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Grundsätzliche Tauglichkeit des Begriffes Literatur

III. Die Begriffsproblematik –

2. Begriffsdiskussion

2.2. Grundsätzliche Tauglichkeit des Begriffes Literatur

Die Unzulänglichkeit aller bisher betrachteten Termini führt zu dem vorläufigen Schluß, daß die geforderte Abkehr vom Begriff Literatur wahrscheinlich nicht ge-rechtfertigt ist. Es ist davon auszugehen, daß das Wort Literatur auch für Werke zu verwenden ist, deren Schwerpunkt eindeutig nicht auf einem schriftlichen Zeichen-system, sondern auf Bild-, Ton-, Animations- und Interaktionselementen liegt. Das daraus resultierende Erscheinungsbild führt allerdings zu der Frage, ob die Beschäf-tigung mit einem (literarischen) Online-Werk als Lesen bezeichnet werden kann. Käme man zu der Überzeugung, daß hier durchaus von einem Lesevorgang gesprochen wer-den kann, ließe sich unter Inanspruchnahme eines gewissen Interpretationsspielraumes auch in bezug auf das World Wide Web ohne weiteres der Begriff Literatur ver-wenden.

Ein lebhaftes Plädoyer g e g e n den Begriff des Lesens hält Kress. Ehemals gedruckt vorliegender Text präsentiert sich auf einem Computerbildschirm – so Kress – in gänzlich veränderter Gestalt, weshalb er ihn dort als Ressource bezeich-nen möchte; da diese Ressource nicht mehr in herkömmlicher Weise rezipiert werden kann, spricht Kress auch nicht mehr von einem Lese-, sondern von einem Nutzungsvorgang: Sei das herkömmliche Buch noch von Anfang bis Ende durch-gelesen worden, so werde es in seiner neuen Erscheinungsform nicht mehr durch-gelesen, sondern genutzt.210 Die herkömmlichen Begriffe von Text und Lesen sind also durch die Einführung der neuen Medien angeblich zu speziell geworden, weshalb sie nach Meinung von Kress durch unspezifischere Bezeichnungen ersetzt werden müssen.

Kress leistet ein offenes Bekenntnis zum Zeitgeist, der den Aspekt der Zweckgebundenheit menschlichen Handelns akzentuiert. Er ist reformbereit und bedient sich gängiger Bezeichnungen, die sowohl kurzgefaßt als auch aussagekräftig sind. Bei konsequenter Weiterführung seiner Gedanken müßte man zu der

210 Gunther Kress, “Visual and verbal modes of representation in electronically mediated communi-cation: the potentials of new forms of text”, in: Ilana Snyder, Hg., Page to Screen, 53–79, hier: 66.

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folgerung gelangen, daß im Hinblick auf elektronische Publikationen auch der Aus-druck Literatur keine weitere Verwendung mehr finden kann.

Dagegen stehen andere Argumente, die für eine Weiterverwendung bezie-hungsweise für einen großzügigeren Gebrauch des Lesebegriffs sprechen. Einen Ein-stieg in diese Frage liefert uns die Analyse des Lesevorganges. Daß der Begriff des Lesens nämlich nicht notwendigerweise an Schrift gebunden ist, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was sich während des Leseprozesses im Kopf eines Lesers abspielt. “Lesen ist ausdeutendes Bemerken differenzierender Merkmale.”211 Dieses Urteil beruht auf der Tatsache, daß der Leser bei der Rezeption eines Textes nicht allein die Schrift dechiffriert, sondern vielmehr den dahinterliegenden Gedan-kengang erschließt. “Lesen heißt also nicht nur, Buchstaben und Wörter zu ver-lautlichen, Text zu entziffern, sondern das darin Eingekleidete so zu erkennen, als sei der Text gar nicht da.”212 Genau darum geht es beispielsweise auch, wenn man vom Lesen einer Tierspur spricht: Gemeint ist in diesem Zusammenhang eigentlich, daß die Fährte interpretiert, das heißt der Hintergrund des Abdrucks ausgedeutet wird.

Losgelöst von Schrift taucht der Begriff des Lesens noch in einem weiteren Zusammenhang auf: Auch bei Karten und Stadtplänen spricht man in der Regel vom Lesen. Gerade dieser Umstand legt einen Vergleich mit dem vernetzten System des World Wide Web nahe und führt zu einer weiteren Assoziation: Indem sich der Nutzer im WWW auf der Suche nach Informationen von einer Verknüp-fung zur nächsten bewegt, sammelt er gewissermaßen alle relevanten Daten ein; so wie der Winzer, der die Trauben einsammelt, Wein l e s e hält, betreibt auch der Nutzer Lese.

Es wird deutlich, daß der Begriff des Lesens vielfältige Interpretationen zu-läßt. Damit sollte eigentlich auch der Begriff der Literatur, dem die Lesbarkeit immanent ist, grundsätzlich über die für eine Verwendung im Bereich des World Wide Web nötige Flexibilität verfügen. Unerklärlich bleibt, warum sich so viele Autoren mit einer Übernahme des Begriffes – unmittelbar oder in abgewandelter Form – so schwer tun. Auch Birkerts sucht zu erfahren, wie die Widerstände zu erklären sind:

211 Wingert, “Kann man Hypertexte lesen?”, 189.

212 Ebd.

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Wer da behauptet, daß wir nur lesen, solange unser Blick über die Zeilen gleitet, solange wir unmittelbar im Bann der Sprache stehen, die Worte stumm in unse-rem Innern nachsprechen, der behauptet nach derselben Logik auch, daß der Schriftsteller nur schreibt, solange er damit beschäftigt ist, das Papier mit Schriftzeichen zu bedecken. Welcher Schriftsteller würde sich über ein so bor-niert wörtliches Verständnis seines Tuns nicht mokieren?213

An dieser Stelle wird endgültig deutlich, daß es aus Gründen der allenthalben wün-schenswerten Flexibilität, Dynamik und Farbigkeit geboten erscheint, sämtlichen hier behandelten Begriffen mit mehr Großzügigkeit zu begegnen: dem Wort Lesen, dem Ausdruck Autor, dem Begriff Literatur und ebenso der Bezeichnung Text, denn auch dieser stellt sich nicht mehr als “klassische typographische Differenz von Schriftbild und Hintergrund”214 dar, sondern präsentiert sich nunmehr als “Anzahl seiner Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Datenmengen”215, was bedeutet, daß der Text zu einem Datengeflecht wird.

So enthalten die neuen Werke im World Wide Web zwar die bekannten Ele-mente, die Literatur üblicherweise ausmachen, doch alles scheint in erweiterter Form aufzutreten: Es handelt sich nicht mehr nur um reinen Text, sondern zusätzlich auch um multimediale Elemente; es gibt nicht mehr nur e i n e Leseweise, sondern zahl-reiche Versionen; oftmals zeichnet nicht nur e i n Autor, sondern eine Autoren-gemeinschaft für ein Werk verantwortlich.

Ungeachtet ihrer Andersartigkeit weisen die neuen Formen von Literatur im Wesentlichen noch zu große Ähnlichkeit mit den traditionellen Literaturformen auf, als daß eine trennende Grenze gezogen werden sollte. Mit einem Verständnis von Online-Literatur als einer weiterentwickelten, gewissermaßen gesteigerten Variante von gedruckter Literatur sollte man sowohl dem innovativen Charakter der neuen Literaturform als auch dem traditionellen Literaturbegriff gerecht werden können.

Ein Auseinanderdividieren beider Varianten sollte hinter einem Verständnis von Vielfalt in der Einheit zurücktreten.

213 Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 131.

214 Karin Wenz, “Die unerträgliche Leichtigkeit des Textes”, in: Bildschirmfiktionen, 245–254, hier:

248.

215 Ebd., 249.

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