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Anforderungen an die literarische Arbeit

V. Das Phänomen Hypertext – ein Exkurs 102

2. Inhaltliche Gestaltung – Auf dem schmalen Grat zwischen Leselust und

2.1. Anforderungen an die literarische Arbeit

Bei der Erstellung eines literarischen Hypertext-Werkes fühlt sich der Autor einer-seits herausgefordert, sich der neuartigen Verknüpfungsstruktur zu unterwerfen, zugleich ist er aber auch gehalten, sich an den traditionellen Rezeptionsbedingungen auszurichten. Der Leser wird dem literarischen Werk in der Regel mit einer aus-geprägten Erwartungshaltung hinsichtlich der äußeren wie inhaltlichen Struktur be-gegnen:

With hypertext we focus, both as writers and as readers, on structure as much as on prose, for we are made aware suddenly of the shapes of narratives that are often hidden in print stories.312

311 Hilmar Schmundt, “Strom, Spannung, Widerstand: Hyperfictions – die Romantik des elektroni-schen Zeitalters”, in: Klepper, Mayer und Schneck, Hg., Hyperkultur, 54.

312 Robert Coover, “The End of Books”, New York Times Book Review, 21.06.1992, 1, 23–25, hier:

24.

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Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sollte das Resultat der literarischen Arbeit letztlich folgende Eigenschaften aufweisen:

a) Plausibilität

Um der genannten Erwartung zu entsprechen, hat eines bei der Erstellung eines Hypertext-Systems im Vordergrund zu stehen: die Plausibilität, d.h. die inhaltliche Schlüssigkeit. Ein literarischer Hypertext muß stets in der Weise aufgebaut sein, daß jede mögliche Aneinanderreihung der einzelnen Text-Elemente einen plausiblen Zu-sammenhang ergibt. Handelt es sich um einen rein literarischen Hypertext, so sollte gewährleistet sein, daß der Leser die erzählte Geschichte trotz ihrer Fragmentierung zu jedem Zeitpunkt als eine schlüssige Schilderung wahrnimmt.

b) Attraktivität

Zusätzlich wird der Leser eine Konzeption erwarten, die sein Interesse auch dann noch bindet, wenn er die Erzählung mehrmals hintereinander auf unterschiedlichen Lesewegen durchläuft.

Dieser Anspruch stellt für den Autor vermutlich die größte Herausforderung dar, hat er es doch im Gegensatz zu einem linear-konzipierten Werk nicht mit einem durchgehenden Erzählstrang zu tun; vielmehr muß er sich gleichzeitig auf mehreren Erzählebenen bewegen, die alle möglichst das gleiche Spannungsniveau aufweisen sollten. Andernfalls könnte der Leser das Interesse an der Lektüre verlieren und den Rezeptionsvorgang vorzeitig abbrechen.

c) Abgeschlossenheit

Ist der Autor geneigt, sich auf die Erwartungshaltung des potentiellen Leser einzu-richten und ihr entgegenzukommen, so muß er ihr auch noch in einem weiteren Punkt Rechnung tragen: Er muß sein Werk an irgendeiner Stelle zum Abschluß kommen lassen. Auch wenn die Hypertext-Struktur dem Autor strenggenommen ver-bietet, ein ‘offizielles’ Ende seines Werkes auszusprechen, so muß für den Leser gleichwohl ein gewisser Abschluß erkennbar sein, bildet die Aussicht darauf doch offensichtlich den entscheidenden Motor für die Bereitschaft, sich dem Werk zu widmen:

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Even in interactive narratives, where we as readers never encounter anything quite so definitive as the words The End, or the last page of a story or novel, our experience of the text is not only guided but enabled by our sense of the ‘ending’

awaiting us.313

Die Erfahrung eines abgeschlossenen Kunstwerks, die im übrigen nicht nur durch die Literatur, sondern auch durch künstlerische Werke anderer Art, wie beispielsweise Musik, Film oder Theater geprägt ist, schafft beim Rezipienten jedoch nicht nur die innere Bereitschaft, sich darauf einzulassen, sondern sie bedeutet für ihn vor allem einen wesentlichen Genuß: “[…] the experience of narrative closure numbers among the principle pleasures of reading narratives – the one thing that both prompts and enables us to read.”314

Zudem verschafft die Abgeschlossenheit eines Werkes dem Rezipienten Befrie-digung. In dem Augenblick, da er sich auf ein künstlerisches Werk einläßt, geht sein Bestreben in der Regel dahin, das Ende zu erreichen, d.h. er ‘arbeitet’ gewissermaßen ein bestimmtes Pensum ‘ab’. Gleichgültig, ob der Schluß seinen persönlichen Vorstel-lungen oder Interpretationen entspricht oder der Autor ihn mehrdeutig gestaltet – wich-tig ist allein die Tatsache, das Werk in seiner Gesamtheit wahrgenommen zu haben.315

2.2. Perspektiven ...

In Kapitel I. wurde bereits angedeutet, daß die Auswirkungen der Verbreitung des World Wide Web teilweise recht unterschiedlich beurteilt werden. Was Kritikern als ernsthafte Bedrohung der Buchkultur und der damit verbundenen traditionellen Wer-te erscheint316, wird von Anhängern des WWW als Befreiung von der Autorität des Autors gefeiert317. Mit Hilfe des Hypertext-Systems soll der Leser nunmehr in der Lage sein, seine Leseerfahrungen selbstbestimmt zu erleben, ohne sich strengen und einengenden Autorenvorgaben unterwerfen zu müssen.

Dieses Ideal des modernen Lesers kann bei offenen Hypertext-Systemen in der Tat Gestalt annehmen. Dort nämlich reicht der Bewegungsspielraum über die Grenzen des vom Autor vorgegebenen Werkes hinaus, der Leser kann mithin tatsächlich selbst bestimmen, wohin ihn seine ‘Lesereise’ führt. Er kann aus der Lektüre seines Werkes

313 Douglas, The End of Books, 121.

314 Ebd., 92.

315 Vgl. Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 60.

316 Nestvold, “Das Ende des Buches”, 15. Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 216.

317 Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 31.

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hinaus umgehend auf themenbezogene Dokumente zugreifen und sich damit mög-licherweise wirklich ein einzigartiges Leseerlebnis schaffen.318

2.3. ... und Grenzen des Hypertextes

Bei geschlossenen Hypertext-Systemen hingegen muß stark bezweifelt werden, daß der Leser freier ist als bei Print-Literatur. Hier scheint die angebliche Selbstbestimmung eher nur ein Wunschbild zu sein, das sich bei näherer Betrachtung als reine Täuschung erweist. Was gemeinhin als Befreiung von “der Bevormundung durch den Autor”319 (ein-)geschätzt wird, ist in Wirklichkeit nur eine andere Art der Führung durch den Text, denn das Material, innerhalb dessen der Leser seine Freiheit ausleben soll, muß ja zunächst einmal von einem Autor erdacht und arrangiert worden sein.320

Was die mehr oder weniger spürbare Lenkung des Lesers anbetrifft, glaubt Todesco gar, die Macht des Autors trete in den neuen Literaturformen besonders deutlich zu Tage. Todesco vermag nach eigener Aussage weder den Sinn noch den Wert eines Computers im Hinblick auf die Literaturproduktion zu erkennen, und die neue Kunstform Hyperfiction bleibt in seinen Augen auch nicht mehr als ein man-gelhafter literarischer Versuch; doch sieht er durch die Beschaffenheit des Hyper-textes immerhin offen bestätigt, was unterschwellig bereits seit langem allgemein bekannt war: “Literatur beruht auf der Bestimmung des Autors, was der Leser wann zu lesen hat.”321

Der Leser wird also weiterhin – möglicherweise nun sogar in ausgeprägterem Maße – durch den Text geleitet, denn auch im Hypertext beeinflußt eine vorge-gebene Struktur seinen Leseverlauf. Mit Hilfe sichtbar hervorgehobener Links wird dem Leser signalisiert, daß an jenen Stellen Leseoptionen bestehen. Seinen Weg durch den Text bestimmt der Leser also nicht durch eigene Motivationen und Asso-ziationen, sondern er folgt im Grunde nur den Vorgaben des Autors. Die feste Kon-figurierung ist vom Leser nicht aufzubrechen, was allerdings nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß ihm die “‘gesteuerte’ Freiheit der Navigation” keine Freude

318 Einzigartig wird dieses Erlebnis im Zweifel schon deshalb oftmals sein, weil der Leser nicht in der Lage sein wird, seinen Weg durch das World Wide Web bis ins Detail zurückzuverfolgen: “[...]

no two routes through the maze ever likely to be the same, and every venturer thereinto not only a Theseus but a Daedalus, remodeling the labyrinth at will en route through it.” Barth, “The State of the Art”, 40.

319 Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 221.

320 Vgl. Zimmer, Die Bibliothek der Zukunft, 58.

321 Todesco, “Hyperkommunikation”, 121.

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bereitet; allein das Spiel mit dem Text kann bereits suggerieren, er bewege sich

“autonom durch einen (endlosen) Text”.322

Die Beeinflussung des Lesers aufgrund der optischen Hervorhebung der Ver-knüpfung wäre gegebenenfalls zu vermeiden, wenn diese Kennzeichnung wegfiele, der Leser sich also aus eigener Motivation und Neugier auf die Suche nach mög-lichen Verknüpfungen im Text begeben müßte.323 Dann stünde allerdings zu befürch-ten, daß sich das Bewegen in einem Hypertext auf ein “erratisches Umherirren und

‘Zusammenklauben’”324 reduziert oder in einer rein sequentiellen Leseweise endet.

Von dieser “Klickeratur”325 – wie er es nennt –, die das Interesse des Nutzers nicht zu fesseln vermöge und ihn deshalb zum unsteten (Weg-)Klicken veranlasse, will Schröder Hypertexte strikt abgegrenzt wissen. Hypertext-Komposition berge das Potential, “Texteinheiten zu einem Mehrwert des Nichtlinearen”326 zu strukturieren.

Wenn Schröder damit impliziert, dem Leser sei nun nicht mehr nur eine ein-zelne, sequentiell zu lesende Textversion vorgegeben, sondern eine Vielzahl indivi-duell kombinierbarer Textelemente, bleibt doch weiterhin folgende Frage ungelöst:

worin liegt der Mehrwert des Nichtlinearen? Liegt er nur im Handlungsspielraum des Lesers, sich gewissermaßen seinen eigenen Text zusammenzustellen? Daß dieser Mehrwert nicht selten zum Minderwert werden kann, ist eine von Todescos Erfah-rungen mit dieser Literaturform: “Man muss sich vom ‘federführenden’ Autor ans Gängelband nehmen lassen und in Kauf nehmen, dass man immer nur interpretiert, was in diesem Kontext zwangsläufig heisst, falsch interpretiert.”327 Zudem fühlt sich der Leser angesichts kompliziert strukturierter und schwer durchschaubarer Hyper-texte oftmals schon mit der Bedienung dieser Systeme überfordert.

Zwar könnte man einwenden, diese Verwaltung von Informationseinheiten befinde sich derzeit noch im Entwicklungsstadium, es bestehe berechtigter Grund zur Annahme, die aufgezeigten Grenzen der Hypertext-Systematik könnten früher oder später abgebaut werden. Es ist aber nicht anzunehmen, die technische oder inhalt-liche Weiterentwicklung werde alle Einschränkungen beseitigen; die folgenden bei-den Probleme scheinen nämlich systeminhärent zu sein:

322 Suter und Böhler, Hyperfiction, 19.

323 Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 72f.

324 Wingert, “Kann man Hypertexte lesen?”, 200.

325 Schröder, “Der Link als Herme und Seitensprung”, 50.

326 Ebd.

327 Todesco, “Hyperkommunikation”, 121.

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a) Kein konkreter Anfang/Schluß

Während gedruckte Texte und auch viele webunabhängige digitale Dokumente den Leser in der Regel in einer einzelnen einführenden Sequenz mit Thematik und Prota-gonisten vertraut machen, weisen die meisten Hypertext-Systeme – gleichgültig ob geschlossen oder offen – mehrere Einstiegsmöglichkeiten auf.328 Sie besitzen also im allgemeinen keinen konkreten Anfang und – wie bereits ausgeführt – keinen defini-tiven Schluß, weshalb Neumann beispielsweise Hypertext als einen Raum “ohne Anfang und Ende, nur mit einer ‘ewigen Mitte’”329 sieht.

Gleich zu Anfang muß der Leser sich festlegen, welche Richtung er einschla-gen möchte und welche Interessen er zu verfoleinschla-gen gedenkt. Somit steht er von An-beginn an unter dem Zwang, Entscheidungen fällen zu müssen. Douglas nennt dies

“the burden of interactivity”, die den Leser zu keinem Zeitpunkt vergessen läßt, daß er sich in einem virtuellen, dreidimensionalen Raum bewegt.330 Der Leser befindet sich also in einer permanenten Anspannung, die vermutlich einem ‘Versinken’ in der Lektüre, wie dies bei Drucktexten zweifellos der Fall sein kann, entgegensteht.

Sicherlich vermag ein Hypertext den Leser zu fesseln, doch es ist fraglich, ob der Zustand der vollständigen Entrückung von Zeit und Raum auch hier erlangt werden kann.

Zudem ist aufgrund der Orientierungslosigkeit, die bei allen Hypertexten ohne Übersichtsschema aufkommen kann, einzukalkulieren, daß der Leser den Lese-prozeß vorzeitig abbricht. Er wird sich niemals sicher sein, wirklich alle vom Autor vorgegebenen möglichen Textelemente gelesen zu haben, was dazu führen kann, daß bei der Rezeption dieser Art von Literatur stets ein Gefühl der Unsicherheit oder sogar des Verdrusses mitschwingt.331 So geht er womöglich fälschlicherweise davon aus, alle Verknüpfungen verfolgt zu haben, oder aber er wird der Angelegenheit über-drüssig.332

328 Douglas, The End of Books, 40.

329 Neumann, “Geisteswissenschaften im Internet”, 58.

330 Douglas, The End of Books, 52.

331 Siehe hierzu auch Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 59–61.

332 Letzteres wirft die Frage auf, ob das Hypertext-System einen Autor nicht in besonders hohem Maße dazu zwingt, möglichst fesselnd zu schreiben, da er andernfalls seine Leser verlieren könnte. Offen-sichtlich sind die Wechselwirkungen zwischen Text, Autor und Leser in bezug auf Hypertexte beson-ders extrem ausgeprägt.

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b) Flüchtigkeit des Textes

Das zweite Problem betrifft die Vergänglichkeit der vom Leser gewählten Lesewege:

Ein einmal gelesener Text ist in der Regel nicht bzw. nicht ohne weiteres in genau derselben Form reproduzierbar.333 Damit erhält jeder Lesevorgang zwar seinen ganz spezifischen Charakter sowie seine individuelle Dynamik, jedoch bringt diese Flüch-tigkeit signifikante Nachteile für den Leser mit sich. Nicht nur, daß ein Text auf diese Weise an Authentizität einbüßt, er verkörpert – im Gegensatz zu gedruckten Werken – auch niemals etwas Beständiges, an dem der Rezipient sich zu orientieren und fest-zuhalten vermöchte. Vor allem aber ist der Leser nicht mehr in der Lage, sein Re-zeptionserlebnis zu teilen. Die Flüchtigkeit des Textes führt zu einem Verlust der Kommunizierbarkeit; es fehlt der sogenannte common point of reference.

3. Hypertext-Rezeption

Was nun bedeuten alle die genannten Vor- und Nachteile für den Leser? Auf welche Weise bewegt er sich durch ein Hypertext-Dokument?

Hypertexte – seien sie in geschlossener oder offener Form konzipiert – können auf unterschiedliche Weise bearbeitet werden. Zum einen ist eine Leseweise möglich, die alle innerhalb des Dokuments offerierten zusätzlichen Informationseinheiten unbe-achtet läßt und sich ausschließlich auf den Hauptstrang des Hypertext-Systems konzen-triert. In diesem Zusammenhang wird oftmals von linearer Leseweise gesprochen, was allerdings oben bereits als oberflächliche und unpräzise Formulierung charakterisiert wurde, da der Rezeptionsvorgang eigentlich per se eine Beschränkung auf jeweils einen Sachverhalt beinhaltet und somit eine bewußte, gleichzeitige Wahrnehmung zweier Handlungsstränge ausschließt. Vielmehr sollte diese Leseweise eines Hyper-textes als widerkonzeptionelle Rezeption bezeichnet werden, da sie die eigentliche Bestimmung dieser Textform ignoriert.

3.1. Formen der konzeptionsentsprechenden Rezeption

Bei einer konzeptionsentsprechenden Rezeption334 – anders als bei der wider-konzeptionellen – reagiert der Leser flexibel und läßt sich auf die Gestaltung des

333 Douglas, The End of Books, 49.

334 Der ebenfalls als Alternative in Frage kommende Begriff konzeptionsbejahend trifft nicht den ei-gentlichen Sinn, da die Bejahung der Normalzustand ist; daher bilden die Bezeichnungen kon-zeptionsentsprechend oder konzeptionsgemäß die korrektere Variante.

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Textes ein. Diese Bearbeitungsform eines elektronischen Hypertext-Systems kann sequentiell, gezielt oder mehr oder weniger wahllos erfolgen.

Bei einer sequentiellen Verfahrensweise werden alle offerierten Textangebote systematisch nacheinander abgearbeitet. Diese Methode garantiert, daß alle Infor-mationen ausgeschöpft werden, gleichzeitig verlangt sie aber dem Leser die Dis-ziplin ab, sich nicht durch neue Verweise vom eigentlichen Text fortleiten zu lassen.

Bei gezieltem Vorgehen kann die Wahl des Leseweges entweder autoren-gelenkt oder aber gänzlich autorenunabhängig sein. Dementsprechend werden ent-weder planmäßig nur jene Informationen weiterverfolgt, die zur Ergänzung eines angestrebten Wissensstandes notwendig sind, wobei die Entscheidungen des Le-sers auf Hinweisen des Autors basieren, oder aber der Leser bewegt sich zwar ebenfalls mit Bedacht und intentional durch den Text, ohne hierbei jedoch der

“Leseeinladung des Autors”335 nachzukommen. Auch im letzteren Falle kann der Leser auf die Erreichung eines bestimmten Wissensstandes ausgerichtet sein, doch erlangt er sein Ziel unbeeinflußt von Autorenempfehlungen.336 Bei Wingert taucht diese bestimmt-unabhängige Leseweise unter der Bezeichnung “strong reading”337 auf, was die Selbstbestimmtheit des Vorgehens auf recht anschauliche Weise unter-streicht.

Bei mehr oder weniger wahllosen Bewegungen innerhalb eines Hypertext-Systems schließlich liegt kein konkretes Ziel vor; vielmehr läßt sich der Leser in der Hoffnung, zufällig auf interessante Informationen zu stoßen, oder auch nur zum reinen Zeitvertreib von seiner Intuition leiten:

Instead of a linear, page-by-page, line-by-line, book-by-book approach, the user connects information in an intuitive, associative manner. Hypertext fosters a lite-racy that is prompted by jumps of intuition and association.338

Andere Systematisierungen ergeben zum Teil ebenfalls eine Dreiteilung der Leseweisen.

335 Bernd Wingert, “Der Leser im Hypertext: Im Weinberg oder im Steinbruch?”, in: Suter und Böh-ler, Hg., Hyperfiction, 159–172, hier: 170.

336 Natürlich bewegt sich der Leser stets innerhalb des vom Autor vorgegebenen Systems und kann insofern strenggenommen niemals gänzlich frei und unbeeinflußt handeln. Gemeint ist damit der systembedingt größtmögliche Entscheidungs- und Aktionsspielraum des Rezipienten.

337 Wingert, “Der Leser im Hypertext”, 170.

338 Michael Heim, The Metaphysics of Virtual Reality (New York, 1993), 30.

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Wingert beispielsweise differenziert nach 1.) thematischer Folge, die sich z.B. an der Anordnung der Handlungsträger orientieren kann, 2.) traversaler Lese-weise auf der Basis einer autorengelenkten Tour oder der eigenen Inspiration folgend sowie 3.) montierender, d.h. die Abfolge selbst zusammenstellender Rezeptionsform, die auf der leserbestimmten Anordnung der Textelemente beruht.339

Wesentlich sprachkreativer präsentiert sich die Unterteilung von Flusser: Er bezeichnet die drei Formen der Textrezeption – nämlich “das vorsichtige Ausein-anderfalten, das hastige Überfliegen und das mißtrauische Nachschnüffeln” – als 1. die “kommentierende”,

2. die “folgsame” und

3. die “kritische” Leseweise.340

1. Unter kommentieren versteht Flusser das Mitdenken des Lesers, der das vom Schreiber gewissermaßen ‘An’-Gedachte in seiner Vorstellung verlängert, d.h.

weiter- und schließlich zu Ende denkt.341

Orientiert man sich am Aspekt des Mitdenkens, dann ließe sich Flussers Form der Textrezeption gegebenenfalls mit gezieltem, autorengelenktem Vor-gehen im Hypertext-System vergleichen. Dort werden – den Hinweisen des Autors folgend – nur jene Informationen weiterverfolgt, die zur Ergänzung eines angestrebten Wissensstandes notwendig sind. Damit wird in gewisser Weise auch das vom Autor Gedachte und Intendierte vervollständigt.

2. Das folgsame Lesen richtet sich nach Flusser an der zeilenförmigen Struktur der Texte aus. Der Inhalt erschließt sich dem Leser nur, wenn er dem Text Zeile für Zeile folgt, was allerdings – so Flussers Aussage – nicht nur bei hastigem Überfliegen, sondern auch bei langsamem “Kriechen der Zeile entlang”342 der Fall ist. Im Hin-blick auf die Hypertext-Systematik ist diese Art des Lesens mit der sequentiellen Verfahrensweise vergleichbar, nach der alle offerierten Informationen systematisch

339 Wingert, “Der Leser im Hypertext”, 162.

340 Vilém Flusser, Die Schrift: Hat Schreiben Zukunft? (Göttingen, 1987), 88.

341 Flusser interpretiert den Terminus sehr großzügig und setzt sich damit über dessen etymologische wie gegenwärtige Bedeutung hinweg. Im 17. Jh. wurde kommentieren aus dem Lateinischen ent-lehnt: commentari = etwas überdenken, Betrachtungen anstellen; auslegen. Mittlerweile hat kom-mentieren die Bedeutung von erläutern, zu etwas Stellung nehmen, einen Text mit kritischen An-merkungen versehen. Flusser hingegen beruft sich bei seiner Auslegung auf die Bedeutung von mens (= Denktätigkeit, Verstand; Vorstellung), zu dessen Wortfamilie das lateinische commentari zählt.

Flusser, Die Schrift, 89. Günther Drosdowski, Hg., Duden Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 2., völl. neu bearb. u. erw. Aufl. (Mannheim; Wien; Zürich, 1989 [11963]), 365f.

342 Flusser, Die Schrift, 89.

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nacheinander abgearbeitet werden. Auch dort erschließt sich der komplette Zusam-menhang nur dann, wenn der gesamte Text Verknüpfung für Verknüpfung verfolgt wird.

3. Die kritische Leseweise stellt das genau Gegenteil des folgsamen Lesens dar.

Dieses Vorgehen macht den Leser sozusagen zum Detektiv. Er deckt die Lügen des Schreibenden auf, indem er wider die Zeilenrichtung liest.

Wollte man auch hier eine Querverbindung zur Hypertext-Systematik her-stellen, so müßte man das sogenannte strong reading, d.h. die gezielte, autoren-unabhängige Vorgehensweise als Pendant heranziehen. Diese bestimmt-unabhän-gige Leseweise ließe sich möglicherweise mit kritischem Lesen gleichsetzen, denn der Leser läßt sich dort nicht von den Empfehlungen des Autors beein-flussen, sondern folgt nur seinen eigenen Vorstellungen. Damit liest er ebenfalls gleichsam gegen den vorgesehenen Ablauf und deckt auf diese Weise eventuell auch die Wahrheit auf, die der Autor zu verdecken suchte.

Für welche Form der konzeptionsentsprechenden Rezeption der Leser sich auch immer entscheidet, er stellt sich grundsätzlich einer höheren geistigen Heraus-forderung, als dies bei widerkonzeptioneller Rezeption der Fall wäre. Anstatt sich – wie in der Regel im linear-konzipierten Text – vorwiegend auf den Inhalt zu

Für welche Form der konzeptionsentsprechenden Rezeption der Leser sich auch immer entscheidet, er stellt sich grundsätzlich einer höheren geistigen Heraus-forderung, als dies bei widerkonzeptioneller Rezeption der Fall wäre. Anstatt sich – wie in der Regel im linear-konzipierten Text – vorwiegend auf den Inhalt zu