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Der Feinabstimmung erster Schritt

III. Die Begriffsproblematik –

3. Abstimmung auf die Besonderheiten des WWW

3.1. Der Feinabstimmung erster Schritt

So könnte beispielsweise Hyperliterature in Anlehnung an Selfe und Hilligoss216 die begriffliche Synthese von Altem und Neuem bilden. Nicht ausreichend zum Aus-druck kommen in dieser Bezeichnung allerdings die entscheidenden Merkmale des World Wide Web wie globale Zugriffsmöglichkeit, Interaktivität und Kooperations-möglichkeit, die dieses Online-Medium von anderen elektronischen Datenträgern unterscheiden. Eine CD-ROM beispielsweise bildet ein in sich geschlossenes Werk, das auch auf Interaktivität, Kooperativität und Zugriff auf das WWW217 ausgelegt sein kann, aber niemals die Dynamik des Web aufzuweisen vermag. Da es in vorlie-gender Arbeit ausschließlich um Online-Literatur geht, erscheint die Bezeichnung Hyperliterature als nur bedingt geeignet.

Ebenfalls weitgehend unberücksichtigt bleiben die besonderen Eigenschaften des WWW bei dem Terminus Digitale Literatur. Zu Recht differenziert Heibach in ihrem Artikel zwischen der vernetzten und der unvernetzten digitalen Literatur218, weshalb Simanowski Digitale Literatur folgerichtig als “Dachbegriff”219 bezeichnet.

Tatsächlich ist das Netz “nur eines der digitalen Medien”220; daher kommt auch dieser Terminus als Alternative nicht in Frage.

216 Selfe und Hilligoss verwenden den Ausdruck Hyperliteracy und erfassen damit wesentliche Cha-rakteristika von Online-Literatur in einem einzigen Wort. Cynthia L. Selfe und Susan Hilligoss,

“Introduction”, in: Selfe und Hilligoss, Hg., Literacy and Computers, 1–7, hier: 5.

217 Bei dieser Zugriffsmöglichkeit wird durch das Anklicken eines Verknüpfungshinweises auf der CD-ROM automatisch der Zugang zum World Wide Web aktiviert. Bei diesem Automatismus gehen allerdings gewisse Veränderungen wie beispielsweise ein Wechsel der WWW-Adresse – sofern keine automatische Weiterschaltung zur neuen Adresse erfolgt – notwendigerweise ins Leere.

218 Christiane Heibach, “Ins Universum der digitalen Literatur. Versuch einer Typologie”, in: Digitale Literatur [Text + Kritik: Zeitschrift für Literatur 152 (2001)], 31–42, hier: 33.

219 Simanowski, “Autorschaft in digitalen Medien ”, 4.

220 Ebd.

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 70

Eine völlig neue Dimension eröffnet Aarseth mit seinem Terminus “Ergodic Literature”.221 Ergodisch ist ein aus der Physik stammender Fachausdruck, der auf den griechischen Worten ergon und hodos basiert und damit die Begriffe Arbeit und Weg in einer Wendung zusammenführt.222 Aarseth weist dem Lesevorgang in com-putergesteuerten Umgebungen nämlich einen neuen, handlungsorientierten Aspekt zu, indem er zwischen dem Lesen eines herkömmlichen Werkes als einem haupt-sächlich geistigen Vorgang und der Rezeption eines Cybertextes als einer vor-wiegend manuellen Tätigkeit unterscheidet. Letztere erklärt sich aus der Konzeption dieser Texte, aufgrund derer der Leser mittels Auf- und Abwärtsbewegen der Seiten sowie durch Anklicken von Links und aktive Kooperation körperliche Leistung ver-richtet:

The cybertext reader is a player, a gambler; the cybertext is a game-world or world-game; it is possible to explore, get lost, and discover secret paths in these texts, not metaphorically, but through the topological structures of the textual machinery.223

Die physische Arbeit des Cybertext-Lesers stellt Aarseth als einen “nontrivial effort”

dar, während er das Lesen nicht-ergodischer Literatur als “trivial effort” bezeich-net.224

So neuartig und progressiv der Ansatz von Aarseth auch erscheint, vermag er dennoch nicht zu überzeugen. Zum einen wird der Umgang mit digitaler Literatur zu stark auf die manuelle Betätigung des Lesers beschränkt, wodurch die Literatur auf eine reine “Klickeratur”225 und der Leser auf einen “Knöpfchen-drückenden Affen”226 reduziert wird. Tatsächlich geht mit der Beschäftigung mit Cybertexten jedoch oft eine erhebliche Kopfarbeit einher; fast könnte man so weit gehen zu behaupten, der Leser müsse sogar eine höhere geistige Flexibilität aufbringen, als es bei gedruckter Literatur der Fall ist: Er muß nicht nur passiv den Inhalt seiner Lektüre aufnehmen, sondern muß sich gleichzeitig auch aktiv durch den

221 Aarseth, Cybertext, 1.

222 Ebd.

223 Ebd., 4.

224 Ebd., 1

225 Schröder, “Der Link als Herme und Seitensprung”, 50.

226 Rena Tangens und padeluun, “Auf dem Weg zu einer Informationsgesellschaft”, in: Enquête-Kom-mission ‘Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft; Deutschlands Weg in die Informations-gesellschaft’ Deutscher Bundestag, Hg., Medienkompetenz im Informationszeitalter (Bonn, 1997), 147–161, hier: 151.

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 71

vernetzten Text bewegen und verlaufsrelevante Entscheidungen treffen.227 Zum anderen kann Aarseth deshalb nicht überzeugen, weil seine Kriterien für ergodische Literatur generell auf alle digitalen Texten zutreffen. Im Rahmen vorliegender Arbeit sollen die Begrifflichkeiten jedoch – wie bereits betont – nur in bezug auf Online-Literatur hinterfragt werden. Da die Bezeichnung Ergodische Online-Literatur also zu weitgefaßt ist, kann der Vorschlag von Aarseth ebenfalls nicht aufgegriffen werden.

Eine treffendere Benennung findet sich bei Zimmer, der in seinen Ausfüh-rungen zu Literatur in Verbindung mit Computern den Begriff “Web-Literatur”228 zu verwenden pflegt. Zimmer, der sich intensiv und – wie vorangehend erörtert – durch-aus kritisch mit dem Thema Text und Schrift im Zeitalter des World Wide Web auseinandersetzt, bedient sich hier eines Ausdrucks, der alle vorangehend aufge-stellten Forderungen für einen neuen Terminus in sich vereint: Es geht eindeutig aus ihm hervor, um welches Präsentationsmedium es sich handelt, und es ist gleichzeitig auch klar zu erkennen, was genau dort dargeboten wird.

Dasselbe gilt offenbar für die bereits vielfach verwendete Bezeichnung Netz-literatur229. Bei einer Gegenüberstellung der beiden Ausdrücke hätte der Terminus Netz-literatur sogar den Vorteil, daß er keine zusammengesetzte, mehrsprachige Verbindung aus der englischen Kurzfassung für das WWW und dem deutschen Wort Literatur dar-stellt. Für den deutschen Sprachraum sollte sich diese Bezeichnung daher eigentlich als die überzeugendere Wortschöpfung empfehlen. Der Begriff Web-Literatur genießt aber vermutlich eine höhere internationale Akzeptanz. Weit schwerer fällt jedoch ins Ge-wicht, daß Web-Literatur und Netzliteratur eben doch nicht völlig gleichbedeutend sind.

227 Diese Einschätzung widerspricht zwar auf den ersten Blick den in Kapitel I.3. erwähnten Unter-suchungsergebnissen, die eindeutig eine Verkümmerung entscheidender geistiger Fähigkeiten durch Bildschirmnutzung aufzeigen; so bemerkten beispielsweise Bischof und Heidtmann bei Jugendlichen eine deutliche Verschlechterung der Fähigkeit, mehrschichtige Texte zu verstehen. Bischof und Heidtmann, “Warum sind Film- und Fernsehbücher so erfolgreich?”, 414. Diese Verschlechterung muß allerdings nicht notwendigerweise auf Computer-Nutzung zurückzuführen sein. Im übrigen ist davon auszugehen, daß sich die bei Bischof und Heidtmann aufgeführten Erkenntnisse offenbar nicht auf die Rezeption komplexer literarischer Hypertexte stützen, da deren Bearbeitung geistige Kompetenzen eher fördert als beeinträchtigt.

228 Zimmer, “Die digitale Bibliothek”, 285ff. und ders., Die Bibliothek der Zukunft, 59.

229 Berlich, “Das Internet als innerer Ort”, 146. Reinhold Greter, “Versuch über Welttexte”, in: Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 85–100, hier: 86. Martina Kieninger, “Vom Schreiben auf glatten Oberflächen: Zur Geschichte des zweisprachigen Mehrautorenprojekts Tango”, in: Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 183–199, hier: 199. Schröder, “Der Link als Herme und Seitensprung”, 43. Hautzinger, Vom Buch zum Internet?, 17ff. Wolfgang Tischer, “‘Anfangserscheinungen und Kinderkrankheiten’, <http://www.literaturcafe.de/berichte/roterm.shtml>, 25.11.2002. Peter Gen-dolla und Jörgen Schäfer, “Auf Spurensuche. Literatur im Netz, Netzliteratur und ihre Vor-geschichte(n)”, in: Digitale Literatur [Text + Kritik: Zeitschrift für Literatur 152 (2001)], 75–86, hier: 75ff. Simanowski, “Interfictions”, <http://www.dichtung-digital.de/buch/einleitung.htm#2>, 18.02.2003.

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Simanowski definiert Netzliteratur unter Berücksichtigung der besonderen Dynamik des Netzes als “das, was sich der spezifischen Eigenschaft des Internet in ästhetischer Absicht bedient”.230 Simanowski bezieht sich damit ausdrücklich auf das Internet. Als synonyme Begriffe werden oftmals auch die Bezeichnungen Net-Literatur und Internet-Net-Literatur verwendet. Letztere nimmt bereits seit mehreren Jah-ren einen festen Platz im Sachwörterbuch zur deutschen Literatur ein und definiert sich dort als “durch das neue elektronische Medium verbreitete beziehungsweise eigens für dieses Medium geschriebene Literatur”, die als spezifische Net- oder Internet-Literatur “die Möglichkeiten des Mediums selbst fruchtbar macht und da-durch zu neuen Literaturformen zu gelangen sucht”.231

Daß die Begriffe Internet und World Wide Web aber immer wieder – fälsch-licherweise – synonym gebraucht werden, hat Cramer zu folgender Klarstellung be-wogen:

Die Gleichsetzung von Netzdichtung und Hyperfiction ist so falsch wie die Gleichsetzung des Internets mit dem World Wide Web. Neben zum Beispiel E-Mail, Newsgroups, IRC, ICQ und Napster ist das World Wide Web nur einer von unzähligen Internetdiensten, [...].232

Zimmer begeht genau diesen Fehler. Einerseits scheint ihm an einer sehr präzisen Sprachverwendung gelegen zu sein, andererseits aber bleiben seine eigenen Aus-sagen ungenau und widersprüchlich: “‘Internetliteratur’ [...] – das ist die eigens fürs Internet, genauer fürs World Wide Web geschriebene Literatur”.233

Wenn das WWW als ein eigener Bereich mit einer eigenen, ganz spezifischen Charakteristik zu behandeln ist, muß das dort Präsentierte konsequenterweise auch einen eigenen Namen erhalten.234

230 Ebd., 18.02.2003.

231 Volker Meid, Sachwörterbuch zur deutschen Literatur (Stuttgart, 1999), 252.

232 Cramer, Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt, 4.

233 Zimmer, Die Bibliothek der Zukunft, 52.

234 Die hier eingeforderte Genauigkeit mag als ein Widerspruch zu der bisher immer wieder angemahnten Großzügigkeit im Umgang mit dem Begriff Literatur erscheinen. Warum sollte es gestattet sein, gewis-se Aspekte mit Toleranz zu behandeln, bei anderen hingegen für Exaktheit zu plädieren? – Diegewis-se Vor-gehensweise ist keineswegs ein Widerspruch. Solange sich ein bereits etablierter Begriff als tragfähig erweist und als ausbau- und entwicklungsfähig angesehen werden kann, besteht keine Notwendigkeit, ihn durch einen neuen Begriff zu ersetzen. Diese Erfordernis ist erst recht nicht gegeben, wenn sich das Zielobjekt der Neubenennung noch im Anfangsstadium seiner Entwicklung befindet. Daher scheint es angeraten, den Terminus Literatur als begriffliche Ausgangsbasis weiterzuverwenden und ihn durch Wortergänzungen genauer zu spezifizieren und damit den Gegebenheiten des WWW anzupassen. Hier sei auf Grether verwiesen, der die Verwendung des Literaturbegriffes mit folgendem Argument recht-fertigt: “Wenn es Oral-, Manuskript- und Druckliteratur gibt, dann kann es auch Netzliteratur geben.”

Grether, “Versuch über Welttexte”, 86. – Warum sollte es also nicht auch Web-Literatur geben?

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 73

Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand vorliegender Arbeit muß der Ausdruck Web-Literatur eindeutig für die präzisere Bezeichnung erklärt werden.

Thema ist die englischsprachige Literatur im World Wide Web, womit eine ein-deutige Abgrenzung zu dem übergeordneten Medium Internet intendiert ist. Das Internet umfaßt als weltweites Computernetz die verschiedensten Netzwerke, die beispielsweise zur Übertragung von Dateien, zur Übermittlung elektronischer Nach-richten oder eben für den Zugriff auf das WWW genutzt werden. Daher ist der Begriff Netzliteratur nicht spezifisch genug, könnte es sich doch auch um eine Literaturform handeln, die i n einem, ü b e r ein oder f ü r ein Chat-Forum – ebenfalls ein Internetdienst – konzipiert wird. Der Ausdruck Web-Literatur hingegen signali-siert eindeutig, daß es sich um das Präsentationsmedium World Wide Web handelt.

Zwar gibt es auch dort unterschiedliche Dienste, wie E-Mail oder Kommunikations-foren, aber die terminologische Eingrenzung auf das World Wide Web ist zumindest gegeben.

So müßte die Entscheidung an dieser Stelle ungeachtet der Sprachmischung eigentlich zugunsten des Kompositums Web-Literatur fallen, da es ausdrucksstark, unmißverständlich, eingängig, international und eben konkret auf das WWW bezo-gen ist.