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Spielsituation 5 (idealisiert) Boss-Fight, beliebiges Spiel

V. Kontrollmechanismen und epistemischer Zugriff

4. Zukunft und Vergangenheit im Zusammenspiel

Der Begriff ‚retroaktive Kontinuität‘, wie er hier eingeführt wurde, bezeichnet eine rückwirkende Intervention in bestehende kausale Zusammenhänge von Ereignissen aus der Gegenwart heraus.263 Auf Basis neuer Informationen entstehen neue Interpretationen von zuvor gefestigten (kausalen) Zusammenhängen, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart gegolten hatten. Die tatsächliche Vergangenheit wird dadurch jedoch meist nicht verändert; es geht vielmehr häufiger um die reine Manipulation des Blicks auf die Vergangenheit, die eine Reorganisation kausaler Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart initiiert. Die neue Information kann aus anderen Betrachtungsweisen und Perspektivierungen heraus entstehen, aber auch aktiv in die ‚Welt‘

gebracht werden. Retroaktive Kontinuität kann deswegen auch in dramaturgische Konstruktionsprinzipien hineingelesen werden, die auf Perspektivwechsel setzen, um die Handlung (‚plot‘ in diesem Sinne) zu verkehren, oder auch in experimentellere Erzählstrate-gien, die mehrere verschiedene Perspektiven auf ein und denselben Handlungsverlauf einsetzen, um im Moment jeweils gültige Wahrheiten als Reihung von Täuschungen zu entlarven oder sukzessive mehr Wahrheit enthüllen. Diese Mechanismen sind eng an die Wahrnehmung eines idealen Zuschauers gebunden.264 Öffnet man die Interpretation von retroaktiver Kontinuität in dieser Richtung, so ist der Übergang zum Standardrepertoire

263 Der Ereignisbegriff beinhaltet hier auch Ereignisgruppen, die in sich eigene kausale Zusammenhänge unverändert bewahren. Wichtig dabei ist, dass die Ereignisgruppen abgeschlossene Sinneinheiten und in sich logisches Informationspakete darstellen, die wiederum mit anderen verknüpft werden können, um kausale Zusammenhänge zu konstruieren.

264 Beispiele hierfür ergänzen sich schnell zur langen Liste: ‚Rashomon‘ (Akira Kurosawa 1950) oder in jüngerer Zeit ‚8 Blickwinkel‘ (‚Vantage Point‘, Pete Travis 2008) basieren unter verschiedenen Zielsetzungen auf dem Prinzip der multiplen Perspektiven durch unterschiedliche Zeugenschaften. Filme wie ‚The Others‘ (Alejandro Amenábar 2001) oder ‚Sixth Sense‘ (M. Night Shyamalan 1999) erzählen jeweils aus der Sphäre der Geister eine Version der Weltbetrachtung, die wir als Zuschauer beinahe den gesamten Verlauf des Filmes als die

‚normale‘ Perspektive der Welt der Lebenden verstehen. Diese Interpretation kollabiert erst gegen Ende der Filme in einem großen Überraschungsmoment. In Kapitel VIII.2 werde ich den zentralen Perspektivwechsel in ‚Wahnsinnig Verliebt‘ (‚À la folie... pas du tout‘, Laetitia Colombani 2002) zur Mitte des Films eingehender, aber unter einem anderen Gesichtspunkt besprechen. Dieser Film kann aber auch im Zusammenhang mit dem Thema ‚retcon‘ als Beispiel dienen.

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dramaturgischen Handwerks in Erzählungen fließend, denn der Verlauf einer Erzählung liefert stets einen Zuwachs an Information, die dem Zuschauer die dargestellte Welt dann auch in zunehmendem Maße erschließt, beziehungsweise sie verändert und verändert darstellt.265

Im Blick auf die Instrumente und Methoden in Kapitel IV.3.b) – speziell anhand Spielsituation 5 – wurde deutlich, welch zentrale Rolle Prozesse des Abgleichens zwischen Vergangenheit (Informationsaufnahme) und Zukunft (strategische Planung und Antizipation) im flüchtigen Moment der Gegenwart (Informations- und Feedbackverarbei-tung) für jegliche Praxis am Computerspiel besetzen. Der Begriff der ‚retroaktiven Kontinuität‘ erscheint in einem diesbezüglich erweiterten Kontext als geeigneter Begriff, diese Wirkungsdynamik begrifflich zu fassen. Retroaktive Kontinuität beinhaltet in dieser konzeptionellen Erweiterung demnach auch explizit aktive Eingriffe in die Vergangenheit, wie sie in den dynamischen Strukturen und Texten ‚neuer‘ Medien möglich geworden sind und im Computerspiel zum zentralen Wirkungsprinzip interaktiver Beteiligung der Spieler geraten. In der expliziten Änderung kausaler Kontinuitäten von der Vergangenheit in die Gegenwart durch Änderung der Ereignisse selbst werden Gegenwart und Zukunft in ihnen gleichermaßen manipuliert.

Die so verstandenen und angesprochenen Mechaniken der Manipulation verschiedener, aber eben zusammenhängender Ebenen der Zeit sind gewöhnungsbedürftig, wenn sie wie hier als Prozess in eine deskriptive, diskursive Textform überführt werden. Der Umgang mit ihnen gestaltet sich einfacher als deren Beschreibung. Im Gegensatz zum sprachlichen Umgang haben Computerspiele hierfür im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte ein differenziertes Repertoire des Ausdrucks und der Handhabung dieser Mechaniken entwickelt. Für deren Verständnis bietet es sich an, zunächst darüber nachzudenken, wie Ereignisse überhaupt in einen Zusammenhang geraten und welche Rolle die menschliche Wahrnehmung spielt, wenn dieser Zusammenhang im Medium kausal ‚vermittelt‘ wird.266 Dies erfordert auch begriffliche Klärungen.

a) Kausalität und Kontinuität

In der physikalischen Welt – nicht unbedingt in der Welt der Comics (vgl. Abbildung 36 und Abbildung 37) –, geht seit dem ‚Big Bang‘ vor ca. 13,7 Milliarden Jahren jedem Ereignis mindestens ein anderes voraus, das mit diesem in kausalem Zusammenhang steht.

265 So ist es vollkommen normal oder in bestimmten Genres sogar notwendige Bedingung, dass im Verlauf einer Erzählung das Unheil in eine zu Anfang heile Welt einzieht und die gegebene Welt dadurch verändert wird. Dies ist freilich keineswegs exklusiv für filmische Erzählung, auch wenn sich meine Selektion von Beispielen hauptsächlich hier bedient. In ‚A History of Violence‘ (David Cronenberg 2005) wird dem Zuschauer zum Beispiel durch die Aussendung von ‚Agenten‘ der Vergangenheit schnell klar, dass die zu Anfang des Films dargestellte heile Welt einer amerikanischen Kleinstadt von einer dunklen Vorgeschichte unterlaufen wird, mit der der Film allerdings nicht einsetzt. Auch solche Fälle können als nachträgliche Ergänzung verstanden werden, die Zusammenhänge in anderem Licht darstellen. Eine so konzipierte nachträgliche Ergänzung ist allerdings insofern vollkommen normal, da die Erzählung eines Films zumeist von der Gegenwart in die Zukunft verläuft und dadurch auch die Vergangenheit der handelnden Personen zumeist eine Rolle spielt. Komplexer wird es allerdings, wenn Filme mit diesem Prinzip experimentieren, wie dies beispielsweise im segmentweise rückwärts erzählten Film ‚Memento‘ (Christopher Nolan 2000) der Fall ist.

266 Teile dieses Kapitels wurden bereits zur Diskussion gestellt und veröffentlicht in: Frank Furtwängler:

„Mensch-Maschine Computerspiel. Über eine notwendige Paartherapie in der Medienrealität“, in: Jahrbuch für Computerphilologie 7, Paderborn 2006. Online-Text in: Jahrbuch für Computerphilologie – online, URL:

http://computerphilologie.uni-muenchen.de/jg05/furtwae.html (19.01.2012).

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Was davor war ist schwer entscheidbar – definitionsloser Raum, definitionslose Zeit zu einem Zeitpunkt, an dem es noch keinen Zeitpunkt gab und der sich logischen Erwägun-gen für immer entziehen mag. Zugegebenermaßen interessiert dies erst, seit es den Menschen gibt, und als sich Menschen schließlich diese Frage stellen konnten, waren sie längst für einen großen Teil der Kausalitäten selbst die Ursache. Um aus dieser Sachlage heraus dennoch zu bestimmen, wer oder was für Kausalität in der Welt und zwischen deren Ereignissen letztlich verantwortlich ist, mussten Zuständigkeitsbereiche definiert werden. So konnten kausale Zusammenhänge an höhere Mächte gebunden oder später dann auch in rein naturwissenschaftliche Kontexte gesetzt werden.

Abbildung 37: ‚Und Zeit ist ein Kreis‘ und das Ende der Zeit ist ihr Anfang hinter dem ‚kosmischen Vorhang‘, aus: .Martin Pasko/J. L. Garcia Lopez et al.: „Superman und der Flash - Rennen ans Ende der Zeit! (Superman and The Flash - Race to the End of Time!)“, aus: DC Comics Presents, No. 2, September-Oktober 1978, S. 9.

Werner Heisenberg erfasste die Begriffsgeschichte zur Kausalität in konziser Weise:

Die Verwendung des Begriffs Kausalität für die Regel von Ursache und Wirkung ist historisch noch relativ jung. In der früheren Philosophie hatte das Wort causa eine viel allgemeinere Bedeutung als jetzt. Zum Beispiel wurde in der Scholastik im Anschluß an ARISTOTELES von vier Formen der ‚Ursache‘ gesprochen. Dort wird die causa formalis genannt, die man etwa heute als die Struktur oder den geistigen Gehalt einer Sache bezeichnen würde; die causa materialis, d.h. der Stoff, aus dem eine Sache besteht; die causa finalis, der Zweck, zu dem eine Sache geschaffen ist,

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und schließlich die causa efficiens. Nur die causa efficiens entspricht etwa dem, was wir heute mit dem Wort Ursache meinen.267

Heisenberg beschreibt hier, wie sich die Veränderung des „Begriffs causa zu dem heutigen Begriff Ursache“ im Laufe der Jahrhunderte vollzogen hat, „im inneren Zusammenhang mit der Veränderung der ganzen von den Menschen erfaßten Wirklichkeit und mit der Entstehung der Naturwissenschaft beim Beginn der Neuzeit“. Ich zitiere dies ausführlich weiter:

In demselben Maße, in dem der materielle Vorgang an Wirklichkeit gewann, bezog sich auch das Wort causa auf dasjenige materielle Geschehen, das dem zu erklärenden Geschehen vorherging und dies irgendwie bewirkt hat. Daher wird auch bei KANT,der ja im Grunde doch an vielen Stellen einfach die philosophischen Konsequenzen aus der Entwicklung der Natur-wissenschaften seit NEWTON zieht, das Wort Kausalität schon so formuliert, wie wir es aus dem 19. Jahrhundert gewohnt sind: „Wenn wir erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei je-derzeit voraus, daß etwas vorhergehe, woraus es nach einer Regel folgt.“ So wurde allmählich der Satz von der Kausalität eingeengt und schließlich gleichbedeutend mit der Erwartung, daß das Geschehen in der Natur eindeutig bestimmt sei, daß also die genaue Kenntnis der Natur oder eines bestimmten Ausschnitts aus ihr wenigstens im Prinzip genügt, die Zukunft vorauszu-bestimmen. So war eben die Newtonsche Physik geartet, daß man aus dem Zustand eines Sy-stems zu einer bestimmten Zeit die zukünftige Bewegung des SySy-stems vorausberechnen konnte.

Die Anschauung, daß dies in der Natur grundsätzlich so sei, wurde vielleicht am allgemeinsten und verständlichsten von LAPLACE ausgesprochen in der Fiktion eines Dämons, der zu einer gegebenen Zeit die Lage und Bewegung aller Atome kennt und dann in der Lage sein müßte, die gesamte Zukunft der Welt vorauszuberechnen. Wenn man das Wort Kausalität so eng interpretiert, spricht man auch von ‚Determinismus‘ und meint damit, daß es feste Naturgesetze gibt, die den zukünftigen Zustand eines Systems aus dem gegenwärtigen eindeutig festlegen.268 Uns genügt an dieser Stelle die pragmatische Zusammenfassung Heisenbergs, erschienen Mitte der 1960er Jahre in ‚rowohlts deutscher enzyklopädie‘, die nicht einmal das Zitat Kants belegte.269 Mein Zugriff ist zweckorientiert und selbstgemacht:

Die ‚Steuerung‘ der Kausalitäten kann – jenseits von Physik und Metaphysik – anthropolo-gisch begründet werden. Heisenberg spricht dies im Zusammenhang mit Kant und Newton an, wenn er die Kausalität mit der ‚Erwartung‘ zusammenbringt, „daß das Geschehen in der Natur eindeutig bestimmt sei“.270 Doch bereits in der Fähigkeit, zukünftige Ereignisse aus sogenannten ‚Naturgesetzen‘ oder den Systeminformationen der Vergangenheit und Gegenwart berechnen zu können, erkennen wir die gravierende Abhängigkeit der kausalen Zusammenhänge unserer Welt von Konstruktionen der Menschen, die keineswegs rein

267 Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 24.

268 Ebd., 24f.

269 Man könnte die gesamte Geschichte aufrollen und sie sich beispielsweise anhand des Gelehrtenstreits zwischen den Parteien Newton und Leibniz vor Augen führen; vgl. Samuel Clarke: Der Briefwechsel mit G. W.

Leibniz von 1715/1716, Hamburg 1990, hier besonders auch die Einführung von Ed Dellian. Der Gelehrtenstreit ist im Briefwechsel Samuel Clarkes mit G. W. Leibniz von 1715/16 eindrücklich für die Wissenschafts- und Philosophiegeschichte dokumentiert. Über die Vermittlung dieser beiden ‚Anwälte‘ ist dies ein ‚virtueller‘ Streit zwischen dem noch lebenden Sir Isaac und dem damals schon 65 Jahre toten Descartes, und gleichermaßen auch ein Streit zwischen den antiken philosophischen Schulen des

Sokrates/Platon und Aristoteles – in jeweils entsprechender Gegenüberstellung. Das wichtigste ist hier jedoch für den Moment gesagt.

270 Heisenberg: Das Naturbild der heutigen Physik, S. 25.

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naturgegeben sind. Man erkennt die Verschiebung hin zum Menschen deutlich, die auch ein Resultat der modernen Physik ist und die in Heisenbergs Buch über das Naturbild (eben der „heutigen Physik“, wie es heißt) ein wichtiges Resultat ist, das er populärwissen-schaftlich vermitteln will.271

Für eine anthropologische Fundierung der Kausalitätsbestimmung muss der Mensch sich selbst die Fähigkeit zusprechen, jedem Ereignis, das er erfährt, andere zuordnen zu können. Diese Zuordnungen entspringen seinen Erwartungen, damit letztendlich geprägt durch Erfahrungen, die Menschen in ihren mannigfaltigen Bezugswelten oder Sinnsystemen zwischen Naturwissenschaft und Religion auf kollektiver und individueller Ebene prägen. Die doppelte Aussage ist hierbei bezeichnend, da der Mensch auch die Erfahrungen in eben jenen Bezugswelten vorprägt, indem er diese Welten selbst aufbaut und gestaltet. Die Erfahrungen prägen ihn wiederum im Gegenzug. Die kausalen Bezüge, die jemand zwischen Ereignissen herzustellen vermag, müssen dabei keinesfalls von größeren Gruppen nachvollziehbar sein.

Sie können ausschließlich individuell gelten.272

Menschen besitzen die Fähigkeit zu solchen Zuordnungen also, weil sie entscheidend auf eigene und kollektiv vorhandene Sinn- und Erfahrungshorizonte zurückgreifen können.

Ohne diese wären sie nicht nur unfähig, die Kausalitäten in der Welt für sich und ihr eigenes Weltverständnis herzustellen, sondern sie würden ohne eine solche Rückbindung die Grundlage ihrer wahrgenommenen Welt im Ganzen verlieren. Sie wären Treibgut im

‚Strom der Zeit‘, der in unserer Wahrnehmung den Raum durchfließt, unfähig die Welt zu ordnen und sich selbst darin zu finden. Durch die Fähigkeit, Bezüge zwischen Ereignissen herstellen und dadurch gerade auch zukünftige Ereignisse antizipieren zu können, kann der Mensch nicht nur verstehen, sondern seine tatsächlichen und virtuellen/medialen Welten sicher und selbstbewusst durchqueren, indem Ordnung hergestellt wird. In diesem Sinne verleiht die Fähigkeit kausaler Zuordnungen dem Menschen Macht und Kontrolle – mindestens über seine subjektive Welt oder eine Welt, die er selbst gestaltet, indem er sie kontrolliert. Dies ruft die Spieldefinition aus Kapitel V.2 auf, in der die Kontrolle über ein etabliertes System eine tragende Rolle spielt.

In der Herstellung von Kontinuität zwischen Ereignissen über kausale Verknüpfungen werden nicht in jedem Moment eines Ereignisses voraussetzungslos Sinnzusammenhänge gestiftet und begründet. Es werden Rückbindungen jeglicher Art an die individuelle und kollektive Vergangenheit reaktiviert, aktualisiert, neu konstituiert. So ist das Steuerungspo-tential des Vorgängigen für das Aktuelle stets als Feedback-Dynamik zu begreifen. Für das Verständnis der vielschichtigen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Spiel und Medium haben solche Überlegungen und Beobachtungen wichtige Bedeutung.273

271 Die Figur des Laplaceschen Dämons ist nicht zuletzt ebenso eine Verschiebung hin zu einer kognitiven Instanz, die die Welt lenkt – zwar kein Mensch, aber immerhin eine Personifizierung abstrakter Prinzipien, nämlich derer Newtons als Dämon.

272 Der hier zugrunde gelegte Kausalitätsbegriff ist dem Anlass entsprechend wirklich äußerst pragmatisch gedacht. Er setzt direkt voraus, dass Kausalität unmittelbar erfahrbar beziehungsweise in der Erfahrung gegeben ist. Die hier angegebene Grundlegung geht sogar in ihrer anthropologischen Begründung noch weiter in der Abgrenzung zu denjenigen Positionen der Philosophie, die Kausalität als eine nur indirekt observable theoretische Relation verhandeln. Zur einführenden Darlegung dieser grundsätzlichen Positionen, vgl. beispielsweise: Ernest Sosa/Michael Tooley (Hrsg.): Causation, Oxford 1993, S. 4ff.

273 Die Grundlegung dieses Unterkapitel mag durch ihre Allgemeinheit von vornherein unterschiedliche Disziplinen an die eigenen Modelle erinnern und diese könnten durchaus als zuständig befragt werden. Die von mir beispielsweise nicht als konkurrierend verstandenen Modelle einer Narratologie, die sich ausgiebig mit kausalen und chronologischen Ordnungsstrukturen in Erzählungen auseinandergesetzt hat, könnten hier konstruktiv eingebracht werden – müssen sie aber nicht. Angesprochen wäre hier im konkreten Fall schon

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b) Kausaler Umschlagplatz Mensch

Was passiert zwischen Medium und Mediennutzer? Wie nutzen Medien uns, wenn wir sie nutzen? Wie beziehen sie uns ein, um zwischen den in ihnen stattfindenden Ereignissen kausale Zusammenhänge herzustellen, die für uns überhaupt erst Bedeutung entwickeln können? Wie ändert sich dieser Einbezug, wenn Medien interaktiv und damit auch zu Spielen werden?

In der Kunst-und Bildwissenschaft formuliert die Frage nach dem wahren ‚Ort der Bilder‘

ein besonders transparentes Bemühen, das eigentliche Medium zwischen unserer Wahrnehmung und Verarbeitung der materiellen Medien und den materiellen Medien selbst zu bestimmen.274 Unter anderem hat Hans Belting in einer ‚Bildanthropologie‘ immer wieder darauf hingewiesen, dass Bilder weder an der Wand hängen oder auf dem Bildschirm lokalisiert sind, noch in unseren Köpfen allein hausen. Während das Englische zwischen den mentalen (inneren) und den materiellen Bildern sprachlich in ‚image‘ und

‚picture‘ unterscheiden kann, kommt es im deutschen ‚Bild‘ zu einer Fusion, die gerade die Untrennbarkeit in kontinuierlichem Austausch zwischen ‚image‘ und ‚picture‘ betonen kann.275 Das eigentliche Bild ist zwischen den Bildern: „Zwar sind sie [unsere eigenen, inneren Bilder, FF] ungenauer als die Bilder im technischen Gedächtnis der Medien und der Schrift, und doch füllen sie sich allein mit jenem persönlichen Sinn, den nur wir ihnen geben können – ganz abgesehen davon, daß wir auch die technischen Bilder im Blick und in der Erinnerung erst animieren müssen, um sie uns anzueignen.“276

Belting sieht hierüber einen neuen Zugang zur Ikonologie, und dieser Zugang hat eine anthropologische Erneuerung erfahren. Abseits der kulturellen Prägungen spezifischer Bildräume und -systeme in Epochen, werden nun die individualpsychologischen Dimensionen von Bildwelten mitgedacht und hier in den Aussagen oft überhaupt nicht unterschieden. Dies macht den Ansatz methodisch problematisch, da er verallgemeinernde Aussagen förmlich provoziert und auch selbst formuliert, sie aber gleichzeitig durch den

der Versuch ganz grundlegender Differenzierungen von unterschiedlichen Ereignisordnungen in der

erzählenden Literatur, wie dies innerhalb des russischen Formalismus versucht wurde und dessen Erkenntnisse später in den Strukturalismus eingingen, dabei in den dominanten Begriffen ‚histoire‘ und

‚discours‘ Niederschlag fanden. Spätere Begriffsdifferenzierung in Einklang zu bringen, ist dabei durchaus schwierig. Ein guter Überblick über die einzelnen Arbeiten mit oft gleichem Interesse, aber konträren Begrifflichkeiten ist z.B. zu finden in: Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S. 22ff.

274 Vgl. Belting: Bild-Anthropologie. Auch in literaturwissenschaftlichen Modellen öffnete sich der Text dem Rezipienten, wie die Bilder sich dem Betrachter öffneten. Dies zunächst in der Wirkungs- beziehungsweise Rezeptionsästhetik, was von Iser dann am Ende der 1980er Jahre als ‚anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft‘ formuliert wurde, vgl. Kapitel I.2 und VI.2.

275 Hans Belting: „Image, Medium, Body: A new Approach to Iconology”, in: Critical Inquiry, 31, 2, 2004, S.

302f. Als Anmerkung sei hinzugefügt, dass die Unterscheidung von ‚image‘ und ‚picture‘ dabei eine

theoretische Konstruktion sein mag, die in der alltäglichen Verwendung im Englischen so nicht ohne weiteres bestätigt wird. Ähnliches gilt für die Unterscheidung von ‚game‘ und ‚play‘, in die man ebenfalls viel

hineininterpretieren kann. Das Deutsche führt einen mit den Begriffen ‚Bild‘ und ‚Spiel‘ erst gar nicht in die Versuchung, hier sozusagen ‚natürliche‘ Ordnungen in der Sprache auszumachen.

276 Hans Belting: „Der Ort der Bilder”, in: Olaf Breidbach/Karl Clausberg (Hrsg.): Video Ergo Sum.

Repräsentation nach innen und außen zwischen Kunst- und Neurowissenschaften, 4. Band der INTERFACE-Reihe, Hamburg 1999, S. 291.

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Anschluss an individuelle Prozesse von Bildwahrnehmung verhindert. Die ‚Individualität‘

bezieht sich nicht ausschließlich auf die Figur eines idealen, impliziten Rezipienten, sondern lässt auch durchaus real existierende Rezipienten zu. Dies macht verallgemeinerte Aussagen schwieriger, betont aber gleichzeitig die Vielseitigkeit unserer Bildwahrnehmungen.

Dieses Grundmodell der Bildanthropologie ist vergleichbar offen konzipiert wie jenes der anfangs thematisierten Kausalitätszuordnungen zu Ereignissen, die individuell und kollektiv vollzogen werden, die individuelle jedoch nicht unbedingt Teil der kollektiven Konstrukti-on sein muss. Äußere Bilder werden – wie Belting plausibel darlegt – durch unsere inneren Bilder über Zuordnungen ‚animiert‘. Das äußere Bild kann man im Sinne unserer (individuellen und/oder kollektiven) Konstruktion von Kausalitätszusammenhängen auch als Ursache verstehen und das innere Bild als Wirkung. Genauso viel Berechtigung hat allerdings die Behauptung, das innere Bild sei die Ursache und das äußere die Wirkung – eine Wirkung, die ausgehend vom Individuum dann wieder innere Bilder kollektiv prägen kann, von denen dann wiederum äußere, materielle entstehen werden und so weiter und so fort. Dies definiert das Verhältnis von inneren und äußeren Bildern als Austauschprozess, dessen Ursprung (oder ursprüngliche Ursache) man nicht festlegen kann. Die Wirkungsdy-namik in einer kausalen Kette abzubilden hat zudem Grenzen.

Die menschliche Bildwahrnehmung scheint bei alldem so unbestimmbar wie der Mensch

Die menschliche Bildwahrnehmung scheint bei alldem so unbestimmbar wie der Mensch