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Digitalisierungs-Projekte

IV. Formen webunabhängiger digitaler Literatur im WWW 75

1.1. Digitalisierte Druckwerke in Datenbanken und Archiven

1.1.2. Digitalisierungs-Projekte

En effet le but d’une encyclopédie est de rassembler les connaissances éparses sur la surface de la terre; d’en exposer le système général aux hommes avec qui nous vivons, & de la transmettre aux hommes qui viendront après nous; afin que les travaux des siècles passés n’aient pas été des travaux inutiles pour les siècles qui succéderont [...].248

Die Intention der Enzyklopädisten, die Diderot in einem Artikel seiner Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers Mitte des 18. Jahr-hunderts darlegt, liegt in nur unwesentlich abgewandelter Form auch den modernen Initiativen zur elektronischen Sammlung von literarischen Texten zugrunde: Digitali-sierungsprojekte des 20. und 21. Jahrhunderts dienen der Sammlung und allgemeinen Verbreitung von Texten zu gewissen Themengebieten, womit sie von ihrer Zielsetzung her an die bedeutendste Bibliothek der Antike erinnern, die Alexandrinische Biblio-thek, die fast die gesamte bis in ihre Zeit verfaßte Literatur enthalten haben soll.

1.1.2.1. Project Gutenberg

Das im Jahre 1971 ins Leben gerufene Project Gutenberg249 entstand aus dem Grundgedanken, allen Menschen klassen- und altersübergreifend eine frei zugäng-liche und unbeschränkt geöffnete Bibliothek zu liefern, die jene Literatur präsentiert, die die Menschheit interessiert und bewegt.250 In den Ausführungen zu Geschichte und Philosophie des Project Gutenberg heißt es hierzu: “[...] we choose etexts we hope extremely large portions of the audience will want and use frequently.”251 Diese Initiative zur elektronischen Sammlung klassischer Werke in englischer Sprache oder englischer Übersetzung wird hauptsächlich von freiwilligen Mitarbeitern aus dem WWW getragen. Nachdem in der US-amerikanischen Rechtsordnung festgelegt

248 Denis Diderot, Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une Société de Gens de lettres III. Tome VII, (Paris, 1976), 174.

249 Michael Hart, Hg., Project Gutenberg (12.02.2003 [11971]), <http://gutenberg.net/>, 12.03.2003.

250 Diese Zielsetzung ist begrüßenswert, basiert aber unter anderem auf der Voraussetzung, daß der Zu-gang zum WWW uneingeschränkt von allen Bevölkerungsgruppen finanziert werden kann. Zwar schaffen die Anbieter elektronischer Texte theoretisch eine zu allen Tageszeiten und von allen Punk-ten dieser Welt aus zugängliche digitale Bibliothek, praktisch aber besteht in keiner Weise ein gleich-berechtigter und einheitlicher Zugang zu dieser Bibliothek. Hier erfolgt keine Förderung der Demo-kratie, sondern es werden im Gegenteil neue soziale Barrieren geschaffen. Nur ein verhältnismäßig geringer Prozentsatz der bundesdeutschen Bevölkerung und ein Bruchteil der Weltpopulation besitzt einen Computer, geschweige denn einen Internet-Anschluß. Zudem ist eine Kluft zwischen den Ge-nerationen entstanden, die diejenigen Altersgruppen, die keinerlei Erfahrung im Umgang mit Com-putern haben, aus der Welt der neuen elektronischen Medien ausgrenzt.

251 Hart, “What is Project Gutenberg? – The Beginning of the Gutenberg Philosophy”, in: Ders., Hg., Project Gutenberg (13.05.2002 [11971]), <http://gutenberg.net/history.html#beginningphil>, 12.03.2002.

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worden ist, daß ein Copyright erst 50 Jahre nach Ableben des Autors erlischt,252 hat sich die Zahl der frei verfügbar werdenden Werke beträchtlich verringert. Dennoch belief sich die Zahl der erfaßten Dokumente im November 2002 auf 6267 Texte253 mit der Aussicht, im Verlaufe des Jahres 2003 eine Gesamtzahl von 10.000 Doku-menten zu erreichen254.

Das Corpus der Sammlung gliedert sich in drei Sektionen und unterscheidet zwischen Literatur mit Unterhaltungscharakter, anspruchsvollerer Literatur und Re-ferenzmaterial:

1) Light Literature – hierzu zählen beispielsweise Alice in Wonderland, Through the Looking-Glass, Peter Pan oder Aesop’s Fables. 255

2) Heavy Literature – zum Beispiel die Bibel oder andere Dokumente religiösen Inhalts, Shakespeare-Texte, Moby Dick, Paradise Lost oder ähnliche Werke.

3) References – zu dieser Gruppe gehören Rogets Thesaurus, Enzyklopädien, Wör-terbücher oder Almanache.

Die Projektmitglieder erstellen die Editionen jedoch nicht nach den Grundsätzen von Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit:

Also in the same vein, Project Gutenberg has avoided requests, demands, and pressures to create ‘authoritative editions.’ We do not write for the reader who cares whether a certain phrase in Shakespeare has a ‘:’ or a ‘;’ between its clauses.

We put our sights on a goal to release etexts that are 99.9% accurate in the eyes of the general reader.256

Dieser Tatsache muß sich jeder Nutzer bewußt sein: das präsentierte Material ist nicht zitierfähig und somit für den wissenschaftlichen Gebrauch nicht verwendbar.

Da das Projekt jedoch nunmehr über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren geführt und kontinuierlich ausgebaut worden ist und sein Herausgeber Hart damit

252 Ebd., 12.03.2002.

253 Ders., “Welcome to Project Gutenberg”, in: Ders., Hg., Project Gutenberg (12.02.2003 [11971]),

<http://gutenberg.net/index.html>, 12.03.2003.

254 David Moynihan, “Distributed Proofing site goes through the roof: One Page Per Day”, the inquirer, 11.11.2002, <http://www.theinquirer.net/?article=6167>, 12.03.2003.

255 Die Zuordnung zur ersten Sektion wird nach Hart vorrangig durch den Wunsch bestimmt, alle Altersgruppen gleichermaßen an den Gebrauch des Computers heranzuführen. Es schaffe stets ein befriedigendes Gefühl zu hören, daß Kinder oder Großeltern durch die Filmversion eines litera-rischen Werkes an die elektronische Textversion herangeführt worden seien. Hart, “About Project Gutenberg? – The Selection of Project Gutenberg Etexts”, in: Ders., Hg., Project Gutenberg (28.10.2003 [11971]), <http://www.gutenberg.net/about.shtml>, 13.02.2004.

256 Ders., “What is Project Gutenberg?”, <http://gutenberg.net/history.html#beginningphil>, 26.03.

2003.

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maßen als Pionier auf diesem Gebiet bezeichnet werden kann, verdient Project Gutenberg unbedingt Erwähnung.

1.1.2.2. Bartleby.com: Great Books Online

Im Gegensatz zum Project Gutenberg sehr sorgfältig ediert sind die Texte bei Bartleby.com: Great Books Online257. Gegründet im Jahre 1993, veröffentlichte das zunächst noch unter dem Titel Project Bartleby Archive laufende Forschungsprojekt nach einem Jahr Laufzeit Whitman’s Leaves of Grass als erstes klassisches Buch im WWW.258 Aufgrund der Qualität des präsentierten Materials sowie dessen kontinu-ierlich wachsenden Umfangs konnte sich das Archiv zu einer festen und zuverlässi-gen Referenzquelle im Web etablieren. Gemäß seinen Prinzipien gewährleistet es nach wie vor den freien öffentlichen Zugang zu Erzählprosa und Versdichtung, stets präsentiert nach dem jeweils aktuellen Stand der Technik:

Our ever-expanding list of great books – currently thousands of works by hundreds of authors – provides millions of students, educators and the intellectually curious with unparalleled access to online reference books and classics and forms the preeminent electronic publishing enterprise of the twenty-first century.259

Aufgrund seiner sorgfältig bearbeiteten elektronischen Editionen empfiehlt es sich in jeder Hinsicht für die wissenschaftliche Nutzung: Die elektronischen Texte ent-sprechen genau dem gedruckten Original und sind durch ausführliche bibliographi-sche Angaben zu Titel, Verfasser, Erbibliographi-scheinungsort, Verlag, Erbibliographi-scheinungsjahr und Auflage ergänzt. Oftmals sind die Seiten mit Autorenporträts oder Abbildungen, handschriftlichen Anmerkungen oder Textauszügen aus den Originaltexten illu-striert, bei einigen Autoren werden zusätzlich ein Titelindex und ein Verzeichnis mit alphabetischer Auflistung der ersten Zeilen aller Werke dieser Autoren angeboten.260 Die Literatur wird sorgfältig und gezielt im Sinne der Autoren, der Nutzer und der Literatur selbst ausgewählt.

257 Steven H. Van Leeuwen, Hg., Bartleby.com: Great Books Online ([1Dez. 1995]),

<http://www.bartleby.com/>, 26.03.2003.

258 Ders., Hg., Welcome to Bartleby.com: Great Books Online ([1Dez. 1995]),

<http://www.bartleby.com/sv/welcome.html>, 26.03.2003.

259 Ders., Hg., Bartleby.com: Great Books Online: Mission Statement ([1Dez. 1995]),

<http://www.bartleby.com/press/profile.html>, 26.03.2003.

260 Zu kritisieren wäre dieses nützliche und gut gestaltete Archiv nur insofern, als die Illustrationen leider in den seltensten Fällen erläutert werden.

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Bartleby.com: Great Books Online ist jedoch bemerkenswert nicht allein wegen seines hochwertigen und umfangreichen Textmaterials; in Verbindung mit seinem weiteren reichhaltigen Angebot an Sachbüchern und Nachschlagewerken, wie beispielsweise Enzyklopädien, Thesauri, Zitatensammlungen oder Wörter-büchern, präsentiert es sich dem Nutzer als eine herausragende und innovative Infor-mationsquelle.

1.1.2.3. Victorian Women Writers Project

Das im Jahre 1995 gegründete Victorian Women Writers Project261 der Universitäts-bibliothek von Indiana verdient Aufmerksamkeit aufgrund seiner besonderen The-matik: Hier werden Romane, Werke aus Versdichtung und -drama, politische und religiöse Schriften sowie Kinderbücher vergleichsweise wenig beachteter Schrift-stellerinnen des Viktorianischen Zeitalters in den Vordergrund gerückt.262

Alle Dokumente sind sehr sorgfältig im Hinblick auf Vollständigkeit und Übereinstimmung mit dem Original ediert und weisen alle notwendigen biblio-graphischen Angaben wie Titel, Verfasser, Erscheinungsort, Verlag sowie Erschei-nungsjahr auf. Darüber hinaus geben sie genauen Aufschluß darüber, aus welcher Quelle das Dokument von welcher Person zu welchem Zeitpunkt in die digitalisierte Form umgesetzt wurde, nach welchen Regeln die Digitalisierung erfolgte und welche Veränderungen mit ihr einhergingen. Die Gestaltung der Dokumente basiert auf der ursprünglichen Seitenaufteilung der Texte, das heißt Seitenumbrüche im Originaltext werden innerhalb des fortlaufenden elektronischen Dokuments deutlich mit Seiten-zahlen gekennzeichnet und optisch hervorgehoben. Eingescannte Bilder einiger Autorinnen sowie vereinzelter Buchseiten ergänzen das Archivangebot.

261 Perry Willett, Hg., Victorian Women Writers Project (19.01.2001 [11995]),

<http://www.indiana.edu/~letrs/vwwp>, 29.03.2003.

262 Das Archivangebot ist so konzipiert, daß vor allem Dokumente jener Autorinnen Verbreitung finden, die zu Lebzeiten Popularität genossen, heute hingegen zu den weniger bekannten Ver-fasserinnen zählen, wie zum Beispiel Marie Corelli mit The Mighty Atom, Flora Annie Webster Steel mit The Potter’s Thumb oder Augusta Webster mit Daffodil and the Croäxaxicans. Im selben Zuge dient das Projekt der Erhaltung vom Zerfall bedrohter Bestände. In seinem Artikel über Inhalt und Ziele des Victorian Women Writers Project erläutert Willett die Digitali-sierungsgründe: “The breadth of writing by women in this period seems staggering, and much of it was either printed in limited press runs, not collected by libraries, or has disintegrated along with so many other works from the late nineteenth century (many of which were printed on acid-based paper).” Perry Willett, “The Victorian Women Writers Project: The Library as a Creator and Publisher of Electronic Texts”, The Public-Access Computer Systems Review 7 (1996), <http://info.lib.uh.edu/pr/v7/n6/will7n6.html>, 29.03.2003.

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Hier erweist sich das World Wide Web einmal mehr als sinnvoller Daten-träger, da durch die Online-Präsentation unbekanntes und schwer zugängliches Material weltweite Verbreitung und wissenschaftliche Nutzung finden kann.