen Anfang redet man also? In welchem System operiert man? Wer weiß was zu welchem Zeitpunkt? Und so weiter und so fort.

Da diese Beobachtungen insbesondere für die späteren Gegenstandsbetrachtungen relevant sind, sei an dieser Stelle festgehalten, dass es auch in wissenschaftlichen Arbeiten immer um die kausalen Zusammenhänge von Ereignissen in bestimmten Sequenzen geht, die für bestimmte Zielsetzungen geordnet werden. Darüber lässt sich die Bewegung auf einem Weg kontrollieren – für den statischen Text einer wissenschaftlichen Arbeit vor allem nachträglich und letzten Ende nicht mehr änderbar, ohne an den grundlegendsten Produktionsvoraussetzungen zu operieren.

Abbildung 10: Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman, Volume IX (letzter Band), Chapter Four.83

Um im weiteren Verlauf zu verstehen, was die Flexibilität dynamischer Strukturen in neueren Medien für veränderte Formen des Weltzugangs und der Weltwahrnehmung leistet, lohnt es sich auf solche grundlegenden Zusammenhänge bei den ‚Bedingungen von Möglichkeiten‘ zu kommen. Sie im Kontrast zu traditionellen Text- und Medienformen zu diskutieren, liefert entscheidende Grundlagen für ein Verständnis der Spiele, um die es hier geht.

83 Christopher Ricks kommentiert diese Stelle mit einer anderen aus ‚Tristram Shandy‘ – Volume IX, Chapter Twenty: „‚What little knowledge is got by mere words‘, says Sterne cheerfully – and it is, in a way, an odd thing to say since it is said with words. When Corporal Trim flourishes his stick, we are given not words but a twirling line on the page […] A fine comic stroke, and of course the flourish shows that ‚a man is free‘, because to incorporate such a diagram is in itself an act of unexpected freedom by the writer“, in: Christopher Ricks: „Introduction“, in: Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, London 1985, S. 8.

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