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Zielsetzung und Methodik

Von der Literaturwissenschaft wurden die auf der Basis der Hypertext-Systematik entstandenen Literaturformen zunächst vielfach ignoriert. Allenthalben wurde gemut-maßt, es handele sich bei den neuen Literaturformen lediglich um “alten Wein in neuen Schläuchen”.83 Da der Literatur im Verlaufe der nachfolgenden Jahre zudem weder ein Erfolgswerk noch irgendeine entscheidende revolutionäre Neuerung, zum Beispiel eine bislang noch nicht dagewesene Präsentationsform, beschieden war, bleiben Zurück-haltung und Skepsis nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Barriere für die Akzeptanz von Internet-Literatur.

Die Verfasserin der vorliegenden Arbeit sieht gleichwohl Hinweise dafür, daß die neuen Literaturformen die konventionelle Literatur zu erweitern und zu bereichern vermögen. Sie hält es deshalb für notwendig, Hemmungen und Zweifel aufzubrechen und das Interesse verstärkt auf die neuen Literaturformen hinzulenken.

Allerdings erfordern diese eine ganz spezifische neue Form des Denkens, Handelns und Schaffens, die an den Computer und das WWW gebunden ist, und setzen somit die Bejahung der elektronischen Medien voraus. Durch das bisherige Angebot an

80 Gersmann, “Schöne Welt der bunten Bilder”, 110.

81 Die Unbeständigkeit des WWW wird ein zentrales Thema des Kapitels II. bilden.

82 Basil Wegener, “Chaos im Netz macht der Internet-Ökonomie zu schaffen”, heise online, 26.07.2000, <http://www.heise.de/newsticker/data/jk-26.07.00-000>, 09.07.2002.

83 Todesco, “Hyperkommunikation”, 115.

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Sekundärliteratur konnte der dringende Informationsbedarf noch nicht gedeckt wer-den. Ziel der vorliegenden Arbeit ist der Versuch, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen.

Die Arbeit soll dazu beitragen, das Literaturangebot im WWW in seinen ver-schiedenartigen Konzeptions- und Präsentationsformen sowie die daraus resultieren-den Möglichkeiten genauer zu erschließen und Rezipienten und potentiellen Autoren unter Erörterung sowohl inhaltlicher als auch formaler Gestaltungs- und Darbie-tungsalternativen näher zu bringen. Möglicherweise kann es auf diese Weise auch gelingen, die neuen Literaturformen verstärkt in das Blickfeld literaturwissenschaft-licher Betrachtung zu rücken.

Bei der Analyse des Literaturangebots im World Wide Web soll folgendes Problem im Mittelpunkt vorliegender Arbeit stehen: Welche Bereicherungen und Chancen, aber auch welche Konsequenzen und gegebenenfalls Risiken birgt die neue Dimension des Informationsumschlages im Bereich englischsprachiger Literatur?

Als Ausgangspunkte auf dem Wege zur Klärung dieser Sachlage werden die nachstehenden Fragen dienen:

Wie lassen sich im World Wide Web publizierte Werke angesichts der bestehen-den rechtlichen und technischen Schwierigkeiten wie Kontinuität, Zitierform, Urheberrecht oder Archivierung in die literaturwissenschaftliche Arbeit integrie-ren?

Ist die Bandbreite der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Begriffe für die Interpretation der neuen Literaturformen ausreichend oder ist gegebenenfalls eine Überarbeitung beziehungsweise eine Anpassung der herkömmlichen Termi-nologie erforderlich?

Wie präsentiert sich englischsprachige Literatur im World Wide Web?

Wie ist dieses Literatur-Angebot zu bewerten? Welche Maßstäbe sind dabei anzu-wenden?

Hat das World Wide Web neue Literaturformen hervorgebracht und wie stellen sich diese dar?

Neben der erwähnten Unübersichtlichkeit des World Wide Web sind vor allem sein kontinuierlicher und sehr schneller Wandel die entscheidenden Gründe dafür, daß es nicht ohne weiteres möglich ist, eine verbindliche Aussage über die derzeitigen Verhältnisse auf dem Gebiet digitaler Medien zu treffen. Tatsächlich ist

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nur sehr schwer zu beurteilen, an welchem Punkt wir uns derzeit befinden und wel-cher Grad des geistig sowie technisch Machbaren bereits erreicht ist, da die Entwick-lung des Datennetzes so schnell und ruhelos verläuft, daß viele FeststelEntwick-lungen nur flüchtigen Wert besitzen können.84 Wir befinden uns nach wie vor in einer perma-nenten Phase des Erprobens und Entwickelns. “Dennoch sind erste Wegmarken gesetzt, Thesen formulierbar”, wie Auer bereits erkannt hat.85

Möglicherweise ist eben diese Sachlage ursächlich dafür, daß bis zum gegen-wärtigen Zeitpunkt keine Untersuchungen vorliegen, die den obigen Fragenkatalog in ausreichender Weise beantworten. Obgleich bereits zahlreiche Abhandlungen das Thema der Literatur in Verbindung mit dem World Wide Web zum Gegenstand hatten, konnten sie den oben erwähnten Vorgaben in der Substanz nicht gerecht wer-den.86 Vielmehr ist in vielen Fällen recht deutlich erkennbar, daß sich die Autoren vor der Erstellung ihrer kritischen Ausführungen nur oberflächlich mit dem WWW und dem dort angebotenen Material auseinandergesetzt haben.87 In vielen Fällen

84 Gates stellt hierzu fest: “[...] the Internet of today is not the Internet of even a short time ago. The pace of its evolution is so rapid that a description of the Internet as it existed a year or even six months ago might be seriously out-of-date. This adds to the confusion. It is very hard to stay up-to-date with something so dynamic.” Gates, The Road Ahead, 140.

85 Vgl. Auer, “Der Leser als DJ”, 173.

86 Die Abfassung vorliegender Arbeit ist unter anderem auch durch jene Erfahrungen motiviert, von denen Kaiser berichtet. Dieser war dessen überdrüssig, auf der Suche nach einem adäquaten Internet-Literaturführer fortwährend nur mit einer großen Auswahl an Handbüchern konfrontiert zu werden, die neben einer technischen Beschreibung der elektronischen Medien lediglich eine Anleitung zu ihrer Bedienung anbiete, und fährt fort: “Dieses Buch wollte ich eigentlich nur kaufen – nicht schreiben. Doch im Buchhandel war es nicht zu bekommen. Bücher über das Inter-net füllten dort zwar schon etliche Regale, aber einen literarischen Wegweiser fand ich unter ihnen nicht.” Kaiser, “Vorbemerkung”, in: Ders., Literarische Spaziergänge im Internet. Obgleich er seinem Anspruch, ein solches Handbuch zur Literatur im Internet zu liefern, in gewisser Weise gerecht wird, bietet auch er nur eine Auswahl an kommentierten Adressen zu Internet-Ressourcen.

Informationen über Art, Form und Inhalt der Literatur geben Kaisers Ausführungen nicht. Weitaus interessantere Aufschlüsse erlauben die Beiträge des Hyperliterarischen Lesebuches von Suter und Böhler. Die Herausgeber haben sich zum Ziel gesetzt, theoretische Abhandlungen in Ver-bindung mit einem Überblick über das Angebot hyperfiktionaler literarischer Texte zu präsen-tieren. Die Beiträge liefern in der Tat zahlreiche Denkanstöße, gleichzeitig lassen die Autoren jedoch viele Fragen unbeantwortet. Beat Suter und Michael Böhler, Hyperfiction – Hyperlitera-risches Lesebuch: Internet und Literatur (Frankfurt a.M., 1999). Einen ähnlichen Eindruck erhält der Leser der Ausgabe Digitale Literatur der Zeitschrift Text + Kritik. Die Autoren versuchen ausdrücklich, “[d]en Fragestellungen und Herausforderungen, die das neue Medium mit sich bringt”, nachzugehen. Auch in diesem Falle aber bleibt oben aufgestellter Fragenkatalog unbeant-wortet. Digitale Literatur [Text + Kritik: Zeitschrift für Literatur 152 (2001)]. In Beat Suter, Hyperfiktion und interaktive Narration im frühen Entwicklungsstadium zu einem literarischen Genre (Zürich, 2000) versucht der Autor eine Analyse und Klassifizierung des Resultats der Ver-einigung von Literatur und Computermedien, legt den Schwerpunkt allerdings zu sehr auf tech-nische Aspekte der Hypertext-Systematik.

87 Das Gegenteil beweist Wingert, der das digitale Werk afternoon, a story sehr ausführlich unter-sucht hat, schließlich aber zu der Erkenntnis gelangt ist, daß “afternoon nicht funktioniert”. Bernd Wingert, “Kann man Hypertexte lesen?”, in: Matejovski und Kittler, Hg., Literatur im Infor-mationszeitalter (Frankfurt a.M., 1996), 185–218, hier: 212.

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haben wir es offenbar mit dem Phänomen der Self-fulfilling prophecy zu tun, wonach eine Voraussage aufgrund der entsprechenden inneren Einstellung und durch unbe-wußtes persönliches Zutun genau in jener Konstellation eintritt, die man voraus-gesagt oder instinktiv erwartet hat.88

In anderen Fällen wird die Beschäftigung mit Literatur im WWW negativ beeinflußt durch falsche Erwartungshaltungen hinsichtlich des angebotenen Materi-als. Dies bedeutet, daß zahlreiche Nutzer lediglich “Ausschau halten nach dem, was sie kennen und in dem neuen Medium und im Gewand der neuen Technik wieder-erkennen können”.89 Somit sehen sie nur das, was sie instinktiv sehen w o l l e n.

Im Hinblick auf belletristische Texte beispielsweise erwarten viele Leser elektronische Ressourcen, die sowohl hinsichtlich ihres optischen Aufbaus als auch bezüglich ihrer inhaltlichen Konzeption der bekannten und vertrauten Druckform gleichkommen. Im Zweifelsfalle übersieht der Leser mit einem solcherweise ein-geschränkten Blickwinkel einen Großteil der angebotenen Literatur, da das präsen-tierte Material nicht die traditionellen Charakteristika aufweist. Weil somit die ver-bleibenden Ressourcen den Erwartungen des Nutzers im allgemeinen nicht ent-sprechen können, muß dessen Urteil notwendigerweise nachteilig für die neuen Literaturformen ausfallen. Demzufolge mag mancher Todescos Ansicht teilen, Lite-ratur in Hypertext-Form zu lesen sei ein ebensolcher Genuß, wie Konzerte am Tele-fon zu hören90. Entsprechend lesen sich die Bewertungen wie folgt: “Kleine Text-trümmer”91, “selbsterzeugte Medienbricolagen”92, “Klickeratur”93, “Affären jenseits

88 Bezüglich dieses Umstandes umreißen Suter und Böhler pointiert das Bild eines geplagten Nutzers, der sich rasch wieder von den neuen Formen der Literaturpräsentation abwendet, “begleitet von einer hastigen Erleichterung im Befund des literarästhetisch bisher wenig Überzeugenden an den neuen Produkten”. Siehe Suter und Böhler, “Hyperfiction”, 7f. Auch Douglas ist sich der Tatsache bewußt, daß die ursprüngliche, traditionelle Vorstellung von Texten die Wahrnehmung von Hypertexten nachhaltig belastet: “Even when addressing the experience of reading actual interactive narratives, critics seem to focus less on the texts than on their own treasured memories of reading, fond recollections of live-action game-playing, or vague notions of what a marriage of digital fluidity and narrative fiction ought, ideally, to achieve.” Douglas, The End of Books – Or Books without End?, 3.

89 Suter und Böhler, “Hyperfiction”, 8. Auch Hautzinger empfindet es als eine Barriere für die Aner-kennung der Netzliteratur, daß diese “als ‘Literatur’, und damit als ‘Ersatz’ für gedruckte Bücher angesehen wird”. Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 116.

90 Todesco, “Hyperkommunikation”, 115.

91 Markus Krajewski, “Spür-Sinn. Was heißt einen Hypertext lesen?”, in: Lorenz Gräf und Markus Krajewski, Hg., Soziologie des Internet: Handeln im elektronischen Web-Werk (Frankfurt a.M.;

New York, 1997), 60–78, hier: 67.

92 Zimmer, Die Bibliothek der Zukunft, 56.

93 Dirk Schröder, “Der Link als Herme und Seitensprung – Überlegungen zur Komposition von Web-fiction”, in: Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 43–60, hier: 50.

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des Schönen”94, Texte, die “der Schnelligkeit des Mediums entsprechend unsorg-fältig und geschwätzig”95 sind – kurzum: “Alles nur zweite Wahl”96, um lediglich einige wenige Beispiele zu nennen.

So gerät der Nutzer in einen circulus vitiosus: Aufgrund der mangelhaften Qualität der Suchergebnisse kommt ein Sondieren weiterer Literaturressourcen mei-stens nicht mehr in Frage, so daß es letztlich bei einer oberflächlichen Betrachtung verbleibt.

Daher scheint es geboten, erstmals eine über das bisherige Maß hinaus-gehende, intensive und genaue Bestandsaufnahme des literarischen Angebots im World Wide Web durchzuführen, um detailliert Aufschluß über Form und Inhalt der für Anglistik und Amerikanistik möglicherweise relevanten elektronischen Dokumente zu erhalten. Zunächst erscheint es allerdings unerläßlich, die Frage nach einer neuen Terminologie sowie das Problem der Gattungseinordnung von Online-Literatur zu klären und damit eine eindeutige Diskussionsgrundlage zu schaffen.

Weiterhin sollen einzelne elektronische Werke exemplarisch herausgegriffen und detailliert analysiert werden. Dies soll nach einer Methode erfolgen, die der Vor-gehensweise bei gedruckter Literatur in weitest möglichem Maße entspricht.

Auf diesem Wege sollte es gelingen, unter Berücksichtigung der derzeitigen Probleme hinsichtlich Urheberrecht und Haltbarkeit der Speichermedien sowie Konti-nuität und Zitierung der elektronischen Ressourcen eine Prognose für die nahe Zukunft der neuen elektronischen Formen englischsprachiger Literatur zu erstellen. Die vor-liegende Studie soll somit einen Beitrag zur Beantwortung der von Luserke gestellten Frage leisten: “Wo ist der Ort der Literatur in den Medien und wo ist der Ort der Medien in unserer Kultur?”97

94 Christa Karpenstein-Eßbach, “Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Affären jenseits des Schönen”, in: Griem, Hg., Bildschirmfiktionen, 13–32, hier: 13.

95 Zoё Jenny, “Ein Geschenk für den Leser? – Tatjana Blobel im Interview mit acht Autoren”, Spie-gel Spezial 10: Die Zukunft des Lesens: Vom Buch zum Internet (1999), 20–24, hier: 23.

96 Suter und Böhler, “Hyperfiction”, 8.

97 Matthias Luserke, “Kultur, Literatur, Medien. Aspekte einer verwickelten Beziehung”, in: Renate Glaser und Matthias Luserke, Hg., Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft: Positionen, The-men, Perspektiven (Opladen, 1996), 169–191, hier: 185.