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VI. Webbasierte Literatur –

1.1. Ausgewählte Beispiele webbasierter Prosa

1.1.2. The Diary of Samuel Pepys

1.1.2.3. Auswertung

Es ist festzustellen, daß Gyford die Gegebenheiten des neuen Mediums World Wide Web zu nutzen wußte und sie zugunsten einer facettenreichen Präsentation von Pepys’ Tagebuch in sein Forum integriert hat. Obwohl er ein über 300 Jahre altes Werk im Web veröffentlicht, vermag Gyford dem Nutzer aufgrund der täg-lichen Aktualisierung der Einträge das Gefühl des Miterlebens zu vermitteln. Es ist

472 MOTCO Enterprises Limited, “John Rocque London, Westminster and Southwark”, in: Dies.,

Hg., MOTCO UK Directory and Image Database ([12001]),

<http://www.motco.com/MapImages/81002/81002113.jpg>, 01.09.2003.

473 Gyford, “King’s Great Wardrobe”, in: Ders., Hg., The Diary of Samuel Pepys (31.08.2003 [101.01.2003]), <http://www.pepysdiary.com/p/946.php>, 01.09.2003.

474 Ders., “Venison”, in: Ders., Hg., The Diary of Samuel Pepys (31.08.2003 [101.01.2003]),

<http://www.pepysdiary.com/p/383.php>, 01.09.2003.

475 Scotland On Line, “Venison Haunch”, in: Dies., Hg., scotland online.com,

<http://www.scotlandonline.com/heritage/cookery_august_recipe_two.cfm>, 03.09.2003. John McClel-land, “‘Grace Neill’s’ – John McClelland experiences the tradition of Ireland’s oldest bar”, Country-sports and Countrylife.com, <http://www.countryCountry-sportsandcountrylife.com/sections/restaurants/grace- <http://www.countrysportsandcountrylife.com/sections/restaurants/grace-neills/>, 03.09.2003.

VI. Webbasierte Literatur – Analyse und Auswertung 176

Gyford zudem gelungen, sein Forum weitestgehend übersichtlich und logisch struk-turiert zu gestalten. Alle Bedienungselemente und Menüpunkte sind so angeordnet, daß sie praktisch zu bedienen sind, wie es beispielsweise bei den Rubriken des Bereichs Background info der Fall ist, die nicht nur über die Navigationsleiste am oberen Rand der Web-Seite, sondern auch über jeden einzelnen Tagebucheintrag zugänglich sind.

Im Gegensatz zu vielen anderen Herausgebern präsentiert Gyford sein Forum nicht nur als offenes Hypertext-System, sondern er bedient sich auch tat-sächlich der damit gegebenen Möglichkeiten und bietet dem Nutzer so diverse Gelegenheiten zur Aktivität. Deutlich erkennbar signalisieren die Verknüpfungen potentielle Wege zur Interaktion: Der Nutzer findet eine Vielzahl von Einstiegs-punkten vor, die ihn zu zahlreichen weiterführenden Angaben leiten. Diese reichen von den Umständen der Tagebuchentstehung über detaillierte biographische Anga-ben zu Pepys und seiner Familie bis hin zu vielfältigen sonstigen Hintergrund-informationen.

Das Forum ist dergestalt konzipiert, daß sich Erstnutzer schnell mit der Tagebuchthematik vertraut machen, daß gleichzeitig aber auch alle regelmäßigen Besucher der Seite innerhalb des Hypertext-Systems agieren können, ohne allzu häufiger Wiederholungen bestimmter Informationen überdrüssig zu werden. Sind die Hintergründe des Tagebuchs sowie die wiederkehrenden Elemente bekannt, empfiehlt sich die widerkonzeptionelle Rezeption, bei der alle innerhalb des Doku-ments offerierten zusätzlichen Informationseinheiten unbeachtet bleiben und der Leser sich ausschließlich auf den Hauptstrang des Hypertext-Systems konzen-triert.476

Hinsichtlich der Konzeption ist außerdem die Rubrik Recent news hervorzu-heben, in der Gyford über alle themenbezogenen Geschehnisse sowie foruminterne Veränderungen informiert. Neben der täglichen Ergänzung des Tagebuchs prägt auch dieser Bereich aktueller Meldungen in entscheidendem Maße den Web-Charakter des Projekts.

476 Siehe hierzu Kapitel V.3. vorliegender Arbeit.

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Neben den Möglichkeiten zur Interaktion bestehen vor allem auch Gelegen-heiten zur Kooperation. Hier ist positiv anzumerken, daß sich die Kooperativität nicht auf eine (Alibi-)Mitarbeit beschränkt, sondern der Nutzer gleich an mehreren Stellen aufgefordert ist, die Tagebucheintragungen von Pepys anhand persönlicher Kenntnisse zu erläutern. Er kann seinen Hinweis entweder als unmittelbare Ergän-zung zu Pepys’ Aufzeichnungen verfassen oder ihn im gesonderten Bereich der Hin-tergrundinformationen einstellen. Aufgrund dieser Trennung sind die allgemein-gültigen Kommentare auch nach längerer Zeit noch problemlos wiederzufinden. Alle darüber hinausgehenden allgemeinen Anmerkungen können in einem speziellen Diskussionsforum veröffentlicht werden. Die Einrichtung dieses Kommunikations-bereichs ist ebenfalls als eine durchdachte Entscheidung hervorzuheben, da auf diese Weise einerseits Gelegenheit zur Meinungsäußerung gegeben wird, andererseits die themenbezogenen Kommentare nicht mehr von themenfernen Anmerkungen durch-setzt sind.

Der Vorteil, den die Nutzergemeinschaft aus den Kooperationsmöglichkeiten ziehen kann, ist außerordentlich. Die Nutzerkommentare im Bereich venison bei-spielsweise veranschaulichen besonders deutlich die Bandbreite von Informationen, die sich durch ein derart offenes und zur Kooperation einladendes Medium wie das World Wide Web zu einem bestimmten Thema bündeln lassen. Die allgemeine Zugänglichkeit und Unmittelbarkeit des Web sowie – vermutlich zu einem nicht geringen Maße – auch seine Anonymität tragen dazu bei, daß von Nutzerseite in großer Zahl und Themenbreite ideenreiche und bisweilen sogar ausgefallene bis kuriose Hinweise bereitgestellt werden. Für den Unterhaltungswert der Tagebuch-einträge erweist sich dies in der Mehrzahl der Fälle als vorteilhaft. Insofern wird der Charakter des Forums entscheidend durch die Möglichkeit zur Kooperation mitbe-stimmt.

Neben den genannten Vorteilen dürfen jedoch auch die Nachteile des Tage-buchforums nicht unerwähnt bleiben.

Der erste Kritikpunkt betrifft den Rückgriff auf die Tagebuchausgabe von Widger. Vermutlich aufgrund von Urheberrechtsgründen verwendet Gyford nicht die genauere und vollständigere Veröffentlichung von Latham und Matthews, sondern gebraucht als Vorlage die digitalisierte Version aus dem Jahre 2001, die auf der alten Ausgabe Wheatleys von 1893 basiert.

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Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf Gyfords Zensurmaßnahmen. In seiner Funktion als Herausgeber und Gestalter der Web-Seite verfolgt er ein kon-kretes Konzept mit bestimmten Regeln für die Kooperation, deren Einhaltung er konsequent verfolgt und notfalls auch durch persönliche Intervention zu sichern weiß.477 Wenngleich die Gestaltung des Forums nicht willkürlich, sondern anhand einer bestimmten Zielsetzung erfolgt, bleibt doch anzumerken, daß die Festlegung allzu strenger Maßstäbe und allzu nachdrückliches Beharren auf ihrer Befolgung dem eigentlichen Anliegen unter Umständen auch abträglich sein können. Sicherlich ist eine Zensur aufgrund der Offenheit und allgemeinen Zugänglichkeit des Forums unumgänglich. Wie aber das Problem der Kontrolle in Projekten kooperativer Zu-sammenarbeit zu lösen wäre – durch Nutzerregistrierung, gegenseitige Kontrolle der Kooperierenden oder aber besagte Eingriffe seitens des Herausgebers – ist bislang noch ungelöst.

Gyfords Regeln für die Veröffentlichung von Kommentaren sehen zwei bis drei Absätze als durchschnittliche Beitragslänge vor.478 Auch wenn Ausnahmefälle einen größeren Umfang gestatten, ist diese Regelung grundsätzlich zu beanstanden.

Sofern der Hinweis eines Nutzers eine Bereicherung beziehungsweise Belehrung der Mehrheit der anderen Nutzer sein kann, ist nicht nachvollziehbar, weshalb gerade im World Wide Web eine Längenbeschränkung vorgenommen werden sollte. Während sich Begrenzungen bei Print-Veröffentlichungen durchaus mit technischen Vorgaben, zum Beispiel Layout-Bestimmungen, mit finanziellen Aspekten wie Druck- oder Versandkosten oder aber auch mit Rücksichtnahme auf die Benutzer-freundlichkeit erklären lassen, muß sich der Herausgeber einer Web-Seite keiner dieser Restriktionen unterwerfen. Im World Wide Web können allenfalls die Mietkosten des Speicherplatzes eine Begründung für derartige Einschränkungen sei-tens des Herausgebers darstellen. Allerdings wäre zu prüfen, ob sich die Länge der

477 Am 6. Mai 2003 spricht Gyford das Veröffentlichungsverbot für einen bestimmten, auffällig gewor-denen Nutzer aus und trägt damit seinem persönlichen Anliegen sowie den ihm offensichtlich privat zugegangenen Beschwerden zahlreicher Nutzer Rechnung. Der Grund für diese Maßnahme wird in der Meldung nur sehr vage dargelegt, doch ist den Andeutungen und Verweisen Gyfords zu entneh-men, daß sich besagter Nutzer wiederholt über die Vorschriften zum Umfang von Kommentaren hin-weggesetzt hat. Gyford, “Banned user”, in: Ders., Hg., The Diary of Samuel Pepys (02.09.2003 [101.01.2003]), <http://www.pepysdiary.com/about/archive/2003/05/06/748.php>, 03.09.2003.

478 Ders., “Annotation guidelines”, <http://www.pepysdiary.com/about/annotation/>, 05.09.2003.

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Nutzerkommentare längerfristig tatsächlich einschneidend auf die Steigerung des Mietpreises auswirkte.479

Sollte die Regelung hingegen in der Sorge um die Geduld der Leser begrün-det sein, wäre dies zwar rücksichtsvoll, aber in Zeiten der Computernutzung nicht notwendig; bei Nichtgefallen lassen sich lange Textpassagen schnell mit Hilfe der Computer-Maus ‘wegscrollen’. Das Teilnahmeverbot eines Nutzers vom 6. Mai 2003 erscheint daher völlig unverständlich, zumal Gyford in seiner Erklärung frei-mütig einräumt, daß die zahlreichen Kommentare des zurückgewiesenen Nutzers für die Nutzergemeinschaft bereichernd waren.480 Für einen verantwortungsbewußten Herausgeber sollten Fortschritt und Ausbau seines Projekts sowie Interesse und Bil-dungsbereitschaft der Nutzergemeinschaft vor einer einseitigen Durchsetzung seiner persönlicher Vorstellungen stehen.

Ein weiterer Kritikansatz sind die bibliographischen Angaben des Heraus-gebers. Die Veränderungen, die seit der Entschlüsselung des Originaldokuments im Laufe der Zeit durch verschiedene Editoren vorgenommen worden und in die vor-liegenden Tagebuchtexte eingeflossen sind, lassen sich für den Leser der Web-Version von Gyford nicht mehr nachvollziehen. Angesichts der bewegten Vergan-genheit des Dokuments, die durch Textkürzungen und deren teilweise Rücknahmen, durch Zensurbestimmungen und Hinzufügung von Anmerkungen geprägt ist, wäre es nicht nur aufschlußreich, sondern für einen Literaturwissenschaftler geradezu unab-dingbar, Auskunft über Ursprung und Entstehung der aktuellen Tagebucheinträge zu erhalten. Jede einzelne Aufzeichnung müßte ihre individuelle Historie anhand von Quellenangaben eindeutig nachvollziehbar offenbaren. Anmerkungen dürften nicht mehr wahlweise den Hintergrundinformationen zugeordnet werden, sondern müßten grundsätzlich dem Text unmittelbar angeschlossen sein.481 Allerdings handelt es sich bei dem Tagebuchforum nicht um ein wissenschaftliches Projekt, das vorgenannten Maßstäben entsprechen müßte. Gyford weist selbst darauf hin, daß sein Forum

479 Je nach Anbieter variieren die Preise für einen Speicherplatz im World Wide Web teilweise signi-fikant, so daß an dieser Stelle kein Urteil hinsichtlich der Auswirkung längerer Nutzer-Kommentare auf den beanspruchten Speicherplatz und dessen Mietpreis getroffen werden kann. Es steht aber zu vermuten, daß die Länge der Hinweise im Verhältnis zur Gesamtgröße des Forums unerheblich ist.

480 Gyford, “Banned user”, <http://www.pepysdiary.com/about/archive/2003/05/06/748.php>, 05.09.2003.

481 Wie in Punkt 1.1.2.1. erwähnt, kürzt Gyford die Tagebuch-Einträge um alle Fußnoten, die nicht direkten Bezug auf den Inhalt des jeweiligen Tagebuch-Eintrags nehmen, wie zum Beispiel bio-graphische Erläuterungen oder Ortsbeschreibungen, und ordnet diese Angaben im Abschnitt Back-ground information ein.

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keinerlei Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebe. Wäre ihm daran gelegen gewe-sen, dem Leser alle verfügbaren Informationen zu präsentieren, hätte Gyford – da er die genauere und vollständigere Ausgabe von Latham und Matthews vermutlich aus Urheberrechtsgründen nicht verwenden konnte – eine eigene Neuausgabe des Tage-buchs vornehmen müssen; diese Maßnahme hätte allerdings ein hohes Maß an Kompetenz vorausgesetzt und wäre darüber hinaus zeit- und kostenaufwendig ge-wesen.

Abschließend noch zwei kritische Anmerkungen im Sinne aller Nutzer, nicht nur der wissenschaftlich Interessierten: Gyford bedient sich zwar der Gestaltungs-mittel von Hypertext und World Wide Web, doch hat er in dieser Hinsicht die der-zeitigen Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft. Das Tagebuchforum läßt in seiner aktuellen Präsentationsform weiteres anschauliches Material vermissen. Ein Nutzer bringt die Situation in einem Verbesserungsvorschlag auf den Punkt, in dem er bittet:

“more spice please”.482 Die offensichtlich unter anderem gewünschte Unterhaltungs-funktion kann Gyfords Forum also nur unzulänglich erfüllen. In der Tat bleibt die Darstellung gegenwärtig noch etwas farblos und ließe sich durch verstärkte Ein-bindung zeitgenössischen Materials noch ausdrucksvoller und authentischer gestal-ten.

Einer Ergänzung bedarf aber vor allem der Bereich Background information.

Die Handhabung des Hypertextes am Beispiel des Tagebucheintrags vom 18. Juli 1660 hat ergeben, daß die Hintergrundinformationen eindeutig zu wenig Angaben enthalten. Oftmals setzen sich die Auskünfte ausschließlich aus Nutzerkommentaren zusammen, die dem Leser zwar größtenteils durchaus interessante und bereichernde Informationen, aber keine knappe und übersichtliche Auskunft bieten. Das Material zur Ergänzung liegt teilweise sogar bereits vor, müßte jedoch aus den Angaben zum Leben von Samuel Pepys483 extrahiert und in die einzelnen Kategorien der Back-ground information einsortiert werden. Vermutlich ist aber auch dies ein Vorgang, der nicht mehr im Rahmen einer privaten Einzelinitiative zu bewerkstelligen wäre.

482 Hhomeboy, “Annotation on ‘Annotation length and errors’”, in: Gyford, Hg., The Diary of Samuel Pepys ([102.05.2003]), <http://www.pepysdiary.com/about/archive/2003/04/30/742.php>, 05.09.2003.

483 Gyford, “Particulars of the life of Samuel Pepys”, <http://www.pepysdiary.com/intro/pepys/>, 05.09.2003.

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