• Keine Ergebnisse gefunden

Formen der konzeptionsentsprechenden Rezeption

V. Das Phänomen Hypertext – ein Exkurs 102

3. Hypertext-Rezeption

3.1. Formen der konzeptionsentsprechenden Rezeption

Bei einer konzeptionsentsprechenden Rezeption334 – anders als bei der wider-konzeptionellen – reagiert der Leser flexibel und läßt sich auf die Gestaltung des

333 Douglas, The End of Books, 49.

334 Der ebenfalls als Alternative in Frage kommende Begriff konzeptionsbejahend trifft nicht den ei-gentlichen Sinn, da die Bejahung der Normalzustand ist; daher bilden die Bezeichnungen kon-zeptionsentsprechend oder konzeptionsgemäß die korrektere Variante.

V. Das Phänomen Hypertext 114

Textes ein. Diese Bearbeitungsform eines elektronischen Hypertext-Systems kann sequentiell, gezielt oder mehr oder weniger wahllos erfolgen.

Bei einer sequentiellen Verfahrensweise werden alle offerierten Textangebote systematisch nacheinander abgearbeitet. Diese Methode garantiert, daß alle Infor-mationen ausgeschöpft werden, gleichzeitig verlangt sie aber dem Leser die Dis-ziplin ab, sich nicht durch neue Verweise vom eigentlichen Text fortleiten zu lassen.

Bei gezieltem Vorgehen kann die Wahl des Leseweges entweder autoren-gelenkt oder aber gänzlich autorenunabhängig sein. Dementsprechend werden ent-weder planmäßig nur jene Informationen weiterverfolgt, die zur Ergänzung eines angestrebten Wissensstandes notwendig sind, wobei die Entscheidungen des Le-sers auf Hinweisen des Autors basieren, oder aber der Leser bewegt sich zwar ebenfalls mit Bedacht und intentional durch den Text, ohne hierbei jedoch der

“Leseeinladung des Autors”335 nachzukommen. Auch im letzteren Falle kann der Leser auf die Erreichung eines bestimmten Wissensstandes ausgerichtet sein, doch erlangt er sein Ziel unbeeinflußt von Autorenempfehlungen.336 Bei Wingert taucht diese bestimmt-unabhängige Leseweise unter der Bezeichnung “strong reading”337 auf, was die Selbstbestimmtheit des Vorgehens auf recht anschauliche Weise unter-streicht.

Bei mehr oder weniger wahllosen Bewegungen innerhalb eines Hypertext-Systems schließlich liegt kein konkretes Ziel vor; vielmehr läßt sich der Leser in der Hoffnung, zufällig auf interessante Informationen zu stoßen, oder auch nur zum reinen Zeitvertreib von seiner Intuition leiten:

Instead of a linear, page-by-page, line-by-line, book-by-book approach, the user connects information in an intuitive, associative manner. Hypertext fosters a lite-racy that is prompted by jumps of intuition and association.338

Andere Systematisierungen ergeben zum Teil ebenfalls eine Dreiteilung der Leseweisen.

335 Bernd Wingert, “Der Leser im Hypertext: Im Weinberg oder im Steinbruch?”, in: Suter und Böh-ler, Hg., Hyperfiction, 159–172, hier: 170.

336 Natürlich bewegt sich der Leser stets innerhalb des vom Autor vorgegebenen Systems und kann insofern strenggenommen niemals gänzlich frei und unbeeinflußt handeln. Gemeint ist damit der systembedingt größtmögliche Entscheidungs- und Aktionsspielraum des Rezipienten.

337 Wingert, “Der Leser im Hypertext”, 170.

338 Michael Heim, The Metaphysics of Virtual Reality (New York, 1993), 30.

V. Das Phänomen Hypertext 115

Wingert beispielsweise differenziert nach 1.) thematischer Folge, die sich z.B. an der Anordnung der Handlungsträger orientieren kann, 2.) traversaler Lese-weise auf der Basis einer autorengelenkten Tour oder der eigenen Inspiration folgend sowie 3.) montierender, d.h. die Abfolge selbst zusammenstellender Rezeptionsform, die auf der leserbestimmten Anordnung der Textelemente beruht.339

Wesentlich sprachkreativer präsentiert sich die Unterteilung von Flusser: Er bezeichnet die drei Formen der Textrezeption – nämlich “das vorsichtige Ausein-anderfalten, das hastige Überfliegen und das mißtrauische Nachschnüffeln” – als 1. die “kommentierende”,

2. die “folgsame” und

3. die “kritische” Leseweise.340

1. Unter kommentieren versteht Flusser das Mitdenken des Lesers, der das vom Schreiber gewissermaßen ‘An’-Gedachte in seiner Vorstellung verlängert, d.h.

weiter- und schließlich zu Ende denkt.341

Orientiert man sich am Aspekt des Mitdenkens, dann ließe sich Flussers Form der Textrezeption gegebenenfalls mit gezieltem, autorengelenktem Vor-gehen im Hypertext-System vergleichen. Dort werden – den Hinweisen des Autors folgend – nur jene Informationen weiterverfolgt, die zur Ergänzung eines angestrebten Wissensstandes notwendig sind. Damit wird in gewisser Weise auch das vom Autor Gedachte und Intendierte vervollständigt.

2. Das folgsame Lesen richtet sich nach Flusser an der zeilenförmigen Struktur der Texte aus. Der Inhalt erschließt sich dem Leser nur, wenn er dem Text Zeile für Zeile folgt, was allerdings – so Flussers Aussage – nicht nur bei hastigem Überfliegen, sondern auch bei langsamem “Kriechen der Zeile entlang”342 der Fall ist. Im Hin-blick auf die Hypertext-Systematik ist diese Art des Lesens mit der sequentiellen Verfahrensweise vergleichbar, nach der alle offerierten Informationen systematisch

339 Wingert, “Der Leser im Hypertext”, 162.

340 Vilém Flusser, Die Schrift: Hat Schreiben Zukunft? (Göttingen, 1987), 88.

341 Flusser interpretiert den Terminus sehr großzügig und setzt sich damit über dessen etymologische wie gegenwärtige Bedeutung hinweg. Im 17. Jh. wurde kommentieren aus dem Lateinischen ent-lehnt: commentari = etwas überdenken, Betrachtungen anstellen; auslegen. Mittlerweile hat kom-mentieren die Bedeutung von erläutern, zu etwas Stellung nehmen, einen Text mit kritischen An-merkungen versehen. Flusser hingegen beruft sich bei seiner Auslegung auf die Bedeutung von mens (= Denktätigkeit, Verstand; Vorstellung), zu dessen Wortfamilie das lateinische commentari zählt.

Flusser, Die Schrift, 89. Günther Drosdowski, Hg., Duden Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2., völl. neu bearb. u. erw. Aufl. (Mannheim; Wien; Zürich, 1989 [11963]), 365f.

342 Flusser, Die Schrift, 89.

V. Das Phänomen Hypertext 116

nacheinander abgearbeitet werden. Auch dort erschließt sich der komplette Zusam-menhang nur dann, wenn der gesamte Text Verknüpfung für Verknüpfung verfolgt wird.

3. Die kritische Leseweise stellt das genau Gegenteil des folgsamen Lesens dar.

Dieses Vorgehen macht den Leser sozusagen zum Detektiv. Er deckt die Lügen des Schreibenden auf, indem er wider die Zeilenrichtung liest.

Wollte man auch hier eine Querverbindung zur Hypertext-Systematik her-stellen, so müßte man das sogenannte strong reading, d.h. die gezielte, autoren-unabhängige Vorgehensweise als Pendant heranziehen. Diese bestimmt-unabhän-gige Leseweise ließe sich möglicherweise mit kritischem Lesen gleichsetzen, denn der Leser läßt sich dort nicht von den Empfehlungen des Autors beein-flussen, sondern folgt nur seinen eigenen Vorstellungen. Damit liest er ebenfalls gleichsam gegen den vorgesehenen Ablauf und deckt auf diese Weise eventuell auch die Wahrheit auf, die der Autor zu verdecken suchte.

Für welche Form der konzeptionsentsprechenden Rezeption der Leser sich auch immer entscheidet, er stellt sich grundsätzlich einer höheren geistigen Heraus-forderung, als dies bei widerkonzeptioneller Rezeption der Fall wäre. Anstatt sich – wie in der Regel im linear-konzipierten Text – vorwiegend auf den Inhalt zu kon-zentrieren, muß er zudem die besondere Zeichensprache eines Hypertext-Systems beherrschen und zusätzlich Kenntnis der Softwarefunktionen besitzen. Wie bereits in Kapitel III.3.1. angedeutet, muß der Leser bei der Bearbeitung von Hypertexten also eine höhere geistige Flexibilität aufbringen als bei gedruckten Texten. Genauer ge-sagt muß er d r e i heterogene, kognitive Leistungen in e i n e m Leseprozeß erbrin-gen: Passive Aufnahme des Inhalts, aktive Bewegung durch den Text und Bestim-mung verlaufsrelevanter Entscheidungen.343