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Entfaltungsmöglichkeiten des Nutzers

V. Das Phänomen Hypertext – ein Exkurs 102

3. Hypertext-Rezeption

3.2. Entfaltungsmöglichkeiten des Nutzers

3.2.1. Interaktivität

An dieser Stelle sei der Leser daran erinnert, daß im bisherigen Verlauf des Kapitels V.3. vorläufig nur von geschlossenen literarischen Hypertext-Systemen gesprochen wurde. Diese lassen nur e i n e der beiden möglichen Formen der Nutzeraktivität zu, nämlich die der Interaktivität. Geschlossene Hypertext-Systeme basieren auf einer

343 Böhle, Riehm und Wingert, Vom allmählichen Verfertigen elektronischer Bücher, 321.

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festgelegten Struktur, die sich vom Nutzer nicht verändern läßt, innerhalb der er sich aber frei bewegen kann.

Interaktion ist in unterschiedlichen Ausprägungen möglich. Hesse und Mandl differenzieren hier zwischen vier Formen, nämlich

a) der direkten Navigation, bei der der Nutzer anhand des Zeichensystems durch den Hypertext gelenkt wird,

b) der aktiven Exploration, bei der er auf weiterführende Informationen zurückgreift, wie zum Beispiel Tabellen,

c) der Einbindung von Simulationen zum anschaulicheren Verständnis und als Hilfe zur Problemlösung sowie

d) der direkten Rückmeldung auf Problemlösungsvorschläge des Nutzers344.

Zwar orientierten sich Hesse und Mandl bei der Auflistung dieser Formen der Inter-aktivität an multimedialen Lehr- und Lernumgebungen, es besteht aber kein grund-sätzlicher Unterschied zu literarischen Hypertext-Systemen: Dort verlaufen die Fort-bewegung durch den Text, das Auskundschaften der Zusatzinformationen und die Ergebniskontrolle345 nach denselben Prinzipien; einzig das Anschauungsmaterial hat vorzugsweise audiovisuellen Charakter.

Grundsätzlich beziehen interaktive Hypertexte den Rezipienten in das Werk mit ein, weshalb die Kunst der Hyperkultur nicht als ‘Leser’-Kunst bezeichnet zu werden pflegt, sondern als ein Erlebnis, das sich durch die Interaktion von Kunst-werk und Leser ergibt.346 Das individuelle – da immer wieder andersartig erschei-nende – Gesamtwerk ergibt sich aus der gegenseitigen Beeinflussung von Werk und Rezipient; der Leser bestimmt durch Anklicken der textinhärenten Verknüpfungen,

344 Friedrich W. Hesse und Heinz Mandl, unter Mitarbeit von Gabi Reinmann-Rothmeier und Stef-fen-Peter Ballstaedt, “Neue Technik verlangt neue pädagogische Konzepte: Empfehlungen zur Gestaltung und Nutzung von multimedialen Lehr- und Lernumgebungen”, in: Bertelsmann Stiftung und Heinz Nixdorf Stiftung, Hg., Studium Online, 31–49, hier: 44. Diese Form der Interaktion bezieht sich in erster Linie auf Lehr- und Lernprogramme mit Aufgaben und Übun-gen. Dort wird der Nutzer in der Regel durch direkte Rückmeldungen über die Richtigkeit sei-ner Lösungen informiert. Im besten Falle erhält er sogar eine individualisierte Rückmeldung mit speziellen Hinweisen zu seinen einzelnen Fehlern sowie konkreten Vorschlägen zu ihrer Beseitigung.

345 Die in Kapitel IV.2.2. dargestellte Gedicht-Maschine von Seidel illustriert als ein Beispiel für programmgesteuerte Literatur mit Interaktionsmöglichkeiten anschaulich die Funktionalität un-mittelbarer Rückmeldung auf die Eingaben des Nutzers. Seidel, Heretical Rhyme Generator,

<http://www.pangloss.com/seidel/Poem/>, 05.07.2003.

346 Martin Klepper, Ruth Mayer und Ernst-Peter Schneck, “Glossar”, in: Dies., Hg., Hyperkultur, 267–285, hier: 277.

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welchen weiteren Verlauf das Leseerlebnis nehmen soll, wird seinerseits gleichzeitig aber auch durch den Inhalt der jeweiligen Textelemente beeinflußt.

Wie bereits an anderer Stelle, muß auch hier betont werden, daß der Entschei-dungsfreiheit des Lesers klare Grenzen gesetzt sind, da er sich notwendigerweise immer innerhalb des vom Autor vorgegebenen Rahmens bewegt. In Kapitel III.2.1.

wurde bereits angedeutet, was hier und jetzt unübersehbar wird: die I n t e r aktion zwischen Kunstwerk – besser gesagt dessen Gestalter, also dem Autor – und Leser beschränkt sich auf eine reine R e aktion des Lesers auf die Vorgaben des Autors.

Dies hat offensichtlich dazu geführt, daß – wie auch bei dem Wort Literatur – Bestrebungen dahin gehen, den Begriff Interaktivität nicht vorbehaltlos weiterzu-verwenden, sondern ihn durch eine treffendere Bezeichnung zu ersetzen. Aarseth beispielsweise schlägt vor, anstelle von interaction künftig Bezeichnungen wie participation, play oder auch use zu gebrauchen.347 Diesen Vorschlägen entsprächen im Deutschen vermutlich die Bezeichnungen Teilnahme, Spiel oder Nutzung.

Auch wenn der Begriff Interaktion nicht uneingeschränkt überzeugen kann, so stellen die Vorschläge von Aarseth doch keine sachangemessenen Alternativen dar, denn bei den Vorgängen innerhalb eines (geschlossenen ebenso wie offenen) Hypertext-Systems handelt es sich tatsächlich in gewisser Weise um eine Art Wechselbeziehung zwischen Kunstwerk und Leser. Aus diesem Grunde scheint es angeraten, die bereits bestehende und allgemein gebräuchliche Bezeichnung beizu-behalten.

3.2.2. Kooperativität

Für eine Beibehaltung der Bezeichnung Interaktivität spricht zudem die Notwendigkeit der Abgrenzung von einer weiteren Form des Hypertext-Lesens, für die der Begriff der Kooperativität verwendet wird.348 Er steht für die Idee der aktiven und befruchtenden Zusammenarbeit zwischen Autoren bzw. Herausgebern und Lesern und bezeichnet eine Form der Nutzeraktivität, die nur bei offenen Hypertext-Systemen stattfinden kann. Diese sind in der Regel so konzipiert, daß sie nicht nur Zugriffe auf

347 Aarseth, Cybertext, 49.

348 Heiko Idensen, “Schreiben/Lesen als Netzwerk-Aktivität. Die Rache des (Hyper-)Textes an den Bild-medien”, in: Klepper, Mayer und Schneck, Hg., Hyperkultur, 81–107, hier: 104. Christiane Heibach,

“‘Creamus, ergo sumus’ – Ansätze zu einer Netz-Ästhetik”, in: Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 101–112, hier: 110. Hesse und Mandl, “Neue Technik verlangt neue pädagogische Konzepte”, 48.

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interne und -externe Verknüpfungen zulassen, sondern ihr wesentliches Merkmal liegt darin, daß sie Benutzereingriffe in die bestehenden Systemstrukturen gestatten.349

Heibach unterscheidet sechs verschiedene Umgebungen, die eine Koope-ration seitens des Nutzers erlauben:350

1. Feedback und Diskussion

2. Kontrolliert-partizipatives Projektnetz (redaktionell geleitete Gestaltungsfreiheit in vorgegebenen Themenrahmen)

3. Non-partizipatives Work-in-Progress (kontinuierlich fortgeschriebenes Werk als Ergebnis aus Künstler-Dialogen)

4. Mitschreibeprojekt (Fortschreiben bereits existierender Werke)

5. Explorativ-partizipatives Werk (der Nutzer als werkveränderndes Moment) 6. Partizipative Kommunikationsumgebung (der Nutzer als integraler

Mitgestal-ter)

Sie nimmt damit eine sehr differenzierte Unterteilung vor, innerhalb derer sie – unter Punkt 3. – sogar eine ausschließlich Autoren vorbehaltene Form der Mitwirkung in Ansatz bringt.

Die vorgenannten sechs Formen des Benutzereingriffs werden von Heibach ausdrücklich als Gegenpol zur Interaktivität verstanden; sie möchte damit ihren Wert deutlicher hervorheben und sie absetzen von jenen (vorgeblichen) Möglichkeiten der Mitgestaltung, die nicht mehr zulassen als unkreatives Anklicken von Verknüpfun-gen.

In ihrem Anliegen ist Heibach uneingeschränkt zu unterstützen. Nicht mitzu-tragen ist jedoch ihre Verwendung der Bezeichnung Partizipation. Heibach greift

349 Kooperativität ist also als eine Art Weiterentwicklung von Interaktivität anzusehen. Gilster hin-gegen vertritt eine abweichende Auslegung der grundlegenden Eigenschaften des WWW.

Seiner Ansicht nach stellt Interaktivität eine der drei Hauptmerkmale des Web dar: “All three start with the letter I: interactivity, immediacy, and integration. Interactivity, because a well-designed site lets you talk to the players and conceivably influence the way a particular situation is handled; interactivity also means being able to choose your own path through the site. Immediacy, because a frequently updated Web site can put you on the scene of a continuing story, just as I check in every day to track the progress of a cyclist through the Australian outback. And finally, integration, because a good Web site exploits varied forms of media to support its message.” Gilster, Digital Literacy, 154. Hinsichtlich der Attribute Un-mittelbarkeit und Integration ist Gilster uneingeschränkt zuzustimmen, dagegen ist Wider-spruch angebracht, was seine Definition von Interaktivität betrifft. Die Aktivitäten eines Nut-zers dürfen sich nicht auf selbstbestimmtes Agieren beschränken, vielmehr sollte das Web als offenes Hypertext-System ausdrücklich auch die Möglichkeit zu mitgestalterischer Kreativität eröffnen. Genau darin unterscheidet es sich nämlich von webunabhängigen, geschlossenen Hypertext-Systemen.

350 Heibach, “‘Creamus, ergo sumus’”, 107ff.

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damit auf dasselbe Wort zurück, das Aarseth bei seiner Suche nach einer möglichen Alternative für den Terminus Interaktivität favorisiert. Wie im vorangehenden Ab-schnitt bereits festgestellt wurde, ist der Ausdruck Partizipation nicht geeignet, die Bedeutung der – eingeschränkten – Form der Nutzeraktivität (im geschlossenen Hypertext-System) überzeugend zum Ausdruck zu bringen; noch viel weniger taugt die Bezeichnung Partizipation zur Erfassung strukturverändernder Benutzereingriffe (im offenen Hypertext-System). Die ‘Teilnahme’ (Partizipation) eines Nutzers an einem Hypertext-‘Ereignis’ kann sich auch auf reines Miterleben ohne aktive Mit-gestaltung beschränken; bei offenen Hypertext-Systemen sollte der Grad der Aktivi-tät jedoch eindeutig darüber hinausgehen und entsprechend im Terminus zum Aus-druck kommen.351

Aus diesem Grunde scheint das Wort Kooperation geeigneter zu sein, die kreativen Möglichkeiten des Nutzers in den offenen, digitalen Literatursystemen an-gemessen darzustellen.352