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Das Problem der Linearität

III. Die Begriffsproblematik –

1.2. Das Problem der Linearität

Während Birkerts den Computer-Bildschirm als ein grundsätzlich ungeeignetes Prä-sentationsmedium für Literatur ansieht, wird die Existenz von Online-Literatur von anderer Seite als gegeben und berechtigt vorausgesetzt. Dort betrifft die Kritik in erster Linie die Konzeption des Dargebotenen. Die im Laufe der Zeit durch die Re-zeption von Druckwerken geprägten Betrachtungsweisen und Interpretationstech-niken – so wird gesagt – erschwerten oder verhinderten gar den Zugang zu digitaler Literatur172. Der Wert der Online-Werke werde anhand jener Maßstäbe ermittelt, die üblicherweise auf gedruckte Literatur angewandt würden, weshalb der Leser oftmals zu der Auffassung gelange, Web-Literatur weise keine Gemeinsamkeiten mit ge-druckter Literatur auf173; im Extremfall werde ihre Lesbarkeit sogar grundsätzlich in Frage gestellt.174

Eine zentrale Rolle spielt bei dieser Argumentation die Linearität im Hinblick auf die Darstellungs- und Rezeptionsweise. Die Tatsache, daß Geradlinigkeit un-trennbar mit dem Begriff Literatur verbunden zu sein scheint, ja gewissermaßen synonym dafür verwendet wird, ist eine weitere Bestätigung der obigen

172 Vgl. ebd.

173 Schröder, “Der Link als Herme und Seitensprung”, 44.

174 Todesco, “Hyperkommunikation”, 121.

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rungen: Das Denken in festgelegten Strukturen steht einer angemessenen Betrach-tungsweise entgegen. Auch bei der strengen Einteilung von Literatur in lineare (in gedruckter Form) und nicht-lineare Publikationen (auf dem Computer) wird nämlich oftmals übersehen, daß eine solche Abgrenzung nicht nur die Sichtweise beengt, sondern letztlich gar nicht möglich ist. Gedruckte Literatur müßte demzufolge stets geradlinig ohne Rückblick, Vorschau oder Exkurs zu Hintergrundinformationen lesen werden, wohingegen der Leser bei der Literaturrezeption am Computer ge-zwungen wäre, grundsätzlich alle Verknüpfungsangebote wahrzunehmen. Tatsäch-lich aber beinhalten beide Literaturformen sowohl Linearität als auch Nicht-Linearität. Zudem hat Zimmer völlig richtig erkannt: prinzipiell ist es unerheblich, ob es sich um ein gedrucktes Werk mit einem einzigen, vorgegebenen Lesestrang oder aber um ein Online-Werk mit unzähligen Verknüpfungen und somit verschie-denen möglichen Leseweisen handelt. Hier wie da kann der Rezeptionsvorgang nur aufeinanderfolgend ablaufen; “kreisförmig oder Verschiedenes simultan kann der Mensch nicht lesen”.175

Daß die individuellen Leseerfahrungen auch in Hypertext-Systemen linear verlaufen, wird von Nestvold bestätigt:

Beim Lesen der gleichen Hyperfiction werden zwar zwei verschiedene Leser selten den gleichen Text in der gleichen Reihenfolge lesen, aber beide werden einen Bildschirm nach dem anderen rezipieren und sich so in ausgesprochen linearer Weise durch den Text bewegen.176

Diesen Standpunkt vertritt auch Bart:

We live and think and perceive and act in time, and time implies sequence, and sequence is what gives rise to narrative. This happened and then that and then that, and if we want to recount what happened, to share it with others and even with ourselves, we have to proceed in narrative sequence – the story of our day, the stories of our lives. Those stories are linear, even when their subject is often not, and they remain linear even when the order of narration is dischrono-logical.177

Daß Erzählungen – und im Grunde genommen nur diese – linear sind, glaubt Kuhlen mit dem Hinweis belegen zu können, daß Texte – bei Kuhlen verstanden als schriftlich Niedergelegtes – bereits aufgrund ihres physikalischen Zustands

175 Zimmer, Die Bibliothek der Zukunft, 56.

176 Nestvold, “Das Ende des Buches”, 23.

177 John Barth, “The State of the Art”, WQ – The Wilson Quarterly 20 (1996), 36–45, hier: 43.

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sional sind.178 Tatsächlich läßt sich gedruckte Literatur auch in nicht-linearer Weise rezipieren: Klostermann erinnert daran, daß Bücher sich auf mannigfaltigem Wege er-schließen lassen, wie zum Beispiel durch ihr Inhaltsverzeichnis, anhand der Fußnoten, mit Hilfe des Registers usw.; auch könne der Leser mehrere Publikationen parallel bearbeiten und außerdem seine Finger als “nicht-elektronische ‘bookmarks’” ein-setzen.179

Auch Aarseth nimmt Abstand von den Begriffen der Linearität und der Nicht-Linearität. Seiner Überzeugung nach vereinbart jede Form der Literatur, ob sie nun online oder offline präsentiert wird, beiderlei Aspekte. So sei jeder Lesevorgang bis zu einem gewissen Grade nicht-linear und lasse somit ein Werke bei jeder neuen Rezeption unterschiedlich erscheinen. Eine konsequent nicht-lineare Wahrnehmung sei nun allerdings nicht möglich, da der Leser – wie oben bereits ausgeführt – nicht mehrere Sequenzen gleichzeitig lesen könne.180

178 Kuhlen, Hypertext, 27.

179 Klostermann, “‘Von Gutenberg zum Internet’ – Wie bitte?!”, 25. Tatsächlich könnte man sagen, daß sich ein Inhaltsverzeichnis aus Hypertext-Verweisen zusammensetzt, die den Leser zu den unterschiedlichen Knoten des Gesamttextes, das heißt den einzelnen Kapiteln, lotsen. Hier handelt es sich eigentlich um Hypertext-Verknüpfungen, mittels derer der Leser das Dokument auf nicht-lineare Weise erschließen könnte, die aber oftmals nur dazu dienen, dem Leser einen Überblick über die Inhalte einer Publikation zu verschaffen. Vergleicht man nun elektronische und gedruckte Dokumente, so wird deutlich, daß der Ursprung elektronischer Hypertext-Links in Print-Doku-menten liegt. Schreiber bringt diesen Zusammenhang auf eine simple Formel und kommentiert Interaktivität, die eigentlich so oft als Novum moderner digitaler Medien bezeichnet wird, folgendermaßen: “Es ist im Grunde lediglich eine Art elektronische Blätterhilfe.” Gerhard An-dreas Schreiber, Neue Wege des Publizierens: Das Handbuch zu Einsatz, Strategie und Realisie-rung aller elektronischen Medien (Braunschweig, 1997), 15. – Wie aus obigem Zitat hervorgeht, vertritt Klostermann die These, auch Bücher ließen sich nicht-sequentiell rezipieren. Mit seiner Veröffentlichung Verlegen im Netz bricht er eine Lanze für das Buch und scheint mit der struk-turellen Konzeption dieser Publikation schon vorweg den Beweis für seine These führen zu wollen. Der Drucktext ist ebenso gestaltet wie ein Online-Dokument: Kapitelüberschriften, einzel-ne Begriffe und Hinweise auf Beiträge anderer Autoren sind farblich hervorgehoben und als Verknüpfungen gekennzeichnet. Am Ende fast aller Kapitel finden sich Verweise, die zur Kapitel-übersicht oder zum nächsten Abschnitt leiten. Diese für Drucktexte ungewöhnliche Konzeption vermittelt in der Tat zunächst das Gefühl, man bewege sich in einem Hypertext. Bei der Rezeption des Textes wird aber auch schnell deutlich, wo die Schwachpunkte der gedruckten Publikation im Hypertext-Format liegen – nämlich im Suchen und Blättern – und man gelangt zu der Erkenntnis, daß elektronische Hypertexte eine sehr hilfreiche und komfortable Navigationshilfe darstellen.

Klostermanns Werk läßt zudem einen weiteren Nachteil von Druckpublikationen deutlich werden:

die Abgeschlossenheit des Textes. Wenn Klostermann davon spricht, es handele sich bei seiner Veröffentlichung um einen offenen Beitrag zu dem behandelten Thema, und er daraufhin betont, er nehme gerne neue Links auf, entsteht für den Leser der gedruckten Textversion das Gefühl, wichtige Beiträge eventuell nicht zu Gesicht zu bekommen. Hingegen läßt sich die Web-Version jederzeit erweitern oder unter Umständen auch reduzieren, wenn Aspekte wieder verworfen wer-den. Allerdings stellt diese Tatsache gleichzeitig auch wieder einen Nachteil dar: Klostermann selbst weist darauf hin, daß das Werk aufgrund dieser Veränderbarkeit “somit nach den üblichen Kriterien nicht zitierfähig” ist. Klostermann, Verlegen im Netz, Punkt 1.d.) des Textes.

180 Espen J. Aarseth, Cybertext: Perspectives on Ergodic Literature (Baltimore; London, 1997), 2.

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Nicht im Hinblick auf die Rezeption, sondern vielmehr vor dem Hintergrund der physikalischen Struktur eines Werkes verwendet Costanzo die Begriffe von Linearität und Nicht-Linearität:

Books are linear because their pages are physically bound in a fixed sequence. For the most part, we read them as continuous stream of words. By contrast, electronic texts have no set boundaries.181

Vermutlich ist dieser konzeptionsorientierte Ansatz von Costanzo noch am ehesten zu akzeptieren. Zwar scheint es nicht angeraten, eine strikte Trennung zwischen line-aren Texten = Ducktexten und nicht-lineline-aren Texten = elektronischen Hypertexten vorzunehmen; es ist jedoch als vertretbar anzusehen, zwischen linear beziehungs-weise nicht-linear konzipierten Texten zu unterscheiden: Alle Texte, die als kon-ventionelle Drucktexte abgefaßt sind, gelten demnach als linear konzipierte Texte, wohingegen diejenigen, die als elektronische Hypertexte gestaltet sind, als nicht-linear konzipiert zu verstehen sind.

Sobald die Frage nach Linearität beziehungsweise Nicht-Linearität unter dem Aspekt der Textrezeption erörtert wird, beginnen die Begriffe dagegen ineinander zu fließen und verhindern somit eine klare Trennung voneinander. Drucktexte lassen durchaus eine nicht-lineare Lesart zu und die Tatsache, daß eine Geschichte im World Wide Web präsentiert wird, wo sie gegebenenfalls Verknüpfungen aufweist, die über die eigene Erzählung hinausgehen und den Leser mit Zusatzinformationen oder anderen Online-Werken verbinden, ändert nichts an der Gegebenheit, daß diese Geschichte unabhängig von dem Weg, den der Leser jeweils wählt, dennoch immer einen linearen Verlauf nimmt. So sollten die Texte der jeweiligen informationellen Einheiten stets “kohäsiv geschlossen, kontextoffen und untereinander relationiert sein”182. Die Schwierigkeit liegt dabei in der Verständnissicherung, die durch ein aufeinander abgestimmtes Arrangement der informationellen Einheiten sichergestellt sein muß. Die einzelnen Einheiten müssen nicht nur für sich genommen verständlich sein, sondern auch in den situativen Kontext passen.183 Allerdings muß eingeräumt werden, daß ein Zusammenhang des gesamten Hypertextes, das heißt eine

181 William Costanzo, “Reading, Writing, and Thinking in an Age of Electronic Literacy”, in:

Cynthia L. Selfe und Susan Hilligoss, Hg., Literacy and Computers: The Complications of Teaching and Learning with Technology (New York, 1994), 11–21, hier: 12.

182 Kuhlen, Hypertext, 333.

183 Vgl. ebd., 81.

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“kohärente Ganzheit aus sinnvoll angeordneten Untereinheiten”184 nur schwer zu gewährleisten ist. Der inhaltliche Hergang muß aber für den Leser schlüssig und nachvollziehbar sein, da dieser andernfalls zu demselben Urteil gelangen könnte wie Klostermann:

“Die Ideologie des elektronischen Hypertextes gibt dagegen dem nicht-linearen Lesen den Vorrang; sie serviert nur noch Häppchen.”185 Es darf nicht unerwähnt bleiben, daß diese Auffassung zum Teil durchaus begründet ist: Im World Wide Web finden sich viele Dokumente, die relativ kurz, oftmals noch unvollständig und teil-weise zusammenhanglos sind. Eine These, Online-Texte bestünden generell aus-schließlich aus Bruchstücken, wäre allerdings nicht haltbar.

Sieht man ab von der sehr stark eingeschränkten Bedeutung von Linearität, wie Costanzo sie versteht, so zeigt sich, daß Linearität der Übertragung des Litera-turbegriffes auf den WWW-Bereich keineswegs entgegensteht. Andererseits legt sie eine solche Begriffserweiterung aber auch nicht nahe. So interessant der Aspekt der Linearität zunächst auch anmutet: Für die Lösung des Terminologieproblems, der sich der vorliegende Abschnitt III. widmet, ist er letztlich ohne Bedeutung.