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Spielsituation 5 (idealisiert) Boss-Fight, beliebiges Spiel

V. Kontrollmechanismen und epistemischer Zugriff

3. Retroaktive Kontinuität

Ein nicht unbedeutender Teil der theoretischen Auseinandersetzung mit dem ‚Spiel‘ wuchs aus der Literaturwissenschaft als Hintergrund heraus, und schon auf diesem Wege ist die Renaissance des Spielbegriffs in den Geisteswissenschaften nicht nur zeitlich betrachtet gänzlich vom Aufkommen der Computerspiele abgekoppelt. Die neuen Spiele waren nie Antrieb für diese Diskurse, genauso wenig wie sie in der Philosophie der so genannten Postmoderne eine Rolle spielen konnten, in der das ‚Spiel‘ ebenfalls zentral ist. Postmoder-ne Philosophen gingen bekanntermaßen ins Kino und verbrachten ihre Abende nicht an der Spielkonsole. Durch aktuelle Autoren liefert die postmoderne Philosophie jedoch ihre nachgetragenen Beiträge, zum Beispiel aus dem Verständnis von Spiel (weniger eines

‚Spielbegriffs‘) der Dekonstruktion heraus. Doch es ist relativ klar erkennbar, wie dies nicht im Sinne der Dekonstruktion selbst aus ‚subversivem Spiel‘ heraus geschieht, als vielmehr für den Zweck, frühe, quasi prophetische Zeugnisse einzuholen. Oft streifen die Beiträge dabei nur die Oberfläche eines tiefer liegenden Bezugs, den es lohnt zu ergründen.257 Oft bleibt es dabei festzustellen, wie vieles doch hier und da immer schon vorweg genommen worden war, oder im Geiste einer Ergänzung: wie vieles des bereits angelegten weiter zu denken wäre. Für diese Zwecke immer weiter zurückzugreifen, erscheint nicht nur aufgrund der zu überwindenden zeitlichen Entfernungen bisweilen als merkwürdige Praxis:

Heraklit, Platon, danach vielleicht Kant, Schiller, Novalis, Schlegel, später Wittgenstein und so weiter und so fort werden für die Computerspieltheorieplanungen geweckt und als frühe Zeugen des Phänomens eingesetzt, gegebenenfalls da im Rahmen des Möglichen und noch Plausiblen ergänzt, wo es wirklich offensichtlich wird, dass diese Zeugen daheim keine Spielkonsole hatten. „Hamlet on the Holodeck“258 befindet sich in bester Gesellschaft:

„Der ungesicherte Status der neuen Wissenschaft fördert Tendenzen, möglichst noble und frühe Kronzeugen für die neue Wissenschaft aufzutreiben“, so Rainer Leschke über die Einführung der Medienwissenschaft in seiner ‚Einführung in die Medientheorie‘.

Es werden also Textkonvolute daraufhin durchforstet, Äußerungen von möglichst prominenten Autoren zum Problembereich oder zu aktuellen Fragestellungen der Medienwissenschaften aufzutreiben, die dem gefährdeten Ansehen der neuen Disziplin ein wenig auf die Beine helfen könnten. Die zweite Möglichkeit, der neuen Disziplin Bedeutung und Geltung zu verschaffen, besteht darin, die Ehrwürdigkeit des Gegenstands der Disziplin unter Beweis zu stellen: So bemüht etwa Vilém Flusser die Höhlenbilder von Lascaux […], um Medienproduktion möglichst früh einsetzen zu lassen und ihr damit eine entsprechende kulturgeschichtliche Bedeutung zuschreiben zu können.259

Auch in dieser, Tradition schaffenden Hinsicht beschreiten game studies und Medienwissen-schaften durchaus ähnliche Wege. Die Strategie, frühe Zeugnisse und Zeugen einzuholen, auch um dadurch eine rasche Nobilitierung der Gegenstände durch eine ausgewiesene Kontinuität vermeintlich bestehender Traditionen zu erreichen, die besonders auch eine akademische Forschung an ihnen rechtfertigen, ist ähnlich problematisch wie früh angestrebte Zuordnungen zu etablierten Disziplinen generell, die noch rascher als die

257 Vgl. auch Kapitel VI.2 ‚Spiel als Medium des Denkens‘.

258 Janet H. Murray: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace, Cambridge/Mass. 1998.

259 Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München 2003. Die Flusser zugeschriebene Strategie ist hier belegt durch: Vilém Flusser: „Bilderstatus“, in: ders.: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien.

Vilém Flusser Schriften Band 1, Mannheim 1995, S. 133-146: 133.

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Nobilitierung dazu führen können, neue Phänomene aus rein wissenschaftspolitischen Beweggründen aus den Augen zu verlieren. Dergleichen Strategien sind verständlich, dienen aber nicht unbedingt der Sache. Die Quellen- und Zeugensuche folgt häufig einer self fulfilling prophecy in umgekehrter Richtung, denn die Vielseitigkeit des Gegenstands bietet ausreichend Ansatzpunkte, Theorien der Vergangenheit zur Anwendung zu bringen.260 Wer hier sucht wird meist auch fündig – und dies nicht einmal unter großen Anstrengungen.

Die Herstellung von Kontinuität bei akutem Mangel an plausiblen Möglichkeiten kann jedoch auch Neuinterpretationen bestehender Grundlagen erforderlich machen oder gar rückwirkende Ergänzungen provozieren. Dies übersteigt die normale Einholung früher Zeugenschaften. Game studies und Medienwissenschaften verpflichten sich in diesem Sinne gleichermaßen auch der Herstellung retroaktiver Kontinuität – ‚retroactive continuity‘, abgekürzt

‚retcon‘ beziehungsweise ‚retconning‘.

Abbildung 35: Zwei Illustrationen Sidney Pagets zu den Geschichten ‚The Adventure of the Final Problem‘ (links) und ‚The Adventure of the Empty House‘ (rechts), die später im Strand Magazine abgedruckt wurden.

Der Begriff ‚retroactive continuity‘ ist dabei kein deskriptiver Begriff der Wissenschaftsthe-orie. Seinen Ursprung hat der Begriff in der Populärkultur, wo er eine vorsätzliche Änderung zuvor etablierter Fakten in einem Werk serieller Fiktion bezeichnet, unter anderem um auf aktuelle Außenbezüge und Anforderungen der aktuellen Zeit zu reagieren und Kontinuität vor allem in lang laufenden Serien herzustellen.

Als eines der ersten Beispiele gilt Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes Serie, die sich nach dem Tod des Protagonisten in ‚The Adventure of the Final Problem‘ in rückwirkender Veränderung der vermeintlichen Todesumstände von Holmes nach einem Kampf mit

260 Vgl. hierzu vor allem Kapitel IV.4.

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Professor Moriarty am Reichenbachfall bei Meiringen in der Schweiz (Abbildung 35 links), in ‚The Adventure of the Empty House‘ (Abb. Abbildung 35 rechts) fortsetzte. Doyle reagierte damit auf eine Forderung der vielen Anhänger seiner Detektivgeschichten (unter anderem seiner Mutter wie es heißt), die er persönlich nicht mehr fortsetzen wollte, sich aber schließlich dem Druck des Publikums und lukrativer Erfolgsaussichten beugte. Die Wiedererweckung des Sherlock Holmes erschließt das Prinzip der retroaktiven Kontinuität in der Populärkultur zu einem frühen Zeitpunkt und weist dort die Produktionsprinzipien serieller Erzählung in den Medien aus.

Serien erheben die retroaktive Kontinuität zwischenzeitig zum prinzipiellen Produktions-prinzip. Die TV-Serie ‚Lost‘ ist hierfür ein Beispiel: Ein Flugzeug stürzt auf einer Insel als zunächst überschaubarem Setting ab, mit einer überschaubaren Anzahl an Charakteren gleich Überlebenden. Einzelne Folgen basieren dann jedoch häufig auf den individuellen Vorgeschichten der einzelnen Überlebenden, die in Flashbacks als Rekonstruktion einer Vergangenheit erzählt werden, während das tägliche Überleben auf der Insel weitergeht. Im weiteren Verlauf der Serie werden dann systematisch die Einzelgeschichten in einem größeren Rahmen verwoben, wodurch auch das primäre Setting der Insel neue Impulse und Erweiterungen erhält. Auf diese Weise wird die gesamte Erzählung der Serie iterativ erweitert, auf der Basis einer recht simplen Erzählmechanik, die im Verlauf der Staffeln jedoch zunehmend komplexer wird. Ist ein Punkt erreicht, an dem die Logik vor allem die Zuschauer strapaziert, so wird eine Wendung in der Geschichte eingeleitet, die die erreichte Komplexität wieder reduziert (zwischen story twist und Massensterben der Handlungsfigu-ren beispielsweise). Die Erzählweise einer solchen Serie ist in gewisser Weise Produkt und Opfer der neuen Medien, da das Publikum über Foren des Internets mittlerweile immer mehr Möglichkeiten erhält, den Produzenten von TV-Serien direktes Feedback zu liefern und so die Serie inhaltlich selbst mitzuprägen.

Geprägt in einer unüberschaubaren Menge an Beispielen, die eine unerreichte Vielschich-tigkeit des Phänomens belegt, wurde der Begriff ‚retcon‘ jedoch nicht im Bereich des Fernsehens, sondern in amerikanischen Comics durch die Verlage Marvel Comics und besonders DC Comics, in deren Serie All-Star Squadron dieser Begriff in Ausgabe 18 (Februar 1983) zum ersten Mal erwähnt worden war. Auch hier bestimmt die serielle Publikations-form die Erzählung, ähnlich wie das serielle Erzählen im Fernsehen durch das SendePublikations-format diktiert wird. Mit weit über tausend Serien und einer Anzahl an Charakteren, die allein mit dem Anfangsbuchstaben ‚A‘ ihres Namens die 600 übersteigen, erfasste das DC Universum im Lauf der erzählten Geschichte seit den 1930er Jahren ein von unzähligen Autoren kaum mehr kontrollierbares Kontinuitätsproblem, das zur Multiplikation fiktiver ‚Wirklichkeit‘

durch verschiedene Paralleluniversen (vgl. Abbildung 36) und Zeitebenen führen sollte, die teilweise seit den 1980er Jahren wiederum regelmäßig in den so genannten ‚Krisen‘ auf Stunde und Raum Null zurückgesetzt wurden.

Dan DiDio, Chefredakteur des DC Universe, zitierte im Vorwort zu ‚Infinite Crisis‘, der letzten forcierten ‚Krise‘ im Jahr 2006, seinen Vorgänger Julius Schwartz, der meinte, dass man dem Universum alle zehn Jahre „einen Einlauf verpassen müsse“, also „die ganzen alten Geschichten rausfegen und Platz für neue Erzählungen voller unendlicher Möglichkeiten schaffen“.261 Er ergänzt dies mit der Feststellung, dass im Laufe der Jahre

261 Dan DiDio: „Vorwort“, in: Geoff Johns et al.: Infinite Crisis (dt. Ausgabe), Nettetal-Kaldenkirchen 2007, (ohne Seitennummerierung).

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vereinzelte Figuren Richtungswechsel durchmachten und Entstehungsgeschichten neu erzählt wurden, „um sie auf der Höhe der jeweiligen Zeit bleiben zu lassen“.262

Abbildung 36: Die erste Seite aus: Marv Wolfman/George Perez/Dick Giorda-no: Crisis on Infinite Earths, Issue 1, April 1985 – der Big Bang einmal anders: „For in that instant a Multiverse was born.“

262 Ebd.

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Retroaktive Kontinuität ist ein komplexes Sammelsurium verschiedenster Methoden zur Manipulation kausaler Zusammenhänge in statischen Texten. Sie beinhaltet rückwirkende Ergänzungen, Löschung von Ereignissen oder Ereignisketten der Vergangenheit, indem diese als Täuschung oder Traum dargestellt werden. Auch Revisionen in Neuauflagen zählen zumindest zu den Grenzfällen retroaktiver Kontinuität. Bemerkenswert ist an dieser Methode, dass selbst bei statischen Texten – also Texten der ‚alten‘ Medien, die ihre Struktur nicht dynamisch verändern können – offenbar zunehmend mit nachträglichen Änderungen von ‚plotlines‘ und Kontinuitäten experimentiert wird und der Einsatz retroaktiver Kontinuität in mannigfaltigen Spielarten immer weniger aus rein erzählerischen Notsituationen heraus passiert. Die ‚alten‘ Medien inkorporieren vielmehr das Prinzip der retroaktiven Kontinuität direkt in ihre erzählerischen und kompositorischen Verfahren. Sie brechen auf diese Weise ihre statischen Strukturen auf und nähern sich den dynamischen Strukturen der ‚neuen‘ Medien an.