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Spielsituation 5 (idealisiert) Boss-Fight, beliebiges Spiel

V. Kontrollmechanismen und epistemischer Zugriff

1. Etablierte Kontrollsysteme I: Wissenschaft

In Kapitel IV wurde eingangs die Frage gestellt, wer letztendlich ‚wahrheitsgetreu‘ darüber entscheiden mag, was zum Spiel verbindlich gehört und was nicht, was gegebenenfalls einer Untersuchung lohnt und was nicht. Diagnostiziert wurde im weiteren Verlauf ein geradezu identitätsstiftendes Unvermögen der game studies, sich in einer homogenen Ausrichtung aufzustellen. Die Wege der Forschung sind aussichtsreicher, wenn sie das Spiel und damit das Ziel von vielen Seiten versuchen zu erreichen. Was bedeutet dies für vermittelbare Ergebnisse der Spielforschung, welcher Begriff von ‚Wahrheit‘ wäre einem solchen Erkenntnisprozess zuzuordnen.

Wahrheit ist hier stets relativ zu anderen zu messen, womit es einzelnen Forschungspositi-onen maximal um die erfolgreiche Etablierung von Wahrheiten innerhalb bestimmter Gruppen gehen kann. Je größer und dominanter diese Gruppen werden, desto stärker definieren sie auch die geltenden Wahrheiten der game studies im Gesamtbild. Je weniger Gruppen es gibt, desto weniger geht es um Wahrheiten im Plural bis hin zu einer gefestigten disziplinären Identität, in der innerhalb eines gewissen Spielraums Homogenität der Meinungen (oder Wahrheit) herrscht. Eine einzige Wahrheit zu kontrollieren ist meist das definierte Ziel, das auch wissenschaftspolitisch Sinn macht. Philosophisch betrachtet kann dies kein Ziel sein, wie in Kapitel II erklärt worden war.

Die so bezeichneten Regeln der ‚Kontrolle von Wahrheiten‘ gelten dabei über die game studies hinaus für die Wissenschaften insgesamt. Für die Etablierung von Wahrheiten muss man jene Prozesse kontrollieren, die zur Herstellung von ‚Wahrheit‘ dienen. Dazu gehört die Einwirkung auf Fachbereiche einer Universität genauso, wie die zur richtigen Zeit und am richtigen Ort publizierte wissenschaftliche Arbeit. Unser Verhältnis zur Wahrheit erschließt sich über die Kontrolle sogenannter ‚objektiver‘ Tatsachen in den Wissenschaften.

Doch wer kontrolliert was in den Wissenschaften? Wer kennt die Regeln, wer macht sie gegebenenfalls und setzt sie ein? Wer kontrolliert beispielsweise die Regeln der Natur? Sind diese Regeln naturgegeben und identisch mit jenen, die in den Naturwissenschaften gelten, sobald sie entdeckt wurden?

Auch wenn es erneut weniger danach aussehen mag, so bringen uns Fragen dieser Art zunehmend auf die Spur eines sinnvollen Spielverständnisses, und mehr noch: zu einem sinnvollen Spielbegriff. Dieser orientiert sich allerdings weniger stark am Begriff der

‚Regel‘, wie man nach den letzten Sätzen vielleicht hätte vermuten könnte. Es geht vielmehr um den Begriff der ‚Kontrolle‘, der noch vor den Regeln selber steht. Sobald wir den Begriff der Kontrolle aufwerten, wandern wir wieder in ein Spannungsfeld zwischen anthropologischen und technikzentrierten Ansätzen unserer Gegenstandsbetrachtungen:

Während (weitgehend bestimmbare) Regeln eine Nähe zur Technik suggerieren, bringt uns der Begriff der Kontrolle demjenigen näher, der eben Kontrolle ausübt und spielt – dies ist im seltensten Fall die Technik selbst.

Das vorige Kapitel hat gezeigt, wie sich die Unbestimmbarkeit im Sinne ontologischer Festschreibungen des Gegenstands auch durch den Einsatz der Instrumente unserer Beobachtung und Untersuchung erklären lässt. Mit diesen Instrumenten wird die Form des Gegenstands unaufhörlich transformiert und kontrolliert in der wissenschaftlichen Praxis.

Die begriffliche Nähe zu den Naturwissenschaften sei noch ein wenig ausgebaut: Der

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Ausgang eines Experiments wird auf bestimmte Weise durch die Art unserer ‚Messung‘

beeinflusst. Dieses ‚Messproblem‘ konfrontiert den Forscher mit seiner eigenen Rolle, die er in der Versuchsanordnung spielt: Seine Beobachtung ist teilnehmend.

Im Verweis auf die Naturwissenschaften verbirgt sich mehr als nur reine Metaphorik, denn auch sie plagen Probleme dieser Art – in der ‚harten‘, als überaus objektiv angenommenen Physik beispielsweise spätestens seit es die Quantentheorie gibt. Werner Heisenberg skizzierte das Problem aus den Naturwissenschaften heraus, unterstreicht dadurch aber implizit die Parallelen zu den Human- und Geisteswissenschaften, die hier weiterhin primär im Blickfeld bleiben:

Die Frage, ob diese Teilchen ‚an sich‘ in Raum und Zeit existieren, kann in dieser Form also nicht mehr gestellt werden [ontologisches Problem, FF], da wir stets nur über die Vorgänge sprechen können, die sich abspielen, wenn durch die Wechselwirkung des Elementarteilchens mit irgendwelchen anderen physikalischen Systemen, z. B. den Meßapparaten, das Verhalten des Teilchens erschlossen werden soll. Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementar-teilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt, nicht in den Nebel irgendeiner neuen, unklaren oder noch unverstandenen Wirklichkeitsvorstellung, sondern in die durchsich-tige Klarheit einer Mathematik, die nicht mehr das Verhalten des Elementarteilchens, sondern unsere Kenntnis dieses Verhaltens darstellt. Der Atomphysiker hat sich damit abfinden müssen, daß seine Wissenschaft nur ein Glied ist in der endlosen Kette der Auseinandersetzungen des Menschen mit der Natur, daß sie aber nicht einfach von der Natur ‚an sich‘ sprechen kann. Die Natur-wissenschaft setzt den Menschen immer schon voraus, und wir müssen uns, wie BOHR es ausgedrückt hat, dessen bewußt werden, daß wir nichts nur Zuschauer, sondern stets auch Mitspielende im Schauspiel des Lebens sind.233

Heisenberg aktiviert hier zwar die Spielmetapher, dies stellt jedoch nicht den Grund des Zitats dar. Nehmen wir zunächst das Verhältnis zwischen Natur und Mensch in den Naturwissenschaften genauer in Augenschein und fragen gerade hier noch einmal explizit nach den geltenden ‚objektiven‘ Tatsachen, den Wahrheiten und der einen Wahrheit:

Die Physik konnte vor allem durch ihre fortschreitende mathematische Fundierung in ihrer historischen Entwicklung den Anschein von nicht-spekulativer Objektivität wie keine andere Wissenschaft entwickeln. Die erfolgreiche Verfolgung der einen Wahrheit der unbelebten Natur, ihrer Regeln und Gesetze, machte sie in der Neuzeit zur Wissenschaft par excellence. Umso heftiger kam Anfang des 20. Jahrhunderts dann der Schock in den eigenen Reihen an, als die Interpretation der Quantenphänomene in der Atomphysik die Wirklichkeit der physikalischen, mathematischen Modelle über die Wirklichkeit der Natur setzte.234 Heisenberg schreibt aus dieser Situation heraus. Empfindlich war nun auch in der Physik die Unterscheidung zwischen der einen Realität der Natur und der Realität der Physik als Methode, die die Realität der Natur in Modellen beschreibt. Auch die Realität der Physik verweist zuallererst auf die Realität ihrer Physiker, die die Effektivität ihrer Modelle nicht an einem universellen Wahrheitsanspruch zu messen haben, der ohnehin historischen Wandlungen unterliegt. Doch dies hätte die moderne Physik nicht erst seit der Entwicklung der Quantenphysik erkennen können:

233 Werner Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, Hamburg 1965, S. 12.

234 An Darstellungen und Abhandlungen zu dieser Revolution innerhalb der Physik mangelt es nicht. Ein überaus empfehlenswerter Bericht eines direkt an der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie beteiligten Physikers ist: George Gamow: Thirty Years That Shook Physics. The Story of Quantum Theory, New York 1966.

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Hierin bewährt sich wieder jener ‚Anthropomorphismus‘ aller unserer Naturbegriffe, auf den Goethes Altersweisheit hinzudeuten liebte. ‚Alle Philosophie über die Natur bleibt doch nur Anthropomorphismus, d.h. der Mensch, eins mit sich selbst, teilt allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins. [...] Wir mögen an der Natur beobachten, messen, rechnen, wägen usw., wie wir wollen, es ist doch nur unser Maß und Gewicht, wie der Mensch das Maß der Dinge ist. 235

Der hier von Ernst Cassirer im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie – jenem anderen Schock der modernen Physik im 20. Jahrhundert neben der Quantenphysik – angesprochene und von Goethe benannte ‚Anthropomorphismus‘ der Naturbegriffe ist grundsätzlich nicht überwindbar in der wissenschaftlichen Erkenntnis.236 An ihn haben sich die einzelnen Wissenschaften in ihren spezifischen Auseinandersetzungen mit ihren Gegenständen permanent zu erinnern, auch wenn sie zur Wahrung des Scheins herrschender Objektivität nicht immer ihr Zielpublikum nachdrücklich daran erinnern sollten. Jedes Realitätsmodell setzt in der Wirkung einen willing suspension of disbelief der Rezipienten voraus, der nicht nur in der Literatur als traditionell verlässlichem Lieferanten von alternativen Realitätsmodellen Anspruch auf Geltung besitzt.

Übersteigerter Reflexionsgrad setzt wissenschaftliche Arbeit permanent der Gefahr aus, sich in maßloser Selbstschau selbst zu behindern. Auch meine eigene Arbeit muss sich gegen dergleichen Vorwürfe wappnen. Je größer der betriebene Aufwand bei der Erklärung darüber, wie viel komplexer als die Theorie und auf unsere Wahrnehmung bezogen ‚uneins‘

die Welt doch ist, desto mehr entfernt man sich genau von dem, was man eigentlich wissenschaftlich bezweckt, nämlich ein weitestgehend elegantes Modell mit vielleicht eingeschränktem aber verwertbarem Aussagewert zu formulieren, das sich des eigenen Modellcharakters bewusst ist. Begrenzt wird der Aussagewert des Modells durch die Einschränkung des Regelsatzes, den man für die eigenen Weltbetrachtungen als relevant einstuft. Der Regelsatz formuliert dabei das Modell.

Welche Konsequenzen hat aber der so genannte ‚Anthropomorphismus‘ all unserer Naturbegriffe auch jenseits der Naturwissenschaften? Er führt uns in den Wissenschafts-modellen hin zu anthropologischen Betrachtungen, wenn er grundlegend die ontologischen Gegenstandsbestimmungen auflöst und den Menschen jeweils zu dem in Beziehung setzt, was er untersucht, betrachtet und generell überhaupt erst wahrnimmt. Dies bringt die

‚anthropologischen Wenden‘ in den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen zusammen. Auch Heisenbergs angeführte Betrachtung in den Naturwissenschaften beschreibt eine anthropologische Wende in der Physik. Die anthropologische Orientierung rückt die jeweiligen Beziehungen zum Gegenstand, auch die Beziehung der ‚menschlichen‘

Werkzeuge zur Untersuchung der Gegenstände ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie konturiert den Prozess, der sich zwischen Mensch und Objekt einstellt – als Vermittlung, sogar als interaktiver Prozess, womit man sich mitten im Interessensbereich der Medienwissenschaften befindet.

Wozu werden Werkzeuge und Instrumente (im Sinne einer Methode) eingesetzt? Die kurze Antwort ist: Man will die Regeln der Welt beziehungsweise die Regeln eines definierten (Sub-)Systems (eingeschränkter Regelsatz, siehe oben) freilegen, begreifen und sie der

235 Ernst Cassirer: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Darmstadt 2001, S. 111.

236 Vgl. ausführlicher: Frank Furtwängler: „An Nichts denken müssen. Über den Äther und die

Medienwissenschaft vor einer Medienwissenschaft“, in: Albert Kümmel-Schnur/Jens Schröter (Hrsg.): Äther.

Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2007, S. 53-67.

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eigenen Kontrolle zuführen. Kontrolle und Manipulation der Natur ist nicht zuletzt Francis Bacons im 17. Jahrhundert radikal vorgeschlagenem Weg zur Wiederherstellung der Herrschaft des (einst gottgleichen) Menschen über die Natur verwandt – eine Herrschaft, die beim Sündenfall verloren gegangen war.237 „The end of our foundation is the knowledge of causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of human empire, to the effecting of all things possible“, wie Bacon in ‚New Atlantis‘ den Plan verkünden lässt.238

Machtphantasien diesen Ranges im Auge, nähern wir uns über den Weg der Wissenschaf-ten weiter dem Spiel, das in der Kontrolle über ein definiertes System einen großen Bereich der eigenen ästhetischen Erfahrung eröffnet. Inwiefern Macht und Kontrolle über die Natur als ästhetische Erfahrung auch in den Naturwissenschaften beispielsweise eine Rolle spielt, bleibt in dieser Arbeit eine offene Frage, die ich dennoch zumindest stellen möchte.239 Im Kern geht es mir hier immer um das Spiel. Die Wissenschaften und ihre Weltzugänge sind dabei aber relevanter Kontext für Spielbetrachtungen. Genauso gut könnte man allerdings sagen, das Spiel und die darin erschlossenen Weltzugänge und -zugriffe wären ein relevanter Kontext der Wissenschaften.240 Spielerische und wissenschaft-liche Kontrolle über die jeweils zugrundeliegenden Welten ähneln sich in der Motivation ihres Kontrollgewinns über die Welten, die sie einsetzen. Sie entstehen aus Erfahrungsdefi-ziten eines ‚normalen‘, alltäglichen Weltzugangs, der nur bedingt Kontrolle gewährt. Wissen ist erst dann Macht, wenn es Kontrolle ermöglicht. In der Wissenschaft und im Spiel ermöglicht das Wissen über die Regeln die Kontrolle einer Welt, die sich über die in ihr geltenden und wirkenden Regeln definiert. Dies ist zunächst unabhängig davon, ob man die Regeln vollständig kennt oder nicht. Ziel ist es dennoch, den vollständigen Satz der Regeln zu kennen, da dies die maximale Kontrolle über ein System eröffnet. Dem Menschen eröffnet dieses Wissen eine gottgleiche Rolle – oder die Rolle des Laplaceschen Geistes:241 Kennt er die Regeln einer (deterministischen) Welt, so lassen sich Ereignisse verlässlich prognostizie-ren – er kontrolliert Raum und Zeit.

Ein typisches Beispiel eines Regelsystems aus der Physik, das Ereignisse prognostizierbar macht, ist die Bewegung der Himmelskörper, deren Bahnen jenen Regeln der Physik folgen, die Newton 1687 in Philosophiae Naturalis Principia Mathematica der Welt als Naturgesetze eröffnete. Die Newtonsche Mechanik erfasst die Größen der Himmelsmechanik nur deswegen näherungsweise korrekt, da Gravitationszentren wie unsere Sonne jene Gravitationskräfte dominieren, die zwischen kleineren Himmelkörpern wirken. Dies wusste bereits Newton. Er wusste im Konzept des absoluten Raums nichts von relativistischen

237 Vgl. Carolyn Merchant: Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München 1987, S. 180.

238 Francis Bacon: New Atlantis [1626], beliebige Ausgabe.

239 Allgemein lässt sich eine solche Frage nicht beantworten. Dass in der Physik die Lösung eines

Naturgeheimnisses auch noch in der nüchternen Ableitung einer nackten Formel aus experimentellen Daten ein Hochgefühl auslösen kann, ist gut belegt – in persönlichen Zeugnissen und Anekdoten bis zurück zu Archimedes’ buchstäblich ‚nackter‘ Euphorie auf den Straßen von Syrakus (Heureka!), gleichermaßen geschildert von Plutarch und Vitruv.

240 Dass unsere Schau in beide Richtungen gilt, wurde im Konzept und im Begriff des ‚playing research‘

schon ausführlich behandelt. Ich werde auf die Verbindung von Wissenschaft und Spiel noch mindestens einmal explizit zurückkommen, wenn wir in Kapitel VI.2 der Frage nachgehen, was es bedeutet, das Spiel als Medium des Denkens zu verstehen.

241 Für eine glänzende Einführung in die Idee des ‚Laplaceschen Geistes‘, vgl.: Ernst Cassirer: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kausalproblem, Darmstadt 2004, S. 9ff.

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Effekten auf die Masse eines Körpers, die bei geringen Geschwindigkeiten allerdings vernachlässigbar sind. Er wusste auch nichts über die Effekte der Quantenmechanik, die auf makroskopischer Ebene der Betrachtung gleichfalls irrelevant für die näherungsweise korrekten Berechnungen sind. Manche Regeln gelten also, ohne dass sie wirken. Allein die Berechnungen liefern in der Bestätigung durch Beobachtung die hinreichende Legitimation der andauernden Wahrheit einer Newtonschen Mechanik, oder auch der Lagrangeschen und Hamiltonschen Mechanik, deren Formulierungen die Rechenmethoden der sogenannten klassischen Mechanik analytisch veränderten und verfeinerten. Kein anderer Wahrheitswert über die Welt wird darüber hinaus geliefert, und es wird parallel weiterhin über die Form der letzten Wahrheit spekuliert und gefragt, was denn nun die eigentliche Mechanik der wahren Welt sei: „What the actual world turns out to be (insofar as we can tell at present) is quantum mechanical, or quantum field theoretic, or quantum string theoretic, or something like that“, so David Z Albert.242 Solange die klassische Mechanik bestimmten Aspekten der Weltbeschreibung genügt, so definiert sie ihren Leistungsbereich als absolutes Teilsystem der Welt, in dem sie auch weiterhin Gültigkeit besitzen darf, auch wenn sie ihre generelle physikalische Weltbildfunktion längst eingebüßt hat.

Die Naturwissenschaften ist gelegentlich an die Grenzen ihres geltenden Wahrheitsan-spruchs aktiv zu erinnern. In den Humanwissenschaften ist dagegen die Auffassung, dass sie „das in ihnen verhandelte Wissen nicht vorfinden, sondern erzeugen“,243 wesentlich präsenter. Diese Erkenntnis wird aber unterschiedlich aufgegriffen und umgesetzt. Die Human- und Geisteswissenschaften erzeugen ihre Welten durch ihre Methoden und Instrumente in Modellen in einer den Naturwissenschaften durchaus vergleichbaren Weise.

Man ist aber geneigt, ihnen dies leichter zu verzeihen als den Naturwissenschaften.

Jede Welt, zu der sich der Mensch in Bezug setzt, scheint sich von vornherein als eine

‚künstliche‘, eine ‚gemachte‘ zu entpuppen. Dies ist eine wichtige Erkenntnis angesichts einer zunehmenden Dominanz ‚künstlicher‘, virtueller, fiktionaler Welten in den Medien und Spielen. Es existiert eine geistesgeschichtliche Entwicklung menschlicher Weltzugänge, in deren Kontext wir die aktuellen virtuellen Welten einordnen können, um zu verstehen, was diese eigentlich bezwecken. Richard Rorty legte beispielsweise dar, wie in der Vorstellungswelt Europas vor etwa zweihundert Jahren der Gedanke Fuß fasste, „daß die Wahrheit gemacht, nicht gefunden wird“. Die bereits angesprochene Vorstellung, die Humanwissenschaften produzieren das von ihnen verhandelte Wissen selbst, findet bei ihm eine elegante Begründung. Er markiert das Ende des 18. Jahrhunderts als Bruch im Verständnis unserer Weltzugänge:

Die Französische Revolution hatte gezeigt, daß sich das ganze Vokabular sozialer Beziehungen und das ganze Spektrum sozialer Institutionen beinahe über Nacht auswechseln ließ. Dieser Präzedenzfall bewirkte, daß utopische Vorstellungen bei den Intellektuellen von der Ausnahme zur Regel wurden. Diese Ausprägung politischen Denkens schiebt die Fragen nach dem göttlichen Willen und dem menschlichen Wesen beiseite und träumt von der Erschaffung einer neuen Spielart des Menschseins.244

242 David Z Albert: Time and Chance, Cambridge/Mass. 2000, S. 1.

243 Harald Neumeyer: „Historische und literarische Anthropologie“, in: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2003, S. 108-131: 123.

244 Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 1992, S. 21.

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Wieder erscheint hier der Spielbegriff in einer seiner ‚Spielarten‘; doch auch hier motiviert nicht die metaphorische Verwendung des Spielbegriffs das Zitat, wie zuvor schon im Fall Heisenbergs. Rorty beschreibt, wie die Dichter der Romantik fast zur selben Zeit zeigten, was geschehen kann, wenn Kunst nicht mehr als Imitation (Mimesis245), sondern „als Selbsterschaffung des Künstlers“ begriffen wird – in einer dramatischen Aufwertung der menschlichen Imaginationsleistung möchte man ergänzen: „Die Dichter machten den Anspruch der Kunst auf die Position in der Kultur geltend, die traditionell von Religion und Philosophie besetzt und von der Aufklärung für die Wissenschaft reklamiert worden war.“246 Rorty sieht heute beide Tendenzen vereint, und er beschreibt ausgehend von dieser Entwicklung eine Spaltung in der Philosophie: Die einen Philosophen hielten die Wissenschaft für das Paradigma menschlicher Tätigkeit und bestünden darauf, dass die Naturwissenschaft Wahrheit entdeckt, nicht macht:

Während [diese] Philosophen der ersten Art ‚harte‘ wissenschaftliche Tatsachen‘ in Gegensatz zum ‚Subjektiven‘, zum ‚Metaphorischen‘ setzen, sehen Philosophen der zweiten Art die Naturwissenschaften nur als eine menschliche Tätigkeit von vielen, nicht als die Stelle, an der menschliche Wesen auf ‚harte‘, nichtmenschliche Realität stoßen. So gesehen erfinden große Naturwissenschaftler Beschreibungen der Welt, die dem Zweck der Vorhersage und Kontrolle dessen, was geschieht, dienen können, ganz so wie Dichter und politische Denker andere Beschreibungen der Welt zu anderen Zwecken erfinden. In keinem Sinn aber ist auch nur eine dieser Beschreibungen eine genau zutreffende Darstellung der Weise, wie die Welt an sich ist. Diese Philosophen halten schon die Idee einer solchen Darstellung für unsinnig. [Herv. FF]247