• Keine Ergebnisse gefunden

Online-Literatur zwischen Tradition und Moderne

III. Die Begriffsproblematik –

1.1. Online-Literatur zwischen Tradition und Moderne

Eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen ist seine Fähigkeit, Erfahrungen der Vergangenheit für den Umgang mit Neuem zu nutzen. Wird er mit Unbekanntem konfrontiert, ist er intuitiv oder bewußt bestrebt, alle Erkenntnisse, die er im Verlaufe seines Lebens gewonnen hat, auf die fremde Situation zu transferieren und diese so zu bewältigen. Allerdings kann diese Fähigkeit nicht nur zu Orientierung verhelfen, sondern sie kann umgekehrt auch blockierend wirken, indem sie einen unbeein-flußten, neutralen Blick auf die Dinge verhindert.

Genau so mag es sich im Falle dessen verhalten, was hier vorläufig noch als elektronische Literatur oder Online-Literatur bezeichnet werden soll. Aus dem vom Umgang mit gedruckter Literatur geprägten Blickwinkel mag das, was seit geraumer Zeit im World Wide Web veröffentlicht wird, gelegentlich nicht die Wirkung ent-falten, die von den Publizierenden ursprünglich intendiert war. Die Erfahrungen mit Druckwerken haben im Laufe der Vergangenheit zur Formung einer besonderen Sichtweise und einer diesem Medium entsprechenden Herangehensweise beige-tragen, die nun auf die neuen Formen der Literatur angewandt werden. Diese neuen Formen wiederum rufen bei den Lesern – und dieser Begriff ist bewußt gewählt, um die genannten Vorprägungen und Rezeptionserfahrungen der Nutzer deutlicher hervorzuheben – bestimmte Vorstellungen und Wünsche hervor, wobei die Erwar-tungshaltungen vermutlich selten indifferent sind, sondern im allgemeinen zu einer von zwei gegensätzlichen Auffassungen tendieren: Entweder sollte das, was im WWW als Literatur angeboten wird, in möglichst hohem Maße den Kriterien von gedruckter Literatur entsprechen, oder aber der Leser erwartet genau das Gegenteil, nämlich daß sich das Online-Angebot grundlegend von der herkömmlichen Form der

165 Ebd.

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 54

Literatur unterscheidet. In ersterem Falle mißt der Leser alles Dargebotene an den der gedruckten Literatur zugrundeliegenden Maßstäben und empfindet starke Abwei-chungen als befremdlich und somit als negativ. Umgekehrt verspürt der Leser jede Ähnlichkeit mit gedruckter Literatur als störend und dem Charakter des Neuen ab-träglich.

Wenn das Denken in Kategorien auch in der Natur des Menschen zu liegen scheint, so muß sich doch mancher Leser den Vorwurf gefallen lassen, daß er Neuem gegenüber nicht genügend Toleranz walten läßt. Ob er nun Herkömmlichem oder aber Revolutionärem entgegensieht – in beiden Fällen liegen seine Erwartungen zu hoch. “Die Wirklichkeit der virtuellen Welten”166 liegt – zumindest zum augenblick-lichen Zeitpunkt – noch irgendwo dazwischen. Das, was derzeit auf künstlerisch-literarischem Gebiet im World Wide Web zur Verfügung steht, ‘erzählt’ durchaus Geschichten, wenn dies auch zum Teil mit nicht-sprachlichen Mitteln geschieht.

“Literatur hatte und hat stets nur dieses eine Ziel: Die Bevölkerung des inneren Theaters des Lesers.”167 Eben dies vermag Online-Literatur grundsätzlich zu bewir-ken. Im Großen und Ganzen kann man den Eindruck gewinnen, daß es sich die Autoren des Dargebotenen zum Ziel gesetzt haben, die herkömmliche Vorgehens-weise, die Phantasie des Lesers zu binden, mit den neuen Medien zu verknüpfen:

“Erzählen wie seit tausend Jahren, aber mit den modernsten Mitteln”168. Damit besteht eindeutig ein Bezug zu gedruckter Literatur, gleichzeitig aber existieren auch deutliche Abweichungen:

Und einiges an Differenz zum Bekannten müssen wir schon in Kauf nehmen: Es wäre leichtfertig, die Erwartungen an die ‘Erzählmaschine’ zu nah an das zu binden, was wir entweder von der herkömmlichen Erzählung zwischen Buch-deckeln oder der ‘Zählmaschine’ und ihren mehr oder weniger geglückten Ver-wendungen zur Produktion ästhetischer Effekte schon kennen.169

166 Deutscher Titel des Werkes Virtual Worlds. Benjamin Wooley, Die Wirklichkeit der virtuellen Welten, übers. von Gabriele Herbst, (Basel; Boston; Berlin, 1994 [Virtual Worlds (Oxford, 1992)]).

167 Peter Berlich, “Das Internet als innerer Ort – ‘Das digitale Kloster’”, in: Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 137–148, hier: 146.

168 Michael Charlier, “Von der Armenbibel zu Myst – Zurück zu einer Literatur ohne Worte?”, in:

Suter und Böhler, Hg., Hyperfiction, 125–136, hier: 130.

169 Ebd.

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 55

Auch wenn Charlier damit die Unterschiede zwischen Traditionellem und Neuem hervorhebt, scheint er mit nachfolgender Anregung eine Brücke schlagen zu wollen zwischen zwei Medienformen, denen die öffentliche Meinung extremere Unter-schiede zuschreibt, als tatsächlich bestehen:

Warum sollten, wenn das Geschriebene als nicht mehr ausreichend empfunden wird, nicht auch Bilder wieder verstärkt in die Kommunikationsebenen einbe-zogen werden, aus denen sie im Laufe der Jahrhunderte verdrängt wurden? Und wo sollten diese Bilder stattfinden, wenn nicht auf dem Bildschirm?170

Die Fragen scheinen berechtigt, zumal die Arbeit am Computer in hohem Maße schriftliche Tätigkeiten beinhaltet; vor allem die neue Form der elektronischen Korrespondenz scheint dem Schreiben wieder eine unverhoffte Popularität zu ver-schaffen. Dennoch wird vielfach bezweifelt, daß der Computer neben der Nutzung für vorwiegend praktische Tätigkeiten auch für den Genuß künstlerischer Präsen-tationen tauglich ist. Birkerts beispielsweise beschreibt seine Beweggründe folgen-dermaßen:

Meine zweite grundlegende Annahme bezieht sich auf die Literatur und lautet dahin, daß elektronische Schaltkreise und Monitore zwar die idealen Kanäle für bestimmte Daten sind – für Zahlen, Bilder, querverkettete Informationen jeglicher Art –, daß sie sich aber durchaus nicht vertragen mit dem subjektiveren Material, das seit eh und je der Stoff ist, aus dem die Kunst gemacht wird. Will sagen: Sie stehen der Innerlichkeit entgegen. Das hat mehrere Gründe, und der wichtigste davon liegt in dem Faktor Zeit.171

Die noch weiter ausgreifende, insgesamt sehr ausführliche Darstellung wirkt zwar möglicherweise konstruiert und spiegelt überdies eine recht enge, vorgefaßte Ansicht von Literatur wieder, verdient aber gleichwohl Aufmerksamkeit, weil Birkerts sich dem Thema ernsthaft und aufrichtig widmet. Seine Argumente lassen sich nichts-destoweniger entkräften: Birkerts Kritik an Literatur auf einem Computer-Monitor betrifft die Begleitumstände in Form unausgesetzter visueller oder akustischer Sig-nale, die seiner Meinung nach eine völlige, Zeit und Raum entrückte Hingabe an das Kunstwerk verhindern. Birkerts ist offensichtlich der Ansicht, schon aufgrund seiner Beschaffenheit gemahne das elektronische Medium den Nutzer an die Flüchtigkeit des Dargestellten.

170 Ebd.

171 Birkerts, Die Gutenberg-Elegien, 259.

III. Die Begriffsproblematik – Übersicht, Diskussion und Festlegung 56

Wenn dem wirklich so wäre, dürfte der Zustand des absoluten Eintauchens ausschließlich Kunstwerken vorbehalten sein, die unabhängig von weiteren techni-schen Hilfsmitteln genutzt werden können, wie beispielsweise Büchern oder Gemäl-den. Sobald ein Präsentationsmedium vonnöten wird, wie es bei dem Genuß von Musik durch das Abspielen eines Tonträgers oder beim Ansehen eines Films auf einem Bildschirm oder einer Leinwand der Fall ist, müßte es – wenn man die Gedanken Birkerts’ zu Ende verfolgt – nicht mehr möglich sein, einen Zustand völliger Entrückung zu erreichen. Daß es jedoch auch unter diesen Umständen und somit auch vor einem Computerbildschirm durchaus möglich ist, Zeit und Raum zu vergessen, sollte eigentlich jeder bestätigen können, der irgendwann einmal die Bereitschaft aufgebracht hat, sich auf das dort Präsentierte einzulassen. Genau dieses Entgegenkommen ist ein wichtiger Schlüssel zur Einsicht in die gedankliche Welt anderer. Der Grad der Hingabe an ein Kunstwerk ist in hohem Maße abhängig von der inneren Einstellung dazu.