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IV. Methoden – Instrumente und Spielzeug

3. Die Werkzeuge a) Damals: Bild und Text

Jeder der einmal einem kunsthistorischen Vortrag beiwohnte kennt das, was Beat Wyss in

‚Vom Bild zum Kunstsystem‘ einer „Geschichte des Wissens aus dem Geist der technischen Medien“ zugeordnet hat. Jeder weiß um die zahlreichen Reproduktionen von Gemälden in Büchern der Kunst und Kunstgeschichte. Kein Kunsthistoriker kann ein gravierendes Problem mit den Repräsentationsmöglichkeiten seines Gegenstands in jenem Medium haben, in dem er auch seine theoretische und deskriptive Arbeit mitliefert. Dennoch – oder gerade deswegen – gibt es eine weitreichend reflektierte Art des Bewusstseins über das, was die Kunstgeschichte hier tut.177

Abbildung 22: Doppelseite 36/37 aus Heinrich Wölfflin ‚Kunstgeschichtliche Grundbegriffe‘

(zitiert nach: Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, Tafeln, S. 29).

In Betrachtung von Heinrich Wölfflins ‚Kunstgeschichtliche Grundbegriffe‘, speziell einer der berühmten Doppelseiten (Abbildung 22) schreibt Wyss aus dem eigenen Fach heraus:

177 Vgl. Wyss: Vom Bild zum Kunstsystem, S. 87. Wyss führt hier an: Heinrich Dilly: „Lichtbildprojektion – Prothese der Kunstbetrachtung“, in: Irene Below (Hrsg.): Kunstwissenschaft und Kunstvermittlung, Gießen 1975;

Silke Wenk: „Zeigen und Schweigen, Der Kunsthistorische Diskurs und die Diaprojektion“, in: Sigrid Schrade (Hrsg.): Konfigurationen zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 292-305; Ingeborg Reichle:

„Medienbrüche“, in: Kritische Berichte 1/2002, S. 40-56.

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Heinrich Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe“, ein Gründungswerk der Stilanalyse, gehört drucktechnisch zugleich zur ersten Generation von Büchern im Offset-Verfahren, das es erlaubt, Fotografie und Text lithografisch gleichzeitig zu vervielfältigen. Wölfflin ist medienge-schichtlich ein Pionier seiner Zunft: Nicht nur als Buchautor, sondern auch als Vortragsredner, denn er hat aus der populären Attraktion der „Laternenbilder" eine wissenschaftlich fundierte Argumentationsweise im mündlichen Vortrag gemacht: die Diapositiv-Doppelprojektion, die im Fach Kunstgeschichte zur bildpragmatischen Gewohnheit wurde. Unter den Gelehrten war es anfangs nicht selbstverständlich, sich bei der Präsentation von Bildern mit schnöder Technik zu behelfen. Jacob Burckhardt, Wölfflins Lehrer, hatte für seine Seminare Zeichnungen von Dürer und Rembrandt original aus der Basler Kunstsammlung mitgebracht, sich bei Gemälden mit Nachstichen beholfen, die dann auf einem Tisch den Studierenden zur Betrachtung vorlegt wurden. Das neue Medium Diapositiv setzte sich im Zeitalter des Films durch, in dem sich das Publikum daran gewöhnte, beim Betrachten von Bildern selber unsichtbar zu werden. Man sitzt im Dunkeln, während das körperlose Lichtbild umso heller strahlt.

Wölfflins „Kunstgeschichtliche Grundbegriffe" übersetzt die Vorführung von zwei an die Leinwand geworfenen Diapositiven ins Schriftbild durch das Layout auf der Doppelseite: „Bitte links die Eva von Dürer, das nächste Dia, bitte rechts, Rembrandts Frauenakt", glaubt man als Anweisung an den Operateur beim Durchblättern des Buchs noch zu hören. Die Gewohnheit der Doppelprojektion von Lichtbildern im kunsthistorischen Vortrag wird so lange bestehen, bis sich die Powerpoint-Präsentation endgültig durchsetzt und mit den elektronischen Vorführ-techniken entsprechend neue wissenschaftliche Methoden entstehen.178

Nun erklärt sich die relative Ignoranz der game studies gegenüber ihren Methoden und Instrumenten nicht allein durch disziplinäre Spätentwicklung. Die Kunstgeschichte besitzt im Umgang mit Bildern zwar eine lange Tradition, in direktem Vergleich mit der Spielforschung erstaunt deren Vorsprung im Reflexionsgrad aber dennoch, insbesondere da der ‚mediale Transfer‘ vom Bild als Original zum Bild als Repräsentation nur bedingt Probleme der Methode aufwirft: Sieht man einmal von (zweifelsohne wichtigen) Fragen zur Räumlichkeit des Dispositivs ab, also beispielsweise wo ein Bild als Gemälde oder Teil eines Altarflügels in welchen räumlichen Anordnungen gegebenenfalls angebracht war oder ist, so ist das gegebene Abbildungsverhältnis doch immer weitgehend isomorph, erlaubt also eine prinzipielle rausch- und verlustfreie Rückübersetzung vom einen ins andere (speziellere Fragen zur Materialität ausgeklammert). Auch wenn die in anderer Hinsicht für Untersuchungen oft signifikante Materialität des Mediums eine andere ist, so sind die Kompositionsverhältnisse im statischen Bild intakt, und bleiben auch intakt unter Übersetzungen in beide Richtungen. Trotz dieser scheinbar unkritischen Repräsentations-bedingungen führt Wyss an zitierter Stelle prägnant alles an, was man mit der (Re-) Präsentation des Bildes in kunstgeschichtlicher Kommunikationspraxis zum eigenen Gegenstand in Erinnerung rufen kann: den Diavortrag, den Film und die Situation im Kino, der Siegeszug der Powerpoint-Präsentation auch in dieser Disziplin, das Buch (ganz entscheidend) und letztendlich das Bild als gewichtiger Teil des zu transportierenden

‚Inhalts‘ und dessen, worum es primär geht: den Gegenstand selbst, den die Kunstge-schichte auf originaler Werkebene ungleich mehr ehrt, als es für Kunstwerke im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit möglich erscheint, um Benjamins Begriff wachzuru-fen.

Die Literaturwissenschaft ist in einer, gegenüber anderen Disziplinen beinahe schon unfairen Weise mit einem ‚dankbaren‘ Gegenstand versorgt und gesegnet, wenn es um die

178 Wyss, Vom Bild zum Kunstsystem, S. 87.

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Möglichkeiten isomorpher Repräsentationsverhältnisse geht: Die Abbildung von Text im Text ist derart unspektakulär, dass es einem schwer fällt überhaupt daran zu erinnern, sie überhaupt ins Spiel zu bringen. Das Medium des Gegenstands bleibt auch das Medium der korrespondierenden theoretischen Reflexion über den Gegenstand. Ein Ausnahmefall wird es bleiben.

Abbildung 23: Doppelseite 24/25 aus Scott McCloud ‚Understanding Comics‘.

Comics als eine der spannendsten und komplexesten Verkörperungen der Synthese von Text und Bild und deren jeweiligen Bezüge und Anordnung sind, was die Repräsentation des Gegenstands an sich angeht, ebenfalls unproblematisch, da es sich um ein Printmedium handelt – sieht man einmal von sogenannten ‚Webcomics‘ und Ähnlichem ab. Theorie im eigenen Medium zu betreiben hat sich beim Comic in der Vergangenheit ebenfalls deutlicher abgezeichnet als in anderen Bereichen – das in dieser Hinsicht unspektakuläre Universum der ‚reinen‘ Texte ist in jedem Fall ausgenommen und außer Konkurrenz.179 Die mittlerweile in mehreren Bänden vorliegende Theorie des Comics von Scott McCloud (Abbildung 23)180 macht vor, wie man im eigenen Medium das eigene Medium auch

179 Man sollte hier freilich anmerken, dass es sich bei meinen Betrachtungen um eine relativ grobe Auflösung handelt, die subtilere Theoriekonzeptionen mit eventuell gar materiellem Bezug zum Medium ausklammern muss. Mutmaßungen über Beispiele vermeide ich hier bewusst, da sie gründlicher angegangen werden müssten, als es mir hier in vernünftigem Rahmen möglich erscheint.

180 Es liegen derzeit drei Bände vor. Auf Deutsch sind sie erschienen als: Scott McCloud: Comics richtig lesen.

Die unsichtbare Kunst, Hamburg 2001; ders.: Comics neu erfinden, Hamburg 2001; ders.: Comics machen. Alles über Comics, Manga und Graphic Novels, Hamburg 2007. Comics richtig lesen (Understanding Comics) ist der theoretisch deskriptivste, erste Band der Reihe. Will Eisner ist ein Vorläufer dieser Art der Theorie in Bezug auf Comics,

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theoretisch behandeln kann und konstruiert dabei die eigenen Verdachtsmomente in ihrer drastischen Zurschaustellung von ‚Evidenz‘ selbst – veranschaulicht, wie man in Besitz beider Kompetenzen – Theorie und Praxis – den Gegenstand der Untersuchung bisweilen auch selbst erschaffen kann. Dies wäre eine Zuspitzung und ein Sonderfall der Beobach-tung, Gegenstände könnten nur noch dazu da sein, bereits bestehende Theorie(n) zu bestätigen.181

b) Ein Bild, das sich bewegt

Im Übergang zu bewegten Bildern wird die Frage nach Transformation bei Repräsentation des Gegenstands virulenter. Analysiert man beispielsweise einen ‚film-still‘, so werden schnell die Grenzen darstellbarer Informationsmengen und -tiefen für den Film deutlich. Dies gilt für Computerspiele umso mehr, da nicht nur die Bewegung als zumeist signifikante Eigenschaft des ‚Bewegungsbildes‘ nicht repräsentiert werden kann, sondern besonders auch die interaktive Einflussnahme auf das bewegte Bild.

Die für das Medium entscheidende Anordnung einzelner Bilder, die im Fall Comic leicht zu repräsentieren ist (vgl. erneut Abbildung 23), hilft bei einer vermeintlichen ‚Abbildung‘

des Films, beispielsweise auf der gedruckten Seite eines Buches, nur sehr bedingt: Auch die dargestellte Sequenz einzelner Filmbilder bis hin zu vierundzwanzig Bildern für die mögliche Gesamtrepräsentation einer ganzen Filmsekunde referiert auf eine andere Ebene als das Film- oder Bewegungsbild. Es ist in der Filmtheorie gut beschrieben, wo sich die spezifische mediale Form des Films und mit ihr das bewegte Bild im traditionellen, auf fotografischen Einzelbildern basiertem Film ‚verbirgt‘: Sie liegt in der alles entscheidenden statischen Verknüpfung jedes einzelnen Bildes mit dem vorherigen und folgenden Einzelbild, die wir nicht als solche wahrnehmen, sondern eben als Bewegungsbild, als ‚image-mouvement‘, das aber eine andere Ebene der Beobachtung markiert – an der Oberfläche nämlich, auf der sich das Bewegungsbild zeigt (‚screen‘ oder Projektion). Auch hier bleibt die Bestimmung der Beobachtungsebene entscheidend.182 Im Film ist nicht jedes ‚technische‘

Einzelbild als Ereignis entscheidend. Die Einzelbilder stellen vierundzwanzig ‚Ereignisse‘

pro Sekunde, die für die vom Betrachter wahrgenommene mediale Form ‚Film‘ keine Bedeutung besitzen. Die Ereignisse, die der Zuschauer auf Ebene des Bewegungsbildes wahrnimmt sind tragend und ein ‚still‘ sollte möglichst auf Ereignisse dieser Ebene Bezug nehmen.

George Méliès’ Filme verdeutlichten bereits in der Frühzeit des Films diese beiden grundsätzlichen Ebenen, da die von ihm erfundenen Spezialeffekte wie ‚stop edit‘,

‚dissolve‘ und ‚double exposure‘ nur im Verhältnis dieser beiden Ebenen funktionieren und jeweils auf beide verweisen. Der Effekt beim Zuschauer, wenn beispielsweise ein Gegenstand im ‚stop edit‘-Verfahren ‚im Moment‘ seine Gestalt ändert (Ereignis auf Ebene

bei ihm treten die Probleme noch nicht vergleichbar in den Vordergrund, vgl. das 1985 zuerst erschienene Werk: Will Eisner: Comics and Sequential Art. Priciples & Practice of the World’s Most Popular Art Form,

Tamarac/Fl. 2005.

181 Vgl. Kapitel I.2 ‚Über die Ausgangslage medienwissenschaftlicher Projekte‘.

182 Hier empfiehlt es sich noch einmal genauer nachzufragen, was bereits gründlich geschehen ist, so z.B. in:

Joachim Paech: „Der Bewegung einer Linie folgen… Notizen zum Bewegungsbild, in: ders.: Der Bewegung einer Linie folgen… Schriften zum Film, Berlin 2002, S. 133-163. Paech bereinigt hier auch einige der kursierenden Mythen und Missverständnisse über die ‚Filmwahrnehmung‘.

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des wahrgenommenen Filmbilds), beruht auf den nicht mehr sichtbaren Voraussetzungen einer im Produktionsprozess angehaltenen Filmaufzeichnung und der sprunghaften Überbrückung einer bestimmten Dauer, die zwischen zwei Einzelbildern (technische Ebene) zum Verschwinden gebracht wird. In dieser wird in der Szene an die Position eines einzelnen Stuhls – wie beispielsweise in ‚Le Diable noir‘ (Georges Méliès 1905) der Fall – die Lücke zwischen zwei Stühlen gesetzt – einer ergänzt, der andere vielleicht nur verschoben:

die Pointe leitet sich aus diesem Szenario automatisch ab (Abbildung 24).

Abbildung 24: ‚Stop editing‘ definiert: Sequenz von drei stills aus ‚Le Diable noir‘ von Georges Méliès aus dem Jahr 1905

Abbildung 24 definiert keine Szene, denn diese ändert sich bei der Art eingesetzter Spezialeffekte notwendigerweise nicht. Die drei herausgegriffenen Einzelbilder liegen zeitlich eng beieinander. Das Intervall der Sequenz liegt im Sekundenbereich und damit im Bereich von ungefähr 50 technischen Einzelbildern. Die Sequenz als Ereignis ergibt sich aus: 1) Méliès’ Annäherung an den einzelnen Stuhl; 2) Veränderung in der Szenenausstat-tung und ‚Zeitsprung‘ im Aufnahmeprozess, der sich im Raum abzeichnet und sichtbar wird, nämlich in: 3) Méliès’ Sturz zwischen die beiden Stühle. Damit ist das Gesamtereignis (als Pointe) durch die drei entscheidenden Momente beschrieben, die es definieren. Diese Einzelmomente kann man als ‚symbolische Keyframes‘ deuten.

In der Kontrolle von Ursache und Wirkung zwischen bestimmten Ereignissen im zeitlichen Ablauf des Films wird deutlich, wie sehr das filmische Medium auf die Kontrolle der Zeit zurückgeführt werden kann. Den (zeitlichen) Prozess räumlich abzubilden ist nur begrenzt möglich. Wir werden in diesem Kapitel noch nachvollziehen, wie sehr diese Grenzen der Beschreibung im Falle der Computerspiele noch enger gefasst sind, da sie die Kontrolle über Zeit und Raum durch den Nutzer als Spieler zu einem dominanten und prägenden Merkmal aufbauen. Die weitgehend direkte – wenn auch im Medium freilich nie unmittelbare – Einflussnahme des Spielers auf zeitliche Abläufe von Ereignisketten ermöglicht nahezu fließende Übersetzungen von Raum in Zeit und umgekehrt. Hier offenbart sich wesentlich mehr als eine reine Herausforderung an Beschreibungskunst und Repräsentationspraxis.183

Lenken wir wieder den Blick zurück auf jene Arten von Transformation, die für den Umgang mit der Repräsentation von Computerspielen relevant sind. Ein Computerspiel

183 Den Basiskurs ‚Film‘ und Filmbeschreibung beende ich hier vorzeitig, denn darum soll es uns im Speziellen nicht gehen. Auch geht es mir hier (noch) nicht explizit um die neue Qualität ermöglichter Kontrolle von Raum und Zeit in Computerspielen. Dies wird zu einem späteren Zeitpunkt wieder explizit Thema sein. Die Problemstellungen dieses Kapitels bereiten lediglich schon darauf vor.

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kann anhand ähnlich gewählter Momentaufnahmen wie im Fall Film visuell beschrieben werden; ein Text ergänzt gegebenenfalls signifikant, wie eben anhand des Filmbeispiels ‚Le Diable noir‘ veranschaulicht, und füllt die Lücken zwischen den Bildern. Ein Computerspiel kann auch ‚gefilmt‘ und der entstandene Film als Repräsentation beispielsweise in Vorträgen eingebaut werden. Einen Film als Repräsentation eines Films in einem Vortrag zu verwenden erscheint dabei zunächst ideal, wenn wir die Abbildung des Gegenstands im Auge haben. Dies ist die gängige Praxis der Filmwissenschaft. Im Falle Computerspiel bedeutet die Transformation in einen Film jedoch etwas anderes, denn auch die Übertragung auf ein bewegtes Bild bleibt in diesem Fall verlustbehaftet. Dazu fragt man sich unweigerlich, was dann eigentlich vorliegt: Repräsentation und Dokumentation eines Computerspiels oder einfach nur Film?

Ein kurzer Exkurs verdeutlicht schnell, dass solche Fragen berechtigt und mehr als einen zweifelhaften Versuch ontologischer Bestimmung markieren, denn das ‚Abfilmen‘ von Computerspielen ist unter dem Begriff ‚machine cinema‘ oder auch Machinima zu einer eigenen, Film schaffenden Praxis geworden. Auf der Website der Academy of Machinima Arts and Sciences184 informiert man sich über diese „artform come out of nowhere“, wie es heißt:

Machinima (muh-sheen-eh-mah) is filmmaking within a real-time, 3D virtual environment, often using 3D video-game technologies.

In an expanded definition, it is the convergence of filmmaking, animation and game develop-ment. Machinima is real-world filmmaking techniques applied within an interactive virtual space where characters and events can be either controlled by humans, scripts or artificial intelligence.

By combining the techniques of filmmaking, animation production and the technology of real-time 3D game engines, Machinima makes for a very cost- and real-time-efficient way to produce films, with a large amount of creative control.185

Auch wenn es mittlerweile schon diverse kommerzielle Softwarepakete wie Fountainhead Entertainments ‚Machinimation‘ und Open-Source-Projekte wie das ‚Machinima Production Kit‘ gibt, so arbeitet der ausgewiesene Kern der Machinima Community mit den Spielen selbst und den Tools, die diese zur Verfügung stellen. Man hört bereits, es können hier ‚daheim am PC‘

Filme geschaffen werden, die in Hollywood Produktionskosten in Millionenhöhe verschlingen würden. Der so markierte Trend ist nicht zu unterschätzen: Machinima bedeutet ‚Live-Acting‘ und improvisierte Performance und hat damit im Produktionsaspekt einen gänzlich anderen Zeitindex als beispielsweise aufwändig gerenderte Keyframe-Animation, mit der Pixar Filme seit ‚Toy Story‘ (John Lasseter 1995) produziert.

Zur kurzen Erklärung: ‚Keyframe-Animation‘ bedeutet, dass in einer Animation, bestehend aus einer Vielzahl an Einzelbildern, nur bestimmte Schlüsselbilder der Sequenz definiert werden. Da die Sequenz dieser ‚Keyframes‘ keine flüssige, filmische Bewegung erzeugt, werden die vierundzwanzig Einzelbilder pro Sekunde Minimum durch so genannte ‚in-betweens‘ oder nur ‚tweens‘ gefüllt.

Abbildung 25 und Abbildung 26 veranschaulichen ein Animationssystem dieser Art anhand der gängigen Webfilm-Entwicklungsumgebung Adobe Flash: Die beiden Schlüsselbilder in Frame 1 und 25 (in Abbildung 25 markiert durch zwei Punkte) ohne ‚in-betweens‘ (in Abbildung 25 markiert durch den langgezogenen Pfeil zwischen den beiden Punkten der Keyframes) würden abgespielt einen unerwünschten Effekt in der Art eines ‚stop editing‘

184 URL: http://www.machinima.org (19.01.2012).

185 URL: http://www.machinima.org/machinima-faq.html (19.01.2012).

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bewirken, der mit Méliès’ Kunst nur wenig zu tun hat. Der in diesem Falle entstandene Effekt würde lediglich auf die technisch bedingte Lücke verweisen, nicht aber auf eine Pointe, die beispielsweise wie im Falle Méliès einen symbolischen Bildraum voraussetzt. In diesem muss der Mann auch wahrhaftig zu Boden fallen (Abbildung 24 rechts). Dem Marienkäfer in Abbildung 26 fehlt der erzählerische, diegetische Rahmen, und der Animationsbruch wäre ein nur wenig plausibler Raumsprung, der sich durch eine zeitliche Lücke generiert, die nicht mit errechneten ‚in-betweens‘ gefüllt wurde – es fehlen 23 Bilder (pro Sekunde).

Abbildung 25: ‚Timeline‘ einer einfachen Keyframe-Animation in Macromedia Flash, bestehend aus zwei Schlüsselbildern und einem ‚motion tween‘

Abbildung 26: Drei Einzelphasen der Keyframe-Animation aus Abbildung 25: die beiden keyframes (links und rechts) und Bild 13 der errechneten und ergänzten 23 von 25 Gesamtbildern beispielsweise einer ‚Filmsekunde‘.

Bei Machinima verläuft die Produktion nun entscheidend anders als in der Keyframe-Animation. Die Produktionsaspekte verändern auch die Distribution signifikant: Machinima-Filme können auch bei beachtlicher Länge eines Films unter einem Megabyte groß sein, wenn sie als so genannte ‚Demo-Recordings‘ verbreitet werden sollen. In diesem Fall werden die Filme als Rohdaten geliefert und im Computerspiel selbst durch die sogenannte

‚Grafik-Engine‘ eines Spiels erneut visualisiert. Damit wird ein Animationsfilm gegebenen-falls auch in Echtzeit reproduziert; die Rohdaten funktionieren wie ein Theaterstück nebst Regieanweisungen, das nicht von Schauspielern interpretiert und zur Aufführung gebracht wird, sondern vom Programm, in gewisser Weise von der Bühne selbst. In diesem Schauspiel ist es auch für einen Zuschauer möglich, eigene Perspektiven zu wählen und das

‚Gespielte‘ selbst mit einer virtuellen Kamera einzufangen.186

Mit was genau haben wir es zu tun, sobald echtzeitbasierte, interaktive, dreidimensionale Spielumgebungen zur Produktionsstätte von wahren ‚Spielfilmen‘ werden und die Standard-Animationstools wie Maya oder 3D Studio Max ersetzen. Film oder gefilmte

186 Der andere Weg der Distribution verläuft über die üblichen Medienformate wie Quicktime, Divx und WMV.

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Repräsentation eines Spiels? Die zumindest für die (Selbst-)Beschreibung derzeitiger Populärkultur unentbehrlich gewordene Wikipedia definiert ‚Machinima‘ als Form

‚emergenten Spielens‘ (emergent gameplay) und damit als ein Nebenprodukt des Spielens, das in der Vergangenheit eher geduldet als speziell beachtet wurde. Zwischenzeitig rückten diese ‚Nebenprodukte‘ aber deutlich ins Zentrum aktuellen Game Designs. Im entspre-chenden Lemma der Wikipedia liest man über Machinima folgendes:

Machinima is an example of emergent gameplay, a process of putting game tools to unexpected ends, and of artistic computer game modification. The real-time nature of machinima means that established techniques from traditional film-making can be reapplied in a virtual environment. As a result, production tends to be cheaper and more rapid than in keyframed CGI animation. It can also produce more professional appearing production than is possible with traditional at-home techniques of live video tape, or stop action using live actors, hand drawn animation or toy props. [Herv. FF]187

Neben einer ergänzenden, hilfreichen Zusammenfassung des bereits Gesagten ist diese Definition wertvoll, weil sie die manchmal intendierte aber häufiger zunächst kontingente Zweckentfremdung von Werkzeugen und Medien selbst in den Status eines Werkzeugs hebt – Werkzeuge oder eben Instrumente, die an verschiedenen Punkten der Mediengeschichte Neues hervorbringen, erzeugen und bewirken konnten. So im Falle Machinima, einem Phänomen, das im Kontext emergenten Spiels entstanden war: Mitte der 1990er Jahre zirkulierten im Internet die ersten gefilmten Computerspiel-Sessions, die zum ersten Mal auch ein passives, vor allen Dingen aber nicht räumlich anwesendes Zuschauerpublikum im Zusammenhang mit Computerspielen sichtbar machten. Die Situation war anders als noch in den 1980ern in den Arcades oder daheim an Computer und Konsole, wo man gerne, manchmal etwas ungeduldig und nervös, anderen Spielern über die Schulter schaute, bevor man selbst wieder spielen durfte. Nun gab es ein ausgewiesenes Publikum für ‚Übertragun-gen‘ außergewöhnlicher Spiel-Sessions, die man durchaus schon im Sinne eines

‚Massenmediums‘ begreifen könnte. Youtube188 wurde beispielsweise später im neuen Jahrtausend ein prominenter Verteiler für diese Art von gefilmten Spielen. Das Webarchive189 dokumentiert in einer eigenen Sparte die sogenannten ‚speedruns‘ durch Computerspiele,

‚Massenmediums‘ begreifen könnte. Youtube188 wurde beispielsweise später im neuen Jahrtausend ein prominenter Verteiler für diese Art von gefilmten Spielen. Das Webarchive189 dokumentiert in einer eigenen Sparte die sogenannten ‚speedruns‘ durch Computerspiele,