• Keine Ergebnisse gefunden

Computerspielphilosophie : Zu einer Spielforschung innerhalb der Medienwissenschaft

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Computerspielphilosophie : Zu einer Spielforschung innerhalb der Medienwissenschaft"

Copied!
274
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Computerspielphilosophie

Zu einer Spielforschung innerhalb der Medienwissenschaft

Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades des Doktors der Philosophie

an der Universität Konstanz Fachbereich Literaturwissenschaft vorgelegt von

Frank Furtwängler

Tag der mündlichen Prüfung: 20. Juli 2010 Referent: Prof. Dr. Joachim Paech

Referentin: Prof. Dr. Aleida Assmann

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bsz:352-188810

(2)

2

(3)

3

Inhaltsverzeichnis

I. Unbestimmtheit als konstitutives Problem und Möglichkeitsraum 6

1. Über die Anfänge wissenschaftlicher Arbeiten 6

2. Über die Ausgangslage medienwissenschaftlicher Projekte 13

3. Spiel mit dem Medium 23

4. Programmatik und Gegenstandseingrenzung 27

II. Methoden – Prolegomena 32

1. Über die Bewegung zu beweglichen Zielen 32

2. Anfang und Ende: Anfang ohne Ende – Ende ohne Anfang 38

3. Game Studies als Ausgangspunkt? 41

4. Homo sapiens vs. Homo ludens 42

5. Spielphilosophie oder Wissenschaft vom Spiel? 44

III. Selbstfindungsprozesse 47

1. Selbstfindung im Medium 47

2. Selbstfindung auf Produzentenseite 56

a) Früher 57

b) Heute 67

IV. Methoden – Instrumente und Spielzeug 73

1. Heuristischer Möglichkeitsraum 75

2. Playing Research (basic level) 84

3. Die Werkzeuge 86

a) Damals: Bild und Text 86

b) Ein Bild, das sich bewegt 89

c) ‚Das Ding an sich‘ und die unmittelbare Repräsentation 100

d) Re-Animation: Präsentation der Repräsentation 106

4. Playing Research (next level) 111

a) Indikativ: Aarseths ‚Playing Research‘ 112

b) Konjunktiv: Aarseths ‚Playing Research‘ 113

c) Vielfalt und Inkonsistenzbedingungen 116

V. Kontrollmechanismen und epistemischer Zugriff 119

1. Etablierte Kontrollsysteme I: Wissenschaft 119

2. Etablierte Kontrollsysteme II: Spiel 124

3. Retroaktive Kontinuität 128

4. Zukunft und Vergangenheit im Zusammenspiel 132

a) Kausalität und Kontinuität 133

b) Kausaler Umschlagplatz Mensch 137

c) Medienrealität und Mensch-Maschine Computerspiel 139

d) Die Illusion des ‚freien‘ Blicks 153

VI. Wider den Definitionszwang 154

1. Fragen ohne Antwort - I know it when I play it 156

2. Spiel als Medium des Denkens – How to do things with games 159

3. Rahmung und Immersion als Paradoxie 167

a) Immersion als Problem der game studies 168

b) Immersion als Problem der Medienwissenschaft 175

c) Regel und Riegel – Regeln als Medien der Rahmung 176

d) Immersion – der therapeutische Fall 178

e) ‚Reality Check‘ 182

VII. Arbeit und Weg 185

1. Mechanik des Textes – Mechanik des Users? 186

(4)

4

2. Gedankenexperiment: Ergodizität – hier und dort 190

3. Zur Verwendung der ‚Ergodizität‘ 196

VIII. Zeitpfeil und Tod 199

1. Die Zeit und ihre Richtung 202

a) Ergodizität und Entropie 203

b) Kausalität und Determinismus 207

c) Reversibilität oder Irreversibilität? 209

2. Das Spiel mit dem Tod 210

a) Der Tod im Spiel als metakommunikatives Signal 211

b) Der Tod im Selbstgespräch 214

c) Der Tod zwischen Trennung und Verbindung 220

3. Zwei Seiten der Information 224

a) Die Hoffnungen (in) der Kybernetik 225

b) Informationstheorie und Informationsentropie 229

IX. Spielraum Zeit und Raum-Zeit Spiel 233

1. Mehr Zeit 234

2. Noch mehr Zeit: Sterblichkeit und Unsterblichkeit 237

3. Medien und Zeitmaschinen 240

4. Zeit für Computerspiele 248

X. Schluss und Zusammenfassung 259

1. Literatur 261

2. Computerspiele 271

3. Film 272

4. Abbildungen 274

(5)

5

I hate set dissertations — and above all things in the world, 'tis one of the silliest things in one of them, to darken your hypothesis by placing a number of tall, opake words, one before another, in a right line, betwixt your own and your reader's conception — when in all likelihood, if you had looked about, you might have seen something standing, or hanging up, which would have cleared the point at once--'for what hindrance, hurt, or harm doth the laudable desire of knowledge bring to any man, if even from a sot, a pot, a fool, a stool, a winter- mittain, a truckle for a pully, the lid of a goldsmith's crucible, an oil bottle, an old slipper, or a cane chair?'

— I am this moment sitting upon one.

Laurence Sterne, Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, Volume III, Chapter XX

Ich hasse steife Dissertationen, — und es gibt auf der Welt nichts Törichteres, als wenn man darin seine Hy- pothese dadurch verdunkelt, daß man eine Menge groß- mächtiger, undurchschaubarer Worte in gerader Reihe hintereinander zwischen sein eigenes Begriffsvermögen und das seines Lesers stellt, — wo man doch, hätte man sich nur ein wenig umgeschaut, aller Wahrscheinlichkeit nach irgend etwas herumstehen oder -hängen gesehen ha- ben würde, was den Punkt sofort klargemacht hätte, -

„denn welchen Nachteil oder Schaden bringt es, ob nun der löbliche Wissendurst eines Menschen gestillet wird durch einen Tropf oder Topf, einen Dämel oder Schemel, einen Pelzhandschuh, die Rolle eines Flaschenzugs, den Tiegeldeckel eines Goldschmiedes, eine Ölkruke, einen alten Schlappen oder einen Rohrsessel,“ — ich sitze ge- rade auf einem.

Laurence Sterne, Leben und Ansichten von Tristram Shandy Gentleman, Band III, Kapitel XX,

(übersetzt von Michael Walter)

(6)

6

I. Unbestimmtheit als konstitutives Problem und Möglich- keitsraum

1. Über die Anfänge wissenschaftlicher Arbeiten

Wissenschaftliche Arbeiten weisen am sensiblen Punkt ihrer Anfänge gewöhnlich ein symptomatisches Muster auf: Es finden Standortbestimmungen als Bestandsaufnahmen statt. Hier werden ‚Zeichen der Zeit‘ unter dem Einfluss von Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen gelesen. Ein Leser soll früh erkennen, dass der Autor mehr in der Welt entdeckt hat als andere. Jeder Anfang ist durch diesen Umstand fast zwanghaft in die Lage versetzt, Unterscheidungen zwischen Situationen, Szenarien oder Ähnlichem zu treffen.

Dafür wird meist auf Oppositionen Bezug genommen, „von denen man als Autor annimmt, dass sie den Lesern ebenfalls vertraut sind“, wie Boris Groys bemerkt und diese Strategie weiter skizziert:

So schreibt man fast unvermeidlich irgendetwas vom Typ: Bis heute war die Welt so und so - und ab heute ist sie anders geworden, wobei dieses ‚heute‘ durch alles Mögliche ersetzt werden kann, wie etwa die Französische Revolution, das Aufkommen des Internets, den Zweiten Weltkrieg, die Klonierung eines Schafs, die Bombardierungen Serbiens, den Aufstieg von Prada.

Letztendlich ist damit aber die eigene Schrift gemeint, durch die alles erhellt werden soll, was früher dunkel war, beziehungsweise durch die alles verdunkelt werden soll, was früher hell zu sein schien.1

Auch die vorliegende Arbeit entzieht sich den so erfassten Voraussetzungen wissenschaftli- cher Positionierung nicht. In ihrer Betrachtung des Gegenstands ‚Spiel‘ – in neuen und alten Erscheinungsformen – werden insbesondere Standortbestimmungen stattfinden, die auf vorhandene theoretische ‚Vorarbeiten‘ blicken. Diese konturieren ein Forschungsfeld zum Spiel voller Eigen- und Besonderheiten, deren inhaltliche und strukturelle Widersprü- che untereinander charakteristisch zu sein scheinen. Anschlussmöglichkeiten für die eigenen Erkenntnisinteressen finden sich darin genauso wie ausreichend Gründe, einen frischen, grundlegenden Zugang zu wagen. Von theoretischen ‚Vorarbeiten‘ zu sprechen, erzeugt dabei gleich ebenjene Verdachtsmomente, die Groys für die wissenschaftlichen Arbeiten charakterisiert hatte und die implizieren, dass das, was früher dunkel gewesen war, bald heller erscheinen wird durch die Leistung der eigenen Arbeit. Was ist diesbezüglich von dieser Arbeit zu erwarten?

Will man Spiele grundlegend verstehen und einen Beitrag zur Klärung dessen leisten, was Spiele an Bedingungen und Voraussetzungen neben der ‚reinen‘ Spielpraxis auch in die Forschungspraxis tragen, so muss sich ein Zugang entsprechend an strukturellen Fragestellungen orientieren – zumindest zunächst. Dies schließt die Frage ein, was eine Arbeit zum Thema ‚Computerspiele‘ innerhalb der Medienwissenschaft zwangsweise bedingt. Da verlässliche Definitionen des Spiels erfahrungsgemäß schwierig sind, gerade dies in der bisherigen Forschung Konsens zu sein scheint, soll in dieser Arbeit das Spiel mittels solcher Fragen mehr ‚eingekreist‘, indirekt bestimmt, als in direktem Zugang adressiert werden.

1 Boris Groys: Politik der Unsterblichkeit, München/Wien 2002, S. 13.

(7)

7

Am Anfang lohnt es sich, über Anfänge und deren Bedingungen weiter nachzudenken.

Hier sind Dinge noch nicht ‚passiert‘ – sollte man annehmen – und damit noch am ehesten vergleichbar, bevor sich Möglichkeiten konkretisieren.

Abbildung 1: ‚Ei, mein Guter, sprach meine Mutter, hast du auch daran gedacht, die Uhr aufzuziehen? – Guter G –! rief mein Vater im Eifer […]‘, Illustration zu Sternes

‚Tristram Shandy‘ von Tatjana Hauptmann.2

Selbstbeobachtungen oder Selbstreferenzen dieser Art bergen Risiken. Der erste Fall nimmt in der Literatur den Ausgangspunkt. Nirgendwo treten diese Risiken deutlicher hervor als in Laurence Sternes grandios inszeniertem Scheitern eines Romans ‚The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman‘, dessen Titelheld nicht vor dem dritten von neun

2 Die Illustration ist der Erstausgabe (Haffman/Zweitausendeins) der deutschen Übersetzung von Michael Walter entnommen: Laurence Sterne: Leben und Ansichten von Tristram Shandy Gentleman, Frankfurt a. M. 1996.

(8)

8

Bänden geboren wird, die zwischen 1759 und 1767 publiziert wurden; die ersten Bände zunächst noch anonym. Der Roman kommt vor dem dritten Band nicht ‚zum Thema‘.

Doch auch dann ist man sich über Tristrams Geburtszeitpunkt im ‚Roman‘ noch nicht vollkommen im Klaren. Der ‚Oxford Companion to English Literature‘ gibt über die Geburt Tristrams Auskunft, sieht sie nicht vor Volume IV.3 Wir verlassen uns hier auf die Einschätzung anderer.

Die Geschichte eines Lebens, deren Anfang durch den Beginn des Lebens selbst markiert wäre, hat es im Fall Shandy dann doch nicht sein sollen. Denn wo beginnt das Leben und damit die Erzählung? Schief läuft es bereits, wenn der Vater im Akt der Zeugung von einer, zugegebenermaßen der Situation unangemessenen, aber dennoch berechtigten Frage der Mutter (Abbildung 1) davon abgehalten wird, seine Lebensgeister dem Homunculus zum Geleit an die Seite zu stellen. Nach dieser Frage, die im ersten Kapitel erscheint, war alles nur noch schwer in Ordnung zu bringen oder zu halten. Und das Aufziehen eines Uhrwerks war nicht genug, um einen ‚ordentlichen‘, geregelten Ablauf in Tristram Shandys Leben und der Erzählung von Tristram Shandys Lebens zu bedingen.

Dieses eine Mal hätte (theoretisch) alles richtig laufen können: mit größtmöglicher Verantwortung und Reflexion die eigene Geschichte so erzählt, dass sie der Wahrheit, der Realität entspricht und diese nach bestem Gewissen abbildet und transportiert. Es ist die Welt des Protagonisten als Text, und die Linearität der Erzählung gerät in Folge der Ansprüche an vermeintlich getreue, realitätsnahe ‚Wiedergabe‘ buchstäblich zwischen und mit den Buchstaben aus den Fugen: Endlose Gedanken und Nebenschauplätze definieren eine Welt aus Bedingungen, Voraussetzungen, Kontexten, Möglichkeiten der Erzählung an sich und beachtenswerten Umständen, die letzten Endes dann aber im Dienste einer

‚guten‘ Geschichte vernachlässigbar gewesen wären.

Was ist geschehen? Es ist die Mutation eines durch das Medium weitgehend determinier- ten, sequenziellen Plots zur Karte eines Lebens, gezeichnet mit den denkbar ungeeigneten Mitteln eines schriftlichen Texts, der weiterhin geeigneter ist, einen linearen, von Ereignissen eines Lebens gepflasterten Weg ‚zu zeichnen‘. Die Linearität vom ‚materiellen‘ Medium Text her zu überwinden – bei einem solchen Unternehmen hat es ein Text denkbar schwer.

Wie Derek Brewer in einem wichtigen Beitrag zur Mimesis-Kritik im Zusammenhang mit einer Neubewertung mittelalterlicher Romances aus der Moderne heraus feststellte, war es besonders der Roman (novel), der versuchte das Leben als Serie identifizierbarer materialisti- scher Ursachen und Effekte mimetisch abzubilden und einzufangen.4 Ein nicht nur die Natur in gewisser Weise imitierendes, sondern ein schon beinahe ‚naturgegebenes‘ Erzählschema, das beispielsweise in den mittelalterlichen Romances so nicht gegeben war. Dies ist nicht als Defizit der historischen Gattung zu werten, sondern als differierendes Konstruktions- prinzip in Erzählungen. Brewer führt das – wie er sagt explosionsartig angestiegene – Interesse an mittelalterlichen Romances in den 1980er Jahren auf den schwindenden Einfluss der ‚Mimesis‘ als literaturästhetischem Konzept zurück, was ihn gar veranlasst vom

‚mimetischen Trugschluss‘ zu sprechen: „The mimetic fallacy is based on the belief that

3 Lemma „Tristram Shandy“, in: Margaret Drabble/Jenny Stringer (Hrsg.): The Concise Oxford Companion to English Literature, Oxford 1996, S. 594. Auch Christopher Ricks bezieht sich in seiner Einschätzung gleich auf die Aussagen dieser Quelle: Christopher Ricks: „Introduction“, in: Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, London 1985, S. 8.

4 Derek Brewer: „Escape from the Mimetic Fallacy“, in: ders. (Hrsg.): Studies in Medieval English Romances. Some New Approaches, Bury St Edmunds/Suffolk 1988, S. 1.

(9)

9

actions, people and things can and should be closely imitated in words.“5 Die Erkenntnis über die „mimetic fallacy“ gründet auf eine ganze Reihe neuer Einstellungen nicht nur zur Realität literarischer Texte (beispielsweise in rezeptionsästhetischen Konzepten in der Theorie), sondern zur ‚Realität‘ überhaupt, wie Brewer in einer verkürzten Argumentation behauptet:

Increasingly from the late seventeenth century the world of appearances, or, more subtly, the phenomenal world, the material world, has been taken to be the ultimate and indeed the only real world.

So brief an account is necessarily crude and oversimplified. Moreover, the twentieth century has seen so much more deeply into material 'reality' that it may almost be said to have come out on the other side. Hence indeed the new interest in romance, which is essentially a non-mimetic mode of writing. We note that twentieth-century art since Cubism, music since Stravinsky, literature since James Joyce's Ulysses, (to take outstanding examples) have all become non- mimetic.6

Folgt man Brewers Erklärungen, so verschwindet an dieser ‚Schwelle‘ die vorherrschende Meinung, Geschichten seien unbedingt einem ‚Handlungsprinzip‘ zu unterwerfen, das sich im logischen Aufbau durch einsehbare Verhältnisse zwischen Ursache und Wirkung (Handlungslogik) bestimme.7 Doch die literarischen Werke verschiedenster Epochen seit dem 16./17. Jahrhundert stellten sich auf sehr unterschiedliche Weise zu diesen Prinzipien ein, nachdem die Mimesis im Zuge einer neoklassischen Orientierung im Aufkommen der novel an Einfluss gewonnen hatte.8

Der später nach dem Roman diagnostizierte Wechsel von der narrativen Methode zur mythischen, wie ihn T. S. Eliot in seiner einflussreichen Rezension zu Joyces, auch von Brewer angeführtem ‚Ulysses‘ 1923 für alle Romane, die danach kommen mögen vorschlug,9 hätte für alle Beteiligten – Autor, Medium und Leser gleichermaßen – nur sehr bedingt als eine reine Befreiung gelten können, nämlich zunächst nur als bisweilen unbequeme Befreiung von den reinen Beschränkungen der Erzählung selbst. Denn jeglicher Ausbruch aus dem logisch-kausalen Schema des Romans markiert nicht selten nur die Grenzen des Mediums selbst, das weitgehend ungeeignet bleibt für effektive Darstellungen beispielswei- se assoziativer oder anderer Verknüpfungen anstatt logischer oder eben kausaler. Ein solcher Ausbruch markiert aber besonders auch die Grenzen dessen, was ein Leser als hilfreiche Ordnungsstruktur aufzugeben bereit wäre, denn auch wenn seine eigene Wahrnehmung häufig assoziativen Mustern folgt, so ist die Wahrnehmung der Assoziatio- nen anderer oft unzumutbar und oft nur sehr bedingt nachvollziehbar, weil eben nicht logisch-kausal geordnet und damit nicht über eine, wie auch immer geartete ‚objektive‘

Ordnungsstruktur nachvollziehbar, die jedem geläufig und zugängig ist. Die Befreiung eines Autors zieht in diesem Fall die Bestrafung des Lesers nicht selten nach sich. Trotz

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Es sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Brewers Auffassung von Mimesis sicherlich als nicht unumstritten gelten darf. Ich gehe hier nicht von einer definitionsbildenden Beschreibung des

Mimesiskonzepts aus Brewers Feder aus. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff Mimesis, z.B.

in der Prägung Erich Auerbachs, ist an dieser Stelle weniger relevant.

8 Brewer: „Escape from the Mimetic Fallacy“, S. 1.

9 T. S. Eliot: „Ulysses, Order and Myth (1923)“, in: Lawrence Rainey (Hrsg.): Modernism. An Anthology, Oxford 2005, S. 167.

(10)

10

aller Chancen der ‚mythischen Montage-Technik‘,10 die die assoziative Verkettung von Ereignissen der logisch-kausalen bevorzugt, blieb das Ende des traditionellen Romans insgesamt ein eher unpopulärer Wunsch.

Keineswegs nur die Literatur, auch andere Medien sind permanent mit sich selbst beschäftigt. So hat der Film immer wieder versucht seine traditionell linearen Erzählsche- mata aufzulösen und dabei vor allem die Grenzen eigener Darstellungsmodalitäten der Erzählung erfahren. Das auf Alan Ayckbourns Theaterstück basierende Doppelwerk

‚Smoking / No Smoking‘ (1993) von Alain Resnais eröffnet beispielsweise in fast 300 Minuten Laufzeit ein alle Parteien erschöpfendes Angebot vieler möglicher Erzählungen einer an sich banalen Geschichte. Dieses reiche Angebot erschließt sich einem jedoch erst, wenn man sich zu den erzählerischen Verzweigungen in der weiterhin linearen Erzählweise des Films gewissermaßen eine Zeichnung anfertigt, oder selbst den Bauplan nachreicht.

Dann wird einem unter anderem deutlich, dass dieses Filmwerk die Linearität auflöst, um genau diese zu feiern: Die Darstellung wird begründet durch alternative Handlungen, die aus unterschiedlichen kausalen Zusammenhängen geboren werden. Der Film verpflichtet sich weiterhin der Linearität in seinen einzelnen Segmenten.

Abbildung 2: „These were the four lines I moved in through my first, second, third, and fourth volumes“, Laurence Sterne: The Life and Opin- ions of Tristram Shandy Gentleman, Volume VI, Chapter Forty.

10 „Die mythische Montage-Technik (THOMAS MANN) befreit den modernen Erzähler von den Zwängen narrativer Verkettung zugunsten topischer Organisation und ermöglicht ihm eine Annäherung an die tieferen Strukturen des individuellen und kulturellen Gedächtnisses. Im Medium der mythischen Methode wird Literatur zur Anamnese des kulturellen Unbewußten“, aus: Aleida Assmann: „Mythos“, in: Hubert

Cancik/Burkhard Gladigow/Karl-Heinz Kohl (Hrsg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Band IV, Stuttgart/Berlin/Köln 1998, S. 180.

(11)

11

Den Blick zurück ins 18. Jahrhundert und damit zurück zu Sterne gerichtet, hat der ‚Shandy‘

ganz offenbar jegliche Grenze narrativer Konstruktionsprinzipien überschritten, die an der Reihung chronologischer Ereignisse festhalten. Irgendwann wird auch hier die Leistung einer ‚wahrhaftigen‘ Zeichnung erkannt (Abbildung 2), die der (Selbst-)Aufklärung über die schief geratene Erzähllage dienen könnte, in die sich der Autor im Verlauf der ersten sechs Bücher versetzt hatte. Die visuelle Darstellung kann anderes leisten als die textuelle, und Sterne wechselt in Folge auch konsequent das Medium vorübergehend. In Linien aufgezeichnet – es bleibt linear – wird einem das als Reihe pathologischer Ausstülpungen vor Augen geführt, was man beim Lesen als Symptom gespürt hatte: Die Geschichte ist

‚krank‘ geworden, und die Linien wirken wie die Aufzeichnung eines Herzschlags ohne kontrollierbaren Rhythmus.

Abbildung 3: „In the fifth volume I have been very good, – the precise line I have de- scribed in it being this“, Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman, Volume VI, Chapter Forty.

Die in aller scheinbaren Unordnung dennoch systematische Ausstellung und Kontrolle textueller Einheiten und Bausteine – beliebig wirkende, anekdotische Aneinanderreihungen von Abschweifungen, kleinerer impulsartiger Einschübe c c c c c (Abbildung 3, „they are nothing but parenthesis“), fast komplett zur Abschnürung geratener eigenständiger Ausstülpungen wie Station D (Abbildung 3, „John de la Casse’s devils led me the round you see marked D“) und so weiter und so fort –, diese und zahllose weitere Eigenschaften von Shandys Versuch, (s)eine Geschichte ‚ordentlich‘ zu erzählen und dabei – von Sterne inszeniert – die Kontrolle als Autor zu verlieren, haben dieses Werk zu einer Art Proto- Hypertext gemacht: ‚hyper‘ weil der Text im buchstäblichen Sinne den Text übersteigt, wegweisend weil Sterne die Grenzen eines Mediums durch die implizite und explizite Ausstellung von dessen Bedingungen aufzeigen konnte, indem er den literarischen Text und dessen Regeln aufs äußerste belastete. Das Risiko war natürlich ein kalkuliertes. Sterne war imstande vieles eindrücklich zu zeigen; darunter beispielsweise, dass die Kausalität von Ursache und Wirkung kein Phänomen ist, das man wirklich gewissenhaft sequenziell in einer Erzählung ordnen könnte. ‚Ursachen‘ wirken auf eine zentrale Figur wie Tristram immer von allen Seiten, und für die Darstellung der Wirkungsverhältnisse müsste man drastischer in die Fläche gehen, wenn die Realität auch nur in Ansätzen erfasst werden soll.

Damit hätte man dem eindimensionalen Plotschema ein mindestens zweidimensionales

(12)

12

entgegenzusetzen – Abbildung 2 und Abbildung 3 sind eine erste konsequente Annäherung an eine visuelle Repräsentation eines solchen Gefüges, das jedoch bei weitem nicht die Komplexität von Sternes, im Text angelegten Interdependenzen und Verwebungen der

‚Textur‘ fassen kann. Man erahnt hier bereits die Relevanz dieses Beispiels für einen Bereich der Medien, der später erscheinen wird und in sogenannter ‚Nicht-Linearität‘ diese Komplexität konzeptionell und technologisch erhöhen wird.

Auf leicht verlagerter Ebene lässt sich der entlang des ‚Shandy‘ hier literaturwissenschaftlich geprägte Einstieg wieder auf die Ausgangslage und Voraussetzungen wissenschaftlicher und philosophischer Arbeiten zurückführen, um die es mir am ‚Anfang‘ geht. Um einen Satz von weiter oben erneut aufzurufen: Endlose Gedanken und Nebenschauplätze definieren eine Welt aus Bedingungen, Voraussetzungen, Kontexten, Möglichkeiten bestimmter Darstellungen und Erklärungen in dieser Welt an sich und beachtenswerten Umständen, die letzten Endes dann aber im Dienste einer ‚guten‘ wissenschaftlichen Arbeit zu den Phänomenen und Problemen dieser Welt vernachlässigbar gewesen wären. Doch was bedeutet ‚gut‘ in diesem Zusammenhang und was bedeutete ‚gut‘ im Zusammenhang mit Sternes ‚Shandy‘, der offenbar eine andere Art von ‚gut‘ für die Erzählung im Auge hatte als die meisten Autoren der Zeit?

Aufschlussreich bleibt Sternes zentrales Werk der Literaturgeschichte jedoch nicht nur, wenn es um die Beurteilung des ‚Kampfs‘ mit literarischen, mimetischen Verfahren der Repräsentation an sich geht, sondern auch für die Frage nach den Anfängen und der sie begleitenden Strategien: „Nun muß eine Geschichte, die mit dem Anfang ihre Not hat, nicht weniger beispielhaft sein, wenngleich zu vermuten steht, dass es sich dabei um einen Beispielwert von anderer Natur handelt“, wie Wolfgang Iser einmal das skizzierte lose Ende eines Anfangs in Sternes Werk beurteilte: „Statt die Geschichte in den Dienst einer bestimmten Absicht zu stellen, könnte die Absicht dem Aufdecken dessen dienen, was es mit den Anfängen einer Geschichte auf sich hat.“11 ‚Tristram Shandy‘ definiert so eine implizite (literatur-)theoretische Leistung, die sich erschließt, wenn der Leser einer Einladung folgt, über die Bedingungen von Literatur mit der Literatur selbst nachzudenken.

Auch die Filmtheorie – um ein Beispiel aus einem anderen Kontext heranzuziehen – sprach bisweilen Einladungen dieser Art aus: „Statt in Begriffen, denken sie [die Denker wie Bergson, FF] in Bewegungs- und Zeitbildern“, wie er [Deleuze, FF] einleitend zu seinen Kinobüchern anmerkt und sich natürlich selbst in diese Reihe der Denker stellt.12 Auch jüngere Ansätze der Filmtheorie laden uns ganz im Sinne Deleuzes dazu ein, wieder

„mit dem Film nachzudenken (statt lediglich über ihn)“.13 Diese produktive Art der Reflexion entspricht im Kern der in der Dekonstruktion begründeten Methode, nicht direkt über etwas nachzudenken, sondern den Gegenstand selbst als Medium des Denkens zu erschließen. Dieser Einladung wird hier gefolgt, indem immer mit dem Medium gedacht, wenn über das Medium geschrieben wird.

11 Wolfgang Iser: Laurence Sternes „Tristram Shandy“. Inszenierte Subjektivität, München 1987, S. 11.

12 Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 12.

13 Thomas Elsaesser/Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 20.

(13)

13

2. Über die Ausgangslage medienwissenschaftlicher Projekte

Dies ist eine medienwissenschaftliche Arbeit, demnach verortet in einem Fach, dessen Probleme geradezu konstitutiv und identitätsstiftend sind. Bei der Definition und Eingrenzung des eigenen Objektbereichs haben die problematischen Konfusionen der Medienwissenschaft über ihre umstrittene Mitte – das Medium – bereits begonnen. Beim Bekenntnis zur Medienwissenschaft begibt man sich unausweichlich auf methodisch ungefestigtes Territorium, das durch die Offenheit beziehungsweise Unbestimmtheit des Gegenstands bedingt ist. Da einen Medienwissenschaftler nichts daran hindert, alles Mögliche als Medium zu begreifen und zu definieren, ist das Problem der Medienwissenschaft von mindestens zwei Seiten betrachtbar: Die Wurzel des Problems liegt entweder am Mangel verlässlicher, allgemein gültiger Definitionen oder an der schieren Menge möglicher Definitionen. Dies sind zwei Seiten einer nicht immer glänzenden Medaille. Lorenz Engell unterstellte der Medienwissenschaft einmal eine ausgeprägte Neigung zur ‚Neophilie‘ und erklärte, warum diese sich gern und schnell von den Objekten ablöse und auf diese Weise zu einer Technik der Verfertigung immer neuer Objekte gerät:

Deshalb wird die Medienwissenschaft auch die Unsicherheit darüber, was eigentlich ein Medium ist – diese Frage, die am Anfang der Medienwissenschaft schon immer gestellt wurde und heute munter weiter gestellt wird, diese Frage wird die Medienwissenschaft nach Möglichkeit niemals beantworten. Denn nur solange nicht klar ist, was ein Medium ist, kann sie immer neue, nahezu beliebige Objekte zu Medien erklären. Wenn sie Kriterien angeben müsste, was wann ein Medium ist, wäre diese Möglichkeit stark eingeschränkt. Sie müsste sich verpflichten einen einmal eingeschlagenen Weg auch zu verfolgen. [...] Nur weil sie nicht weiß, was Medien sind, kann sie jeweils aktuelle oder am aktuellen Außenbezug orientierte Vorschläge unterbreiten, was denn jetzt ein Medium sei. [Herv. FF]14

Die Medienwissenschaft, oder besser gesagt die Medienwissenschaften, da es den individuell beschrittenen Wegen der Medienwissenschaftler entsprechend viele gibt, operiert mit vielen (möglichen) Wahrheiten über das Medium oder anders gesagt: mit der Wahrheit über viele mögliche Medien. Insgesamt befindet sich die Wahrheit über das Medium durch diese Pluralform in einem labilen Zustand. Die Medienwissenschaften sind in dieser Weise geprägt von einem Freiheitsversprechen, unter dem die Kreativität selbst einzelner Wissenschaftler leicht globale Krisen heraufbeschwören kann. Während pragmatische Ansätze die Theorien zu den Medien bisweilen nach Konsens und Relevanz ordnen – wie in Abbildung 4 und Abbildung 5 zu sehen –, besteht nicht selten vor allem darüber Konsens, dass sich die Medienwissenschaften selbst als primäres Objekt und eigenen Gegenstand zu verstehen haben. Man therapiert sich dann gegebenenfalls selbst an den eigenen, regelmäßig eben auch krisenhaft in Erscheinung tretenden Problemketten entlang.

14 Es handelt sich bei diesem Zitat um eine Transkription eines Vortrags, gehalten im Rahmen der von Claus Pias an der Universität Wien initiierten Vorlesungsreihe ‚Was waren Medien?‘; Lorenz Engell: „Nach der Zeit“, Vortrag im Rahmen der Veranstaltung Was waren Medien? am Institut für Philosophie der Universität Wien 2006, Audiomitschnitt unter URL:

http://homepage.univie.ac.at/claus.pias/veranstaltungen/06_ws_waswarenmedien.html (19.01.2012).

(14)

14

Abbildung 4: Bedienungsanleitung für ein ‚Basiswissen Medien‘ Rating- System, vorgeschlagen von Hartmut Winkler.15

Abbildung 5: ‚Man ist sich uneins‘ – hilfreicher Index neben Seitenzah- len, hier: S. 13, aus Hartmut Winkler: Basiswissen Medien.16

Wieder andere Strömungen der Medienwissenschaften verbannen auch nur die Idee der Idee solcher Krisen vehement aus ihrer Wissenschaftswelt und besinnen sich beispielsweise auf die ‚Materialität der Medien‘ als scheinbar einzig verlässlicher Wahrheit und damit auf das, was erst kaputt geht, wenn es herunterfällt, und nicht bereits durch einen kritischen Blick in der Existenz bedroht ist. Doch selbst diese Ausprägungen der Medienwissenschaften sind nach außen nur bedingt gegen Identitätskrisen gefeit, da sie die selbst verantworteten Konnotationen einer technikzentrierten Medienwissenschaft17 nur in abgeschlossenen, eigenen Welten vermeintlich harter Fakten und selbst definierter Regeln kontrollieren können. Als geschlossenes System funktionieren diese Welten zumeist am besten, denn sie

‚wackeln‘ im Außenkontakt, wenn der Anschein eigener Objektivität primär über die vermeintliche Objektivität so genannter ‚harter‘ Wissenschaften hergestellt werden soll, um die Medienwissenschaften insgesamt einem diagnostizierten Relativismus der Geisteswis-

15 Hartmut Winkler: Basiswissen Medien, Frankfurt a. M. 2008, S. 9.

16 Ebd.

17 Vgl. hierzu Hartmut Winklers Begriffseinschätzung in: „Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus ‚anthropologische‘ Mediengeschichtsschreibung“, in: Heinz-B. Heller/Matthias Kraus/Thomas Meder/Karl Prümm/Hartmut Winkler (Hrsg.): Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Schriftenreihe der Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaft, Marburg 2000, S. 9-22, URL:

http://wwwcs.uni-paderborn.de/~winkler/technik.html (19.01.2012).

(15)

15

senschaften zu entziehen.18 Sie lassen oft eine explizite Markierung vermissen, die sie als pointiertes, rhetorisches Konstrukt ganz oder teilweise auszeichnet.

Schon in dieser ersten, flüchtigen Annäherung zeichnet sich ab, dass die Konturen der Medienwissenschaft ‚deutlich unscharf‘ sind. So erklärt sich auch der permanente Wechsel vom Singular der ‚Medienwissenschaft‘ in den Plural der ‚Medienwissenschaften‘. Die in der Mannigfaltigkeit des Pluralismus begründete Flexibilität der Medienwissenschaft erscheint jedoch mitunter als größter Vorteil; ein Vorteil, der allerdings seltener der Problemstellung angemessen und konstruktiv genutzt wird. Das bereits angedeutete Überangebot an Mediendefinitionen zeigt eindrücklich, wie ‚wahr‘ und ‚falsch‘ binärer Logiken der Situation nicht angemessen sind. Ein Versuch wie jener Winklers, in dem ebenjenes Beurteilungsschema von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ gegen eine diskrete Skala von Konsens und Relevanz der Positionen und Perspektiven mit jeweils fünf Zuständen ausgetauscht wird, zeigt eine Einsicht in die besondere Situation, die an Bedeutung und Aussagewert für die Medienwissenschaften gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Zudem entspricht Winklers Vorgehensweise viel eher einem Modell aus der Physik als wohl die meisten oberflächlichen Bezugnahmen der technikzentrierten Positionen, denen Winkler als einer der schärfsten Kritiker gelten mag.

Winkler produziert seine Wahrheiten zur und über die Medienwissenschaft auf gut 300 Seiten einer Publikation, die bei einigen thematischen Einträgen bis auf einen einzigen Satz leer bleiben. Pias und Engell schätzen die Relevanz und den Konsens dieser Wahrheiten als weitere Vertreter der Medienwissenschaft ein. Winkler ist in diesem Darstellungsmodus nicht gezwungen, die Positionen anderer Medienwissenschaftler, die er eventuell für ‚falsch‘

halten würde, explizit zu benennen. Besitzt eine der von Winkler produzierten Wahrheiten geringe Relevanz und herrscht darüber wenig Konsens in den Medienwissenschaften, so wird klar, wo sich Winklers Wahrheit in Bezug auf die Medienwissenschaft insgesamt befindet: Seine Wahrheit wird in diesem Fall wohl eher ‚falsch‘ sein, denn die Medienwis- senschaft ist die Instanz, die letztendlich eine kompetente Einschätzung liefern sollte. Dies ist aber vermutlich nicht der Fall, und so erklärt sich dann wiederum Winklers gewählte Darstellung für ein ‚Basiswissen Medien‘, für die richtig und falsch nun nicht mehr relevant sind.

Zwischenzeitig liegt kaum ein aufrichtigeres Selbstbekenntnis in der philosophischen Interpretation von Medienwissenschaft vor, das eine andere, eventuell neue Logik explizit fordern würde. Die Logik ist in diesem Fall eine Spiellogik basierend auf Spielregeln, die ein Spiel zwischen Winkler, Pias und Engell konstituieren. Die Einladung zum Spiel gilt allen, die dafür bereit sind. Das ‚Basiswissen Medien‘ nach Winkler wendet sich mit den vorgeschlagenen ‚Indikatorstäbchen‘ auf geschickte Weise gleich Richtung ‚Kontinuum‘, das indirekt Urteile über ‚wahr‘ und ‚falsch‘ zulassen mag.

Es herrscht hier bei aller Komplexität der Bezugnahmen dieses Versuchsaufbaus ein vergleichsweise klarer Blick auf die Voraussetzungen und Vorbedingungen der Medienwis- senschaft. Diese Sichtweise wird durch einen Vortrag Winklers untermauert, der eine wertvolle Perspektive für den künftigen Fahrplan der Medienwissenschaften (im Plural) vorschlägt und im Rahmen einer Tagung, im Zeichen der mit verhaltenem Antwortopti- mismus gestellten Frage ‚Was ist ein Medium?‘, gehalten wurde:

18 Die nur vermeintlich nüchternen technikzentrierten Positionen unterhalten ein häufig schon beinahe romantisches Verhältnis zu den Theoriewelten der Physik und Mathematik. In einer ‚Formel-Erotik‘ schlägt die von Engell diagnostizierte ‚Neophilie‘ der Medienwissenschaften in ‚Xenophilie‘ um.

(16)

16

Ich glaube, dass es zwei grundsätzliche Arten gibt, diese Konferenz zu verstehen. […] Entweder als eine Konkurrenz um Mediendefinitionen. Das fände ich sehr unfruchtbar. Ich fände es schlecht, wenn hier jeder aufträte mit einer Mediendefinition und wir dann am Schluss die beste wählen würden. […] Die zweite fruchtbarere Alternative wäre glaube ich Perspektiven zu beschreiben und Beiträge zu einer halluzinierten, kumulativen Mediendefinition zu machen. In den Perspektiven werden natürlich drastische Unterschiede deutlich, das ist völlig klar, das ist die Pointe dieser Geschich- te. Und die Perspektiven sind nicht aufaddierbar, das ist klar, aber das ist ein anderes Selbstverständ- nis. Diese Perspektiven würden sich von der ersten Variante dadurch unterscheiden, dass sie die eigene Reichweite mitreflektieren, also sagen, inwieweit sie Perspektive sind, oder welchen Raum sie gut beschreiben, oder welchen zweiten Raum sie möglicherweise gar nicht gut beschreiben. Und ich glaube je perspektivischer sich eine solche Definition versteht, desto anschlussfähiger wird sie dadurch und desto weniger usurpatorisch. Eine technische Definition wird sicher andere Bereiche gut beschreiben als andere Typen von Definitionen. Die ersten beiden Vorträge [von Lorenz Engell und Natascha Adamowsky, FF], die wir gehört haben, sehe ich als sehr tastend an und deshalb sehr anschlussfähig. Also sehr vorsichtig in ihrem Gestus und sehr experimentell.

Sie vermeiden eigentlich die Alternative, die ich vorher halluziniert hatte auf eine fruchtbare Weise. [Herv. FF]19

Entwickelte Perspektiven bleiben individuell und beweisen sich darin, wie nützlich und fruchtbar sie für bestimmte Perspektivierungen sind. Als ‚individuell‘ können sie aber auch in Bezug auf den Medienwissenschaftler gelten, der sie verantwortet: Entwickelte Perspekti- ven sollten besonders für den eigenen Weg zunächst Relevanz besitzen, selbst wenn dieser zunächst in einem weitgehend geschlossenen System ohne Außenkontakt verläuft.

Winklers Aufruf, in den Medienwissenschaften Perspektiven aufzuzeigen, die zu einer

„halluzinierten, kumulativen Mediendefinition“ beitragen, sollte nicht am Mangel

‚individueller‘ Beiträge scheitern, die sich ganz offensichtlich der Schaffung von Perspektiven verpflichten. Das bereits bestehende Angebot umfasst eine Vielzahl an

‚Einführungen in die Medienwissenschaft‘20, darüber hinaus Aufsätze und Bücher, die gleich im Titel oder Untertitel nach der Nomenklatur ‚Perspektiven einer _____‘ ihren

‚perspektivierenden‘ Charakter zur Schau stellen.21 Dabei ist nicht immer ohne weiteres entscheidbar, ob dies alles Zeichen von Aufbruchstimmung oder Orientierungslosigkeit sind. Die reine Summe an Perspektiven kann zur Perspektivlosigkeit geraten, wenn nicht ein Selbstverständnis wirkt, wie es beispielsweise Winklers Aufforderung zum Gesin- nungswechsel beinhaltet. Winkler spricht hier auch von einem „Assoziationsraum rund um die Medien“, den es möglichst weit offen zu halten gilt: „Medien sind ein äußerst suggestiver Gegenstand, voll von Widersprüchen, Einzelfällen und Kuriositäten“.22

Die Pointe von Winklers Vorschlag erkennen wir vorerst zusammenfassend in einer Aufwertung der Autonomie einzelner Perspektiven und Beiträge, die scheinbar nach und nach das

19 Hartmut Winkler: „Zeichenmaschinen oder warum eine semiotische Dimension für die Medien unerlässlich ist“, Vortrag gehalten im Rahmen der Tagung Was ist ein Medium? 2005; unter URL:

http://www.formatlabor.net/Mediendiskurs/ (19.01.2012) ist der Vortrag als Audio und Video abrufbar.

20 Vgl. zur Übersicht die Sammelrezension (Stand 2005) von Sven Grampp/Jörg Seifert: „Die Ordnungen der Medientheorien. Eine Einführung in die Einführungsliteratur“, in: literaturkritik.de, Nr. 10, Oktober 2004, URL: www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=7502&ausgabe=200410 (19.01.2012).

21 Im Englischen lautet die Entsprechung hierzu meistens ‚Toward(s) a(n) _____‘. Einen empirischen Nachweis in Form einer Liste liefere ich hier nicht. Man stolpert selbst über diese Beiträge, auch im Verlauf der vorliegenden Arbeit, wo an jeweils passender Stelle auch meine eigenen Einschätzungen zu den jeweiligen Leistungen deutlich werden. Ansonsten verstehe ich diesen Hinweis nur als Symptom und keineswegs als generalisierende Wertung über die Qualität der Beiträge.

22 Winkler: Basiswissen Medien, S. 10.

(17)

17

gesamte Feld in einer Art ‚Iteration‘ definieren werden, sobald sie das Feld nach und nach mit allen potenziell möglichen Beschreibungen füllen. Die Hoffnung liegt demnach in der sprichwörtlich überlieferten Vermutung des Aristoteles, das Ganze sei doch mehr als die Summe seiner Teile.23 Jeder einzelne Beitrag, jede Theorie sollte dabei den Assoziations- raum nicht verstellen, denn „gute Theorie sollte neugierig machen“. In der Verstellung des Assoziationsraums droht, wie Winkler weiter sagt, „ein Bescheidwissen, das dem Gegenstand völlig unangemessen und in jedem Fall illusorisch wäre“.24

Spürt man in Winklers einleitenden Ausführungen zur Formierung einer ‚kumulativen Mediendefinition‘ auf der Tagung zur Frage ‚Was ist ein Medium?‘ noch deutlich, wie dies offenbar das Geschäft der Medienwissenschaft insgesamt definieren kann, so relativiert sich dieser Eindruck im gehaltenen Vortrag selbst etwas, wenn Winkler zum ‚Verwalter der Kumulation‘ wird. Ein Strukturvorschlag liegt im Vortrag selbst und einem Beitrag

‚Mediendefinition‘ vor:

Was ist denn nun eigentlich ein Medium? In den Grundkursen der Medienwissenschaft taucht immer wieder das Bedürfnis auf, den Medienbegriff – wie vorläufig auch immer – zu definieren und die Sphäre der Medien gegenüber anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen abzugren- zen.

Da es eine bündige Antwort auf diese Frage nicht gibt, soll im Folgenden eine kumulative Definition vorgeschlagen werden, die erst in der Aufschichtung verschiedener Perspektiven – kumulativ eben – Sinn macht. Da die einzelnen Bestimmungen unterschiedlichen Theorie- Kontexten entstammen, sind sie notwendig inkohärent; und jede Definition verweist auf weitere Begriffe, die genauso strittig und definitionsbedürftig erscheinen wie der Medienbegriff selbst.

Dies ist nicht Defekt, sondern zeigt an, dass der Medienbegriff vielfältige innere Spannungen enthält. Die Definition verläuft über 6 Basisthesen, die dann erläutert und ausgebaut werden:

[…]25

Winklers Beitrag ‚Mediendefinitionen‘ nimmt die grundlegende Struktur seines vier Jahre später erscheinenden ‚Basiswissen Medien‘ in gewisser Weise vorweg, jedoch auf eine radikale Art, die fast schon verstört. Winklers ursprünglich gewählte Methode ist auf eine positive und eine negative Weise deutbar: Die negative Deutung sieht in seinem Strukturvorschlag einer Mediendefinition schlicht die Absage an das selbst vorgeschlagene, gemeinschaftliche Programm der Medienwissenschaft, nämlich eine gemeinsam halluzinierte, kumulative Mediendefinition anzuvisieren. Die positive Deutung sieht in Winklers Versuch die beispielhaft radikale Affirmation der Unbestimmtheit einer Medienwissenschaft als Programm jedes Einzelnen und der Modelle, die jeder Einzelne vorschlagen mag. Radikal ist Winklers Versuch auch deswegen, weil bei ihm das skizzierte Mediendefinitionsfeld nicht von einzelnen, von ihm benannten Autoren getragen wird. Sein Strukturvorschlag selektiert und stellt nebeneinander zur Schau. Winkler verzichtet in jeder einzelnen These, in jedem

23 Als verkürztes Zitat aus Aristoteles Metaphysik Buch VII 10, in dieser Form aber durch sekundäre Quellen überliefert. An besagter Stelle bei Aristoteles wird gerne diskutiert, ob es in der Übersetzung heißt ‚mehr als das Ganze‘ oder ‚anders als das Ganze‘. Beide Übersetzungsmöglichkeiten sind für die Hoffnungen der Medienwissenschaft interessant und relevant. „Dasjenige, was so zusammengesetzt (sýnholon) ist, daß das Ganze eins ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist noch etwas anderes außer den Elementen“, Aristoteles: Metaphysik, übersetzt v. Hermann Bonitz (ed. Wellmann), Reinbek bei Hamburg 1994, S. 217; vgl.

aber auch die von Laotse überlieferte Version „Die Summe der Teile ist nicht das Ganze“.

24 Winkler: Basiswissen Medien, S. 10.

25 Hartmut Winkler: „Mediendefinition“, in: Medienwissenschaft, Nr. 1/2004, URL: http://wwwcs.uni- paderborn.de/~winkler/medidef.html (19.01.2012).

(18)

18

Einzelfall auf die Zuordnung zu bestehenden Positionen und Perspektiven im Sinne von Autoren und Quellen – ein Verfahren, das in den von ihm benannten „Grundkursen der Medienwissenschaft“ sicherlich positive und negative Reaktionen zugleich provozieren wird. Im ‚Basiswissen Medien‘ wird er diesen Kurs spürbar korrigieren, ohne große Einbußen für einen ernsthaften und auch ernstzunehmenden ‚Primärtext‘.

Auch weniger radikal verwandelt als in diesem Beispiel, muss sich ein gewählter Weg, bestimmt durch die eigene Perspektive als quasi autonomer Beitrag, früh einer Prüfung auf eigene Konsistenz aussetzen, die – sei er auch noch so tastend – einer definierten Logik folgen mag, die jedoch nicht unbedingt binär zu sein hat.26 Dies ist völlig unabhängig von einer Konsistenz im Gesamtgefüge, beispielsweise der Medienwissenschaften. Auch dies kann man aus Winklers ‚Programm‘ lernen. Die jeweils eigenen Anliegen und Zweckorien- tierungen sind dabei stets kritisch zu befragen, denn auch hier können wir Winklers Forderung folgen, nach der die vorgeschlagenen Perspektiven die eigene Reichweite notwendigerweise stets mitzureflektieren haben – die Perspektive ganz im Sinne der ursprünglichen Bedeutung durchschauen.

Die (v.a. deutsche) Medienwissenschaft steht immer auch im Erbe der Dekonstruktion, in dem es keine allgemein akzeptierbaren Konzepte mehr geben kann. Die Situation der Geisteswissenschaften in diesem Erbe zwischen Erblast und Befreiung durch die Dekonstruktion in einem allgemeinerem Verständnis beschrieb Iser treffsicher in einem Beitrag, der in erwähnter Nomenklatur der Titel – ‚Towards a Literary Anthropology‘ – bereits das Richtungssignal setzt: „[…] perhaps after Deconstruction there can be no more generally acceptable concepts, so that all different approaches must be allowed free rein and the text – as something naturally given – must be continually related to situational requirements.“ So ist der (damals) neue Pluralismus oder ‚neue Pragmatismus‘ aus einer Beurteilung der Literaturtheorie und ihrer Voraussetzungen im Jahre 1989 markiert.27 Glaubt man Isers hier stellvertretend angeführter Meinung, es könne nach der Dekonstruk- tion keine allgemein akzeptierbaren Konzepte mehr geben, so bedeutet dies für die Methoden zunächst kaum mehr, als dass ein Wissenschaftler ein Problem plausibel aus sich und der gewählten Umgebung, aus der Situation heraus zu entwickeln hat. Er hat seine Welt

26 Vor allem im Kontext der Medienwissenschaft müssen allerdings auch jene Textstrategien erwähnt werden, die durch fehlende Konsistenz im System der eigenen Logik eine besondere Form der ‚Multiperspektive‘

entwickeln. Gerade durch Vieldeutigkeiten schwer zugängige und interpretierbare Texte können eine hohe Lebensdauer und andauernde Attraktivität besitzen.

27 Wolfgang Iser: „Towards a Literary Anthropology“, in: Ralph Cohen (Hrsg.): The Future of Literary Theory, London u.a. 1989, S. 209. Als Randbemerkungen zu den ‚Perspektiven schaffenden‘ Beiträgen: Manch einer mag sich noch mit Schrecken an einen späteren Fall erinnern, einen Beitrag ‚Transgressing the Boundaries. Toward a transformative Hermeneutics of Quantum Gravity‘ in der Zeitschrift Social Text 46/47, Frühjahr/Sommer 1996, der ebenfalls der identifizierten Titelformel folgen sollte. 1996 zog ein theoretischer Physiker aus, um den Geisteswissenschaften und den Kreationen ihrer ‚postmodernen‘ Autoren den Spiegel vorzuhalten. Was diesem Beitrag Alan Sokals als sekundärer Skandal nacheilte, betraf nicht nur den eventuellen Schlag gegen die Kommunikationsbereitschaft zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, sondern besonders die unreflektierte Darstellung des objektiven Wahrheitsanspruchs einer Physik in einem fragwürdig

selbstgefälligen Experiment, das die eigene Reichweite selbst leider nicht ausreichend mitreflektierte, sondern nur den Praktiken folgte, die der Beitrag selbst freilich mit einiger Berechtigung kritisieren wollte. Ein beispielhafter Beitrag, der die kritikwürdigen Praktiken durch seine eigene bestätigte. Wie im Falle Iser gibt es jedoch positive Fälle, die nicht zu einer vergleichbaren Fahrt in die Sackgasse einladen und die sich bemühen echte Perspektiven aufzuzeigen. Zwischen diesen Extremen stehen Beiträge mit zweifelhaftem visionären Gestus, die sich im Feld lediglich seherisch zu positionieren versuchen, den eigenen Änderungsdrang primär ausstellen, ohne das Ziel, ihn jemals selbst für eine Umsetzung in der eigenen Arbeit in Erwägung zu ziehen.

(19)

19

für theoretisches oder theoretisierendes ‚Probehandeln‘ zu präparieren. Die situationsbe- dingten Voraussetzungen („situational requirements“) werden so durch die Einhaltung ermittelter Regeln berücksichtigt, die unter den jeweiligen ‚Umweltbedingungen‘ gelten. Die Umwelt – das sind in diesem Fall unter anderem die Gegenstände und die Methoden zusammen – ist dabei weitestgehend frei wählbar und in besonderer Weise gerade nicht naturgegeben. Diese belastende Freiheit prägt eine Medienwissenschaft, die nun auch die unbequemen Lasten einer begleitenden Unschärfe und Unverbindlichkeit zu tragen hat. In dieser Umwelt wachsen jedoch neue Aufgaben und Chancen.

Für Iser war die Praxis der Literaturtheorie längst fragwürdig geworden und er kritisierte Anfang der 1990er zunehmend die dominante Suche nach Interpretationsmethoden, die so genanntes ‚modelbuilding‘ zum Tagesgeschäft machte:

The criticism leveled against theory cannot be met either through the innovative claims of the individual methods or through their occasional pretensions to universality, for no matter how new or how comprehensive they may be, or claim to be, they all depend ultimately on the existing text for confirmation of their claims.28

Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Praxis ist oft weniger die konkrete Fragestellung, für die Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Es wird häufig die Forschungslandschaft nach schon vorhandenen Lösungen abgesucht, an die die eigenen Fragen im Anschluss anzupassen wären. Es kommt demnach zu einer Verkehrung, die nicht vertretbar erscheint – in einem schon beinah ‚ethischen‘ Verständnis. Die böse Variante dieses Szenarios drückt sich in einer Missachtung des Gegenstands selbst aus, wenn die Gegenstände ‚nur noch‘ die Modelle selbst bestätigen und sich der Wissenschaftler längst damit zufrieden gegeben hat, solange es im persönlichen Falle eben passt und die Rechnung aufgeht. In diese Richtung zielt Isers Kritik, wenn er erkennt, dass zumeist die vorgegebene Lösung schon der Text als Gegenstand an sich ist, und der Text im extremsten Fall auch noch die Frage formuliert, die gleichermaßen anzupassen wäre, um die Theorie zu bestätigen. Da ein bestehender, statischer Text jedoch nur in den seltensten Fällen ‚umschreibbar‘ ist, werden immer andere Texte gesucht, um die Theorie und die durch sie ermöglichten Interpretationen zu legitimieren.29 Demgegenüber steht der Universalitätsanspruch von Modellen, der der Situation eigentlich noch unangemessener scheint, wonach der erste Zugang fast schon das kleinere Übel darstellen könnte, gäbe es eben nicht die merkwürdige und wissenschaftlich geradezu unseriöse Verkehrung bestehender Wirkungsverhältnisse, in denen das Modell bereits vor dem Problem besteht.

Die erste Stufe von Isers Kritik hin zur literarischen Anthropologie lag zum Zeitpunkt der eingeleiteten ‚anthropologischen Wende‘ schon einige Jahre zurück. Zunächst ging es darum zu zeigen, wie ein Text von sich aus nicht als statisch zu begreifen ist, sondern geradezu kommunikatives Produkt von Situationsvoraussetzungen im ‚Akt des Lesens‘.30 Doch dieses Programm war für die ‚Gegenseite‘ missverständlich und verführerisch, und Isers aufgezeigte Wegrichtung verkehrte sich bisweilen ins genaue Gegenteil des ursprünglichen Anliegens: Die bestimmte Unbestimmtheit (die berüchtigte Leerstelle) eines

28 Iser: „Towards a Literary Anthropology“, S. 208f.

29 Widmet man sich beispielsweise dem Werk eines einzigen Autors, so wird ein bereits verstorbener Autor stets einem zeitgenössischen, noch lebenden Autor zu bevorzugen sein, da das eigene Theoriewerk nicht Gefahr läuft, in einer etwaigen Neuveröffentlichung des beobachteten Autors unerwünschten Überraschun- gen und Wendungen zu begegnen.

30 Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 41994 (11976).

(20)

20

literarischen Texts konnte zum Ausdruck einer noch stärkeren Variabilität des Texts werden, die für die Modellbestätigungspraxis gut genutzt werden konnte, die ja im eigentlich Sinne unter Kritik stand. Dies war klar die falsche Wirkungsrichtung der thematisierten Unbestimmtheit. Iser formulierte seine präsentierten Ansätze für eine literarische Anthropologie neu und in einer Weise radikal, die es für die ‚Gegenseite‘ fast unmöglich machen sollte, sie für die eigenen Anliegen zu nutzen. Dieser Schritt fiel weit hinter die Popularität des vorigen Modells zurück, auch wenn man die Wichtigkeit der neuen Ausrichtung oft akzeptieren konnte.

Die literarische Anthropologie hat (mindestens) eine entscheidende Pointe: Sie setzt den Menschen zu seinem jeweiligen Gegenstand in Beziehung und bestimmt in diesem Verhältnis den Zweck des Gegenstands genauso wie den Zweck der wissenschaftlichen Untersuchung selbst, in der ebenfalls der Mensch (dieses Mal nicht der Leser, sondern der Literaturwissenschaftler) in Bezug zum Gegenstand ‚literarischer Text‘ gesetzt wird. Dies gilt auch für andere ‚Anthropologien‘, die sich an einen bestimmten Gegenstand oder Gegenstandsbereich heften wie beispielsweise die sogenannte ‚Bild-Anthropologie‘.31 Die Frage, was ‚Medienanthropologie‘ im erweiterten oder gar übergeordneten Verständnis konstituieren könnte, besitzt aufgrund des impliziten Generalisierungsanspruchs nur wenig Grundlage.

Wichtig bleibt bei dem gerade auch historisch wichtigen Beispiel der literarischen Anthropologie,32 dass Iser im Aufkommen neuer Medien auf einen automatischen Trendwechsel hoffte: „There are also trends towards breaking the confines of the literary text and extending insights gained from literature and art to the media at large.“33 Literatur als Medium verstanden, so Iser, lässt auf die Bedürfnisse schließen, auf die das Medium selbst reagiert. Hier wird deutlich, dass wir es mit Systemen zu tun haben, deren Komponenten sich gegenseitig bedingen und die jeweils nicht (ohne weiteres, gegebenen- falls nur zeitweise modellhaft) isolierbar sind – keineswegs für die Zwecke der Analyse als Praxis, die das Verhältnis zwischen Nutzer (Leser, Zuschauer, Mensch etc.) und Medium überhaupt erst als Gegenstand vollends akzeptieren müsste. Wir erkennen hier auch, dass die literarische Anthropologie von vorherein als Medientheorie angelegt ist – bei aller Gegenstandstreue zur Literatur, die gerade bei Iser stets im Mittelpunkt steht.34

Von besonderem Interesse ist in der literarischen Anthropologie Isers das Spiel. Ein direkter Brückenschlag zum Kernthema meiner Arbeit auf reiner Basis des Begriffs ist aber unbedingt zu vermeiden. Im hier zitierten, wegweisenden Aufsatz ‚Towards a Literary Anthropology‘ ist die Relevanz des Spiels als Grundlage von Isers literarischer Anthropologie bereits angedeutet, allerdings noch nicht entwickelt. Zunächst besteht für Iser die Hoffnung, dass sich die Ausrichtung der Literaturtheorie automatisch ändert, wenn die Zeichenfunktion des Mediums in den Fokus rückt:

31 Begründet vor allem durch die Arbeit Hans Beltings, in dieser Form zuerst in: Hans Belting: Bild- Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.

32 Ich werde aufgrund des weit über den Gegenstandsbereich ‚Literatur‘ erwiesenen Wert der literarischen Anthropologie immer auf ihre Konzepte zurückgreifen, auch wenn dies nicht immer explizit thematisiert werden wird.

33 Iser: „Towards a Literary Anthropology“, S. 209.

34 Auch Isers gesteigertes Interesse an Sternes ‚Tristram Shandy‘ und dessen bereits geschilderten

Verstrickungen, Verwebungen und Abhängigkeiten ist unter diesem Licht verständlich. Iser widmete ihm das bereits zitierte Buch: Iser: Laurence Sternes „Tristram Shandy“. Inszenierte Subjektivität.

(21)

21

In addressing itself to this issue [literature as a medium is also indicative of the needs to which it responds, FF], literary theory is bound to change direction. Instead of providing a matrix for modelbuilding, it has to explore the sign-function of the medium, thus turning the text into a reflection of the needs in question.35

In direktem Zusammenhang mit der Frage nach dem Medium im Allgemeinen zeichnet sich wieder die Frage ab, ob und inwiefern das ‚Modell‘ nun ein existierendes Problem adressiert oder nur vorrangig sich selbst? An dieser Basisfrage haben sich Modelle zu messen – und auch die eigene Arbeit muss sich die Frage stellen, inwiefern ein Problem oder ihre Problemstellung erst aus dem Modell erwächst, das sie thematisiert. So könnte die Idee des ‚Mediums‘ erst Probleme erzeugen und nicht behandeln. Diese Frage nach einem pragmatischen Nutzen der Theorie wird immer wieder gestellt werden müssen.

Angesichts dieser Fragestellungen lohnt es sich, einen weiteren Schritt zurückzugehen und die Frage noch allgemeiner nach dem Verhältnis von Fragen und Antworten zu stellen.

Dies in der Hoffnung, dass sich an der vereinfachten Basis (Frage und Antwort) auch die Basisfragen weniger verstrickt präsentieren. Dies bedeutet auch die Rückkehr zu jenen Fragen, denen man sich am Anfang eines Projekts unweigerlich zu stellen hat: Was ist die Frage und was wird die Antwort vermutlich sein? Vor Verstrickungen löst man sich hier aber weiterhin nur schwer, denn Antworten scheinen häufig vor den Fragen zu existieren, was die kausale Richtung (Antwort folgt auf Frage) selbst in Frage stellt – ein Umstand, der zurück zu Isers Problem des ‚Gegenstandsmissbrauchs‘ zum reinen Zwecke der Modellbestätigung führt. Oder wie der herausragende Spieltheoretiker Bateson sich und der Wissenschaft im Rückblick auf die eigene Theoriearbeit zum Double Bind in wissenschafts- kritischem Gestus eingestand: „Sometimes – often in science and always in art – one does not know what the problems were till after they have been solved.“36

Mit steigendem Anspruch an die Anforderungen (medien-)wissenschaftlicher Arbeit sinken, so scheint es, die Ansprüche und minimalen Kriterien an einen Erfolg stetig. Und die traurig gestimmte Grundeinschätzung beginnt erst: Sollte man es gegebenenfalls mit Fragen zu tun haben, die niemand außer einem selbst gestellt hat, dann sollten die Fragen wenigstens mit den Antworten korrespondieren, die präsentiert werden. Dies beschreibt das minimale Maß an geforderter Selbstreflexion. Als wesentlich erscheint im Anschluss daran nur noch das, was zwischen Frage und möglicher Antwort liegt – dies wäre der Weg selbst und das, was dem Weg die Richtung weist, in gewisser Weise die Perspektive. Die Richtung des Weges, die Kausalität zwischen Frage und Antwort, Ursache und Wirkung selbst bewegt sich zwischen beliebig und unbestimmbar – eine für diese Arbeit zentrale Behauptung, die in ihrem Verlauf zunehmend Fahrt aufnehmen wird, wenn der Versuch einer diesbezüglich konstruktiven Wendung unternommen wird.

Die Wahl des Weges durch die Medienwissenschaften selbst und die Betrachtung der bestimmten Voraussetzungen scheinen in den Medienwissenschaften jedenfalls eine wichtige Rolle zu spielen – und keineswegs nur dort als Ausnahme, wie auch das Beispiel aus der Literaturwissenschaft verdeutlichen mag. Einer Beweisführung entspricht dies nicht, doch auf dem Weg dieser Arbeit werden weitere Fälle und Beispiele diesen Eindruck

35 Iser: „Towards a Literary Anthropology“, S. 209.

36 Gregory Bateson: „Double Bind“, in: ders.: Steps to an Ecology of Mind, Chicago 2000, S. 271-278: 271. Der Kurzschluss mit der Kunst ist bemerkenswert und er soll hier wie bei Bateson selbst unkommentiert bestehen.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Mit diesen Konstruktionen, denen heute im Betoneisenhochbau die größte Rolle zugefallen ist, wollen wir uns ausführlich befassen. Es sei zunächst der Vorgang charakterisiert, wie er

spruchung als Querkonstruktion zwischen den Rippen rechnet und diese Dicke d dann bei der Biegung der Rippe in Rechnuug zieht. die Rippendistanz, oder auch nur 3 der Spannweite

Das obige Beispiel läßt schon das Ziel erkennen, zu dem diese "Theorie führt: Zwischen Rippe und Platte eine solche Übergangskurve einzuschalten, daß die ganze Rippendistanz

durch die Arbeiten des „Gewölbe-Ausschusses“ seinerzeit so vortreffliche Grundlagen für die statische Berechnung von Gewölben geliefert hat, nicht auch, endlich auf dem Gebiete

[r]

Nur wenn die zulässigen Inanspruchnahmen in einem solchen Verhältnisse stehen, daß 417 <a <?, ist eine Konstruktion mit noch weniger Eisen als ad d) durchführbar (bei

"Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, dass sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, dass es nicht mehr bloß die

French People Rally to Support Black Lives Matter Protests, Demand Justice for Adama Traoré More than 20.000 people took the streets of Paris, France, to support Black Lives