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Die Anfangsjahre – Zeit der Prognosen

Der Prozeß der graduellen Anerkennung und zunehmenden Nutzung elektronischer Medien und vor allem des World Wide Web, der in Deutschland ungefähr im Jahre 1996 verstärkt einsetzte,24 nahm anfänglich einen sehr ambivalenten Verlauf. Die überwiegende Akzeptanz, die man den neuen Medien zum heutigen Zeitpunkt

22 Ebd., 07.07.2003.

23 Grundsätzlich ist unter einem Event ein besonderes kulturelles Ereignis zu verstehen. Ein Event präsentiert sich als eine aus dem Alltäglichen speziell herausgehobene Veranstaltung, da er sich gewissermaßen als eine Steigerung des Besonderen von einer konventionellen kulturellen Dar-bietung unterscheidet. Eine Filmvorführung beispielsweise kann als eine aus dem Alltag heraus-ragende Vorstellung angesehen werden, ist aber nicht zwangsläufig auch ein Event. Um als sol-cher zu gelten, müßte sich die Aufführung durch zusätzliche, außergewöhnliche Elemente der Darbietung oder Publikumsintegration hervorheben. Entsprechend dieser Definition bringt Suter die Bezeichnung Event in die allgemeine Diskussion über Internet-Literatur ein, nämlich um ein künstlerisches Phänomen der ganz besonderen Art zu beschreiben. Allgemein wird dieses Wort allerdings gegenwärtig gerne und (zu oft) regelmäßig dann gebraucht, wenn ein Gastgeber den Anspruch erhebt, seinen Gästen eine ausgefallene, zumeist künstlerische, unkonventionelle, dem Zeitgeist entsprechende, gleichzeitig aber auch stilvolle Veranstaltung zu bieten.

24 Die Datierung auf das Jahr 1996 rechtfertigt sich damit, daß die Debatte über die Integration der Computertechnik in den Wissenschaftsbereich zu dieser Zeit verstärkt einsetzte, wenngleich den neuen Medien in der englischsprachigen Literaturwissenschaft zunächst nur vergleichs-weise geringe Beachtung zukam. Obwohl in Deutschland die technischen Voraussetzungen für ihre Nutzung gegeben waren, verspürten Glotz und Thomas im Jahre 1994 eine deutliche, generelle Zurückhaltung seitens der Wissenschaften, die sie nach einem Vergleich mit der Auf-geschlossenheit in den USA zu der Erkenntnis führte, die Deutschen bemerkten zwar ebenso wie die Amerikaner, daß die Menschen des 21. Jahrhunderts anders sein würden als die Men-schen des 20. Jahrhunderts, sähen aber in dieser Entwicklung weniger Chancen als vielmehr Risiken: “Sie fürchten sich.” Peter Glotz und Uwe Thomas, Das dritte Wirtschaftswunder.

Aufbruch in eine neue Gründerzeit (Düsseldorf; New York, 1994), 230. Auch noch zwei Jahre später kritisierte Mengel unter besonderem Hinweis auf die Literaturwissenschaft die Zurück-haltung seitens der Forschung, das neue Medium als Arbeitsmittel anzunehmen. Ewald Mengel,

“Drama- und Theaterressourcen im Internet”, in: Feldmann, Neumann und Rommel, Hg., Anglistik im Internet, 157–182, hier: 179.

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zweifellos zusprechen darf, resultiert aus einer langwierigen, kontroversen Diskus-sion über Vor- und Nachteile der Computernutzung und deren mögliche Auswirkun-gen auf Literatur und Wissenschaft. So löste diese Thematik anfänglich eine starke Polarisierung von Befürwortern und Kritikern aus, die mit der Anwendung elektro-nischer Medien einerseits ungerechtfertigt hohe Erwartungen, andererseits über-triebene Befürchtungen assoziierten.25

Auf seiten der Befürworter herrschte teilweise eine regelrechte Euphorie, und der Computer entwickelte sich zu einer Art Mythos, dessen Allmachtspotential die illusorische Hoffnung nährte, der PC sei der ultimative Schlüssel zur Erfüllung aller denkbaren – sowie noch nicht denkbaren – Möglichkeiten26. Dabei wurden die Visio-nen, die sich an den Computer-Einsatz knüpften, nur in seltenen Fällen von einer konkreten Vorstellung über ihre Umsetzung getragen. Vielmehr hielt sich unge-brochen der Glaube an den Beginn eines neuen Zeitalters, und alle damit assoziierten Wünsche gingen auf den einen Gedanken zurück, mit Hilfe des Computers sei grund-sätzlich alles möglich.27 Verhältnismäßig ahnungslos, welche Ideen technisch über-haupt zu realisieren waren, ging man oftmals in unkritischer und geradezu naiver Weise davon aus, der Computer sowie alle damit verbundenen Einsatzmöglichkeiten, wie beispielsweise der Zugang zum WWW, führten – bildlich gesprochen – gleich-sam automatisch in das Schlaraffenland der Literatur, in dem es lediglich gelte, alle nur denkbaren literarischen Schätze in doppeltem Wortsinne von den Bildschirm-seiten zu ‘lesen’.

Charakteristisch für derartige Visionen ohne konkrete Konturen waren die Begleitumstände und Resultate der Internet-Literaturwettbewerbe der Wochenzeitung Die Zeit. Erstmals ausgerichtet im Jahre 1996, fand diese alljährliche Initiative bereits nach dem dritten Durchgang ihr Ende, ohne daß es innerhalb dieses Zeitraumes gelun-gen wäre, das Ziel der Veranstaltung, respektive den Begriff der Internet-Literatur,

25 Kaiser beschreibt diese Meinungsdivergenz mit folgenden Worten: “Den Tanz um das neue goldene Kalb führen aber beide Gruppen gemeinsam auf. Und beide Gruppen bestärken ein-ander darin, dem, was da eventuell ist, eine imaginäre Übergröße und Übermacht anzudichten – die einen, um es hochzujubeln, die anderen, um es zu verdammen.” Reinhard Kaiser, Litera-rische Spaziergänge im Internet: Bücher und Bibliotheken online, 2. Aufl. (Frankfurt a.M., 1997 [11996]), 12.

26 Bezüglich jener noch nicht denkbaren Möglichkeiten findet sich bei Gates folgende treffende Äußerung: “The information highway will open undreamed-of artistic and scientific opportunities to a new generation of geniuses.” Gates, The Road Ahead, 201.

27 Vgl. auch Claudia Gemmeke, Hartmut John und Harald Krämer, “Vorwort”, in: Dies., Hg., Euphorie digital? Aspekte der Wissensvermittlung in Kunst, Kultur und Technologie (Bielefeld, 2001), 9–10, hier: 9.

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präzise und unmißverständlich zu formulieren.28 Ursächlich für diesen Mißerfolg scheint eben jene oben beschriebene, unreflektierte Faszination seitens der Initiato-ren gewesen zu sein, die offensichtlich weder ausreichende Kenntnisse der gestal-terischen Bedingtheiten des Mediums Internet besaßen noch genau wußten, was sie in diesem damals noch unbekannten Datennetz eigentlich zu finden gedachten.29 So mögen der Reiz, der von dieser neuen Technik ausging, und die Tatsache, daß das Thema der neuen elektronischen Medien – gerade auch im Zusammenhang mit Literatur – zu jener Zeit allgegenwärtig und vieldiskutiert war, die Auslöser für diese Veranstaltungen gewesen sein und die Ausschreibung von Internet-Literatur-Wettbe-werben geradezu aufgedrängt haben.30

Der Gruppe der Computer-‘Euphoriker’ gegenüber stand der Kreis jener Skep-tiker und KriSkep-tiker, die den Computer-Einsatz als unheilvolle Bedrohung aller alther-gebrachten, elementaren geistigen und materiellen Werte empfanden. So war die Dis-kussion über die Konkurrenzfähigkeit der gedruckten Medien und den künftigen Stel-lenwert des Buches fester Bestandteil des Forschungskanons. “Ängste und Phantasien von der Vollstreckung des Todesurteils an der geschriebenen Literatur auf dem elektro-nischen Stuhl neuer Medien”31 mündeten in der Sorge, der Vorgang des Lesens werde sich dereinst nur noch auf bloße Zeichenerkennung am Bildschirm reduzieren.32 Die

28 Bezeichnenderweise unterlag der Titel der Zeit-Wettbewerbe nach dem zweiten Durchgang einem grundsätzlichen Wandel. Um “keine interessante, neue Tendenz auszuschließen”, klammerten die Veranstalter den Begriff Literatur gänzlich aus und annoncierten die dritte Ausscheidung unter der Bezeichnung “Pegasus98”. Dirk Schröder, “Was kann die Literatur für das Internet tun?”, Univer-sitas: Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 54 (1999), 282–292, hier: 290.

29 Ebd., 283. Die Arbeiten sollten unter Einbeziehung der Mittel des Internet erstellt, in sich ge-schlossen ohne Hyperlinks nach außen sein und die Größe von vierzig Kilobyte nicht überschrei-ten Ebd., 284. Nicht nur, daß unerläutert blieb, um welche Mittel des Internet es sich konkret han-deln sollte, in Anbetracht der hohen Speicherkapazität, die eine Arbeit erfordert, sobald sie mittels multimedialer und interaktiver Elemente über das auf Papier reproduzierbare Maß hinausgeht, erscheinen vierzig Kilobyte als viel zu geringe Größe ohne Spielraum für Experimente. Zudem stellt sich die Forderung nach Abgeschlossenheit der Werke angesichts der gewünschten Ein-beziehung des globalen Netzwerks Internet als ausgesprochen widersinnig und unreflektiert dar.

30 Der Befund “Irgendwie ist alles ‘hyper’ oder ‘cyber’” ist bezeichnend für die damalige Situation in Deutschland. Er basiert auf der Aussage des Cyberpunk-Theoretikers Brooks Landon, der diese Entwicklung in den USA bereits im Jahre 1993 registriert hatte: ”You know the list; top-heavy with ‘de-’ and ‘post-’ prefixes, it has recently grown fond of ‘hyper-’ and ‘cyber-’anything.” Siehe Ruth Mayer und Ernst-Peter Schneck, “Hyperkultur – die ganze Welt ist ein Text. Eine Einleitung”, in: Martin Klepper, Ruth Mayer und Ernst-Peter Schneck, Hg., Hyperkultur: Zur Fiktion des Computerzeitalters (Berlin; New York, 1996), 1–13, hier: 4. Siehe auch Brooks Lan-don, “Hypertext and Science Fiction”, Science Fiction Studies 20 (1993), 449–456, hier: 449.

31 Klaus Modick, “Textnetzwerke. Prolegomena zu einer Literatur des Bildschirmtextes”, in: Ders., Hg., Das Stellen der Schrift. Essays (Siegen, 1988), 91–104, hier: 97.

32 Walter Müller, “Literatur im technisch-elektronischen Zeitalter”, Merkur 402 (1981), 1270–1277, hier: 1277. – Die Frage nach dem aktuellen sowie nach einem möglichen künftigen Stellenwert des Buches wird an späterer Stelle noch eingehender behandelt werden.

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sogenannte Technikfolgenabschätzung33, das heißt die Analyse der Auswirkungen neuer Technologien, die üblicherweise spätestens zu dem Zeitpunkt vollzogen wird, an dem neue Techniken oder Medien und die dadurch entstehenden technischen und vor allem aber gesellschaftlichen Konsequenzen unübersehbar geworden sind, löste zahlreiche Mutmaßungen über die absorbierenden Eigenschaften des Computers aus.34

Birkerts beispielsweise sah von der “vollelektronischen Zukunft”35 gleich mehrere entscheidende Bedrohungen ausgehen:36

a) “Spracherosion”37

Birkerts’ Ansicht nach geht die zunehmende Nutzung der elektronischen Kommu-nikation mit einem Niveauverlust der gesprochenen und geschriebenen Sprache einher. Die durch den Buchdruck geprägte vielschichtige Schriftkultur weiche einer telegrammstilartigen Ausdrucksform, die nurmehr als eine Art “Primitiv-Sprech”38 zu bezeichnen sei. Dabei gehe es nur noch um reinen Informationsaustausch bar jeglicher sprachlicher oder stilistischer Nuancen, der in einem Aussterben der Sprachgewandtheit münde: Ein eloquenter Mensch werde künftig gezwungen sein, sich sprachlich dem allgemeinen Primitivniveau anzupassen. Sprachstil werde somit langfristig nur noch in literarischen Klassikern weiterexistieren. Da diese dann jedoch aufgrund ihres vergleichsweise hohen Niveaus nicht mehr rezipiert werden könnten, werde “die zivilisatorische Energie einer Prosa […] zwischen geschlos-senen Buchdeckeln verpuffen”39.

33 Manfred Faßler und Wulf Halbach, “Vorwort”, in: Dies., Hg., Geschichte der Medien (München, 1998), 7–15, hier: 8.

34 Daß Innovationen im Verlauf ihrer Integration in das Alltagsleben durchaus mit Skepsis betrachtet werden, ist nicht erst seit der Verbreitung der neuen Medien zu beobachten. So pflegen die von Pross als sogenannte “Kulturpessimisten” bezeichneten Kritiker gerne auf Platons Phaidros zu-rückzugreifen. Harry Pross, Der Mensch im Mediennetz: Orientierung in der Vielfalt (Düsseldorf;

Zürich, 1996), 165. Auch Boesken erinnert mit ihrem Verweis auf diesen philosophischen Dialog daran, daß sich bereits Platon gegen die Schriftlichkeit ausgesprochen habe, da das menschliche Gedächtnis nicht mehr in ausreichender Weise gefordert und somit das Vergessen gefördert wer-de. Auch wenn es also schon im 4. Jh. v. Chr. eine Technikfolgenabschätzung gab, so ist der Ver-gleich doch wenig überzeugend, denn der mit der Einführung der Computermedien verbundene revolutionäre Effekt hat keineswegs das Ausmaß des Übergangs von Oralität zu Verschrift-lichung. Gesine Boesken, “Lesen am Bildschirm: Wer ist ‘drin’, und sind Bücher jetzt ‘out’?”, in:

Stiftung Lesen, Hg., Leseverhalten in Deutschland im neuen Jahrtausend: eine Studie der Stiftung Lesen (Hamburg, 2001), 127–149, hier: 127.

35 Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 174.

36 Ebd., 174–178; 219f.

37 Ebd., 174.

38 Ebd.

39 Ebd., 175.

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b) “Verflachen der historischen Perspektiven”40

Eine ebenso negative Prognose erteilt Birkerts der allgemeinen Geschichts-auffassung. Die richtige Einschätzung historischer Tragweiten sei bei den Men-schen nur in Form augenfälliger und greifbarer Massen von Büchern zu erzielen.

Der Umstand, daß durch das weltumspannende Datennetz alle Informationen jederzeit – quasi mit Hilfe eines Knopfdrucks – verfügbar gemacht werden könn-ten, führe jedoch zu einem Verlust der räumlichen Vorstellungskraft und lasse damit das Gefühl für die historischen Dimensionen schwinden.

c) “Das Absterben des privaten Ich”41

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die allmähliche Auflösung der Privatsphäre jedes Einzelnen. Nach Birkerts wird die technikbedingte Distanzverringerung zwischen den Menschen mit einer zunehmenden Veröffentlichung des persönlichen Be-reichs einhergehen. Die jederzeitige Erreichbarkeit über ein immer enger werden-des Datennetz führe schließlich dazu, daß die Intimsphäre werden-des Individuums nahezu ausgelöscht werde.42

d) “Grobschlächtigkeit”43

Der Mensch büße durch die zunehmende Verbreitung und Nutzung des Computer-netzwerks nicht nur seine Sprachfähigkeiten, sein historisches Einschätzungs-vermögen und sein Privatleben ein, vielmehr werde sein ästhetisches Empfinden zusätzlich durch unschöne Formatierungen gestört; nicht zuletzt müsse er sich im Umgang mit dem Computer auf den Entwicklungsstand eines Kleinkindes zurück-begeben: Unabhängig davon, wie bedeutungsvoll der damit durchgeführte Vorgang tatsächlich sei, habe der Umgang mit der Computer-Maus in jedem Fall hohe Ähn-lichkeit mit einem Reflex-Test in einer Spielhalle.

Ähnlich Birkerts hatte auch Müller zu Beginn der achtziger Jahre die zuneh-mende Einbindung des Computers in das Arbeits- und Alltagsleben als eine sehr kritische Entwicklung angesehen, die zwar einerseits eine fortschrittliche und

40 Ebd.

41 Ebd., 177.

42 Als Leitbegriff hat sich in bezug auf die neuen (interaktiven) Medien die Bezeichnung Immersion etabliert. Immersive Medien integrieren den Nutzer als aktiven Teilnehmer in das Geschehen. Er taucht vollständig in den interaktiven Bereich ein und betritt damit quasi eine Bühne, “vor der es keine abgeschatteten Zuschauer mehr gibt”. Pierre Lévy, “Cyberkultur: Universalität ohne Totali-tät”, in: Stefan Bollmann und Christiane Heibach, Hg., Kursbuch Internet: Anschlüsse an Wirt-schaft und Politik, WissenWirt-schaft und Kultur (Reinbek bei Hamburg, 1998), 60–87, hier: 72.

43 Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 219.

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kenswerte Arbeitserleichterung für den Menschen darstelle, die gleichzeitig aber auch aufgrund fragwürdiger Begleitumstände – wie beispielsweise Unpersönlichkeit, Oberflächlichkeit und Vergänglichkeit – zu einer beunruhigenden Entmenschlichung zu führen drohe.44 Im Jahre 1988 vertrat Modick zwar eine den neuen Medien deut-lich stärker zugewandte Position, gleichwohl hatte auch er Sorge, die neuen Medien könnten eine Bedrohung nicht nur für alle anderen existierenden Medien, sondern vor allem für unsere zwischenmenschlichen Beziehungen darstellen.

Im Jahre 1996 brachte Barth den neuen Medien eine nach wie vor kritische, aber doch wesentlich aufgeschlossenere Haltung entgegen. Er vertrat die Überzeu-gung, der Computer könne dem Nutzer neue, hilfreiche Möglichkeiten eröffnen, die allerdings – so fügte er einschränkend und gleichsam mahnend hinzu – weder Bücher noch Bibliotheken ersetzen könnten.45 Für Gauron stellte sich allerdings zur selben Zeit bereits nicht mehr die Frage, ob und in welchem Maße elektronische Medien eingesetzt werden sollten. In der festen Überzeugung, eine Zukunft ohne elektro-nische Medien sei weder denkbar noch möglich, befaßte sich der Wirtschaftswissen-schaftler vielmehr mit den konkreten technischen, finanziellen und soziologischen Problemen, die diese hervorrufen würden.46 Ebenso wie Gauron verstand auch Bür-ger die neuen Medien als fruchtbare Ergänzung und Erweiterung der nicht-elektro-nischen Medien.47 Klostermann hingegen sah die Nützlichkeit der neuen Medien auch im Jahre 1997 noch ausschließlich in der wissenschaftlichen Kommunikation und war der festen Überzeugung, Publikationen sollten weiterhin auf Papier und nur nach gewissenhafter Prüfung durch Lektoren veröffentlicht werden.48 Für seine Position konnte Klostermann jedoch zu diesem Zeitpunkt schon keine überwiegende Unterstützung mehr erwarten.

44 Müller, “Literatur im technisch-elektronischen Zeitalter”, 1270–1277.

45 Robert Barth, “Die Bibliothek der Zukunft”, in: Peter Rusterholz und Rupert Moser, Hg., Die Be-deutung des Buches – gestern–heute–morgen, Referate einer Vorlesungsreihe des Collegium generale der Universität Bern (Bern; Stuttgart, 1996), 53–75, hier 74f.

46 André Gauron, “Das digitale Zeitalter”, in: Stefan Bollmann, Hg., Kursbuch neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, 2. Aufl. (Mannheim, 1996 [11995]), 24–40, hier: 25.

47 Thomas Bürger, “Modelle zum Umgang mit originalen und digitalen Drucken. Zur Bereitstellung alter Bücher”, in: Sabine Wefers, Hg., Von Gutenberg zum Internet 7. Deutscher Bibliotheks-kongreß, 87. Deutscher Bibliothekartag in Dortmund 1997, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie: Sonderheft 68 (Frankfurt a.M., 1997), 51–60, hier: 51.

48 Vittorio E. Klostermann, “‘Von Gutenberg zum Internet’ – Wie bitte?!”, BuB-Journal 49 (1997), Sonderheft Bibliothekskongreß, 25.

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Neben den allgemeinen Reflexionen über grundsätzliche gesellschaftliche Entwicklungstendenzen sowie ein möglicherweise nahe bevorstehendes Ende des Buches war außerdem eine Ausrichtung auf die Frage nach der Position des Autors in der modernen, multimedialen Welt zu verzeichnen. Durch die neuen Formen der Literatur p r ä s e n t a t i o n, vor allem aber durch die neue Art der Literatur -r e z e p t i o n, schien die bishe-rige Auto-rität des Auto-rs jäh in F-rage gestellt zu sein.49 Man wurde plötzlich gewahr, daß sich die bis dato übliche klare Trennung zwischen Autor einerseits und Leser andererseits durch den Computer und die dadurch realisierbare Interaktivität, das heißt, “die tendenziell weltweite Möglich-keit, daß jeder zugleich Empfänger und Sender von Informationen wird”50, allmäh-lich aufzulösen begann, und sah darin den Auftakt zum “Abgang des Autors”.51 Allerdings ließen sich in dieser Hinsicht durchaus unterschiedliche Standpunkte beobachten. Die Auflösung der traditionellen Rollenverteilung zwischen Autor und Leser wurde und wird nach wie vor auch als Fortschritt und als seit langem ange-strebtes Ziel angesehen, insofern sie dem Leser endlich die Befreiung von der ein-engenden Autorität des Autors eröffne.52 Mayer und Schneck beispielsweise charak-terisierten diese Entwicklung als “das euphorische Diktum von der Verschmelzung von Leser- und Autorfunktion in der interaktiven Hyperfiction”.53 Daß der Leser nunmehr zum Koautor werden konnte und aufgrund der Interaktionsmöglichkeiten der Hypertext-Dokumente die Gelegenheit besaß, zu agieren und zu reagieren, wurde

49 Siehe Ruth Nestvold, “Das Ende des Buches: Hypertext und seine Auswirkungen auf die Litera-tur”, in: Martin Klepper, Ruth Mayer und Ernst-Peter Schneck, Hg., Hyperkultur: Zur Fiktion des Computerzeitalters (Berlin; New York, 1996), 14–30, hier: 15. Siehe auch Martin Warnke, “Infor-mationstechnologie – das digitale Monopol”, in: Gemmeke, John und Krämer, Hg., Euphorie digi-tal?, 21–33, hier: 28.

50 Landtag von Baden-Württemberg, Bericht und Empfehlungen der Enquête-Kommission ‘Entwick-lung, Chancen und Auswirkungen neuer Informations- und Kommunikationstechnologien in Baden-Württemberg’ (Multimedia-Enquête), Drucksache 11/6400 (1995), 17. – Interaktivität wird jedoch in unterschiedlicher Weise interpretiert. Diese Tatsache wird in Zusammenhang mit der Frage, inwiefern interaktive Angebote diesen Definitionen tatsächlich entsprechen können, im weiteren Verlauf der Arbeit noch ausführlichere Erwähnung finden.

51 Benjamin Woolley, Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, übers. von Gabriele Herbst, (Basel;

Boston; Berlin, 1994 [Virtual Worlds (Oxford, 1992)]), 178. Woolley kommt zu dem Schluß: “Im Cyberspace sind alle Autoren, was bedeutet, daß keiner ein Autor ist: Der Unterschied, auf dem der Begriff ‘Autor’ beruht, der Autor als unterschieden vom Leser, verschwindet. Abgang des Autors...

.” Ebd. Inwieweit ein Hypertext-Autor tatsächlich die Vollmacht an seinem Werk verliert und bis zu welchem Grad der Leser seine Aufgaben übernimmt, wird im weiteren Verlauf der Arbeit noch intensiver erläutert werden.

52 Rolf Todesco, “Hyperkommunikation: Schrift-Um-Steller statt Schriftsteller”, in: Suter und Böh-ler, Hg., Hyperfiction, 113–124, hier: 122.

53 Mayer und Schneck, “Hyperkultur”, 7.

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auf der anderen Seite jedoch nicht nur als Bereicherung, sondern auch als Zwang empfunden.54

Wie Schanze bereits im Jahre 1995 vorausgesagt hatte, erwies entgegen allen kritischen Stimmen, daß der “erste Grundsatz der Mediengeschichte” nach wie vor Gültigkeit besitzt, demzufolge die Einführung neuer Medien keinesfalls eine Bedro-hung für den Fortbestand der bereits vorhandenen, bewährten Informationsträger und der damit verbundenen tradierten Wertvorstellungen darstellen muß: “Noch nie hat ein Neues [sic!] Medium ein altes [sic!] ersetzt.”55 Vielmehr sind die technischen Inno-vationen – so der Grundsatz – in der Regel dazu prädestiniert, die schon existieren-den Hilfsmittel zu ergänzen und zu vervollständigen, und können somit einer rasche-ren Kenntnisverbreitung sowie der Förderung des wissenschaftlichen Dialogs die-nen;56 die Nutzung verlagert sich also nicht von einer gängigen auf eine neue technische Komponente, sondern es kommt vielmehr zu einer Neugestaltung des Nutzungsverhaltens, das heißt dem Anwender steht künftig eine erweiterte Band-breite an Gebrauchsobjekten zur Verfügung.57

Tatsächlich entbehrten die anfänglichen Prophezeiungen, die Print-Medien würden höchstwahrscheinlich eines Tages durch die elektronischen Medien ersetzt werden, mehr und mehr ihrer Brisanz, da die negativen Zukunftsprognosen der Ver-gangenheit allmählich durch die tatsächlichen Entwicklungen der Gegenwart wi-derlegt wurden. Ebenso wie um diese Bedenken wurde es auch um die Prognosen wegen eines möglichen Autoritätsverlustes der Autoren allmählich stiller, und

Tatsächlich entbehrten die anfänglichen Prophezeiungen, die Print-Medien würden höchstwahrscheinlich eines Tages durch die elektronischen Medien ersetzt werden, mehr und mehr ihrer Brisanz, da die negativen Zukunftsprognosen der Ver-gangenheit allmählich durch die tatsächlichen Entwicklungen der Gegenwart wi-derlegt wurden. Ebenso wie um diese Bedenken wurde es auch um die Prognosen wegen eines möglichen Autoritätsverlustes der Autoren allmählich stiller, und