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4. DIE SPIELE DER DEUTSCHEN JUGEND 1 Verlag, Herausgeber und Allgemeines zur Reihe

4.3 Formale Aspekte

4.3.7 Vorlagen und Quellen der Stücke

Bei den Spielen der deutschen Jugend handelt es sich nicht in allen Fällen um Neuschöpfungen. Etwa die Hälfte der Stücke, nämlich 19 Hefte, beruht auf einer klar zu identifizierenden bzw. in den Vorworten identifizierten Vorlage oder Quelle. Die übrigen 18 Stücke ohne klar identifizierbare Vorlage knüpfen teilweise an bekannte Motive an, wandeln diese jedoch ab oder variieren verschiedene Elemente neu – so wie zum Beispiel Der Prinz im blauen Mantel (Heft 28) Anklänge an das Grimm’sche Märchen Der Froschkönig oder Der eiserne Heinrich aufweist, jedoch auch deutliche Unterschiede. Der größte Teil der Stücke mit einer Vorlage beruht auf Märchenstoffen, dies ist bei zwölf von 37 Stücken der Fall. Auf Grimm‘sche Märchen181 gehen sechs Stücke (die Hefte 2, 9, 23, 26, 33 und 37) zurück, zwei (Heft 14 und 24) auf ein Märchen von Hans Christian Andersen und eins (Heft 25) auf ein Märchen aus der Märchensammlung von Ludwig Bechstein. Die Schätze der Hexe (Heft 20) beruht auf dem schwedischen Märchen Der Knabe und die Schätze der Hexe, das Stück Der Birkenzweig (Heft 21) auf einem nicht näher genannten ostpreußischen Märchen, das Heft mit der Nummer 30, Frau Rumpentrumpen, auf einem Märchen „aus dem Dithmarsischen“182 (also aus Schleswig-Holstein), wie es im entsprechenden Vorwort heißt. Es weist Ähnlichkeiten zum Märchen Rumpelstilzchen auf („Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpentrumpen heiß!“, die Königin muss Frau Rumpentrumpens Namen erraten). Drei Stücke gehen auf Sagen zurück: Gericht des Volkes (Heft 17) auf lokale Sagen, die sich um den Limberg in Westfalen183 ranken – das Stück könne aber an regionale und lokale Sagen angepasst werden, denn es gebe überall ähnliche Sagenstoffe, heißt es im Vorwort.184 Landgraf werde hart (Heft 22) basiert auf der Sage des Landgrafs Ludwig von Thüringen185, Des Teufels Spießgesellen (Heft 27) schließlich wurde

181 Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sind in unzähligen Editionen erschienen, häufig als für Kinder bearbeitete Auswahl. Eine Gesamtausgabe mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm bietet Rölleke, Heinz (Hrsg.): Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand mit den Originalanmerkungen der Brüder Grimm. Gesamtausgabe. Stuttgart: Reclam 2010.

182 Schultze, Hermann: Frau Rumpentrumpen (1943), S. 3.

183 Gemeint ist der Limberg im Wiehengebirge, südlich von Preußisch Oldendorf, auf dem im Laufe der Jahrhunderte nacheinander verschiedene Burganlagen existierten.

Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Limberg_%28Wiehengebirge%29 (11.2.2017). Vgl. zu den Sagen um den Limberg Graesse, Johann Georg Theodor: Sagenbuch des Preußischen Staates. Band 1. Glogau: Flemming 1867.

Vgl. auch Grässe, Johann G.: Sagenbuch des Preußischen Staates Band 1. Märchen der Welt. o. O.: Jazzybee Verlag 2012, S. 756–758.

184 Simon, Martin: Gericht des Volkes (1939), S. 3.

185 Vgl. zu den Sagenerzählungen um Landgraf Ludwig die Sammlung Deutscher Sagen der Brüder Grimm, zuletzt erschienen Grimm, Jacob u. Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Vollständige Ausgabe. Köln: Anaconda-Verlag 2014.

Zu den verschiedenen Versionen der Sage vom Landgraf z.B. nach Grimm und Bechstein siehe auch http://www.goethezeitportal.de/wissen/illustrationen/legenden-maerchen-und-sagenmotive/der-edelacker.html (11.2.2017).

von der Sage des Schmieds von Jüterborg inspiriert.186 Weitere drei Stücke basieren auf anderen literarischen Vorlagen, die schon an den Stücktiteln ersichtlich sind. Peter Squenz, (Heft 7) verarbeitet denselben Stoff, der aus Gryphius’ Absurda Comica oder Herr Peter Squenz und Shakespeares Sommernachtstraum bekannt ist. Hagen (Heft 18) und Brunhild (Heft 34) beruhen – wie die Namen der Titelhelden es schon vermuten lassen – auf der Nibelungensage.187 Der Kaiser und die Banditen (Heft 35) basiert dem Vorwort zufolge auf einer Anekdote, die über Kaiser Karl V.

erzählt werde.

Keine inhaltliche Vorlage, aber doch eine scheinbar typische Form, nämlich die des Lagerzirkus, liegt dem Spiel Zirkus Freimauritius (Heft 4) aus dem Jahr 1936 bzw. 1937 zugrunde. Im Jahr 1936 erschien ein von der Reichsjugendführung herausgegebenes Sonderheft der Zeitschrift Die Spielschar mit dem Titel Lagerzirkus. Hier werden verschiedene Formen des Spielens im Lager vorgestellt. Das Lagerspiel wird ausdrücklich von der Feier abgegrenzt: „Unter Lagerspiel soll nicht die Feier verstanden werden, sondern ihr gerades Gegenteil.“188 Es werden verschiedene Arten des spontanen oder mit wenig Vorbereitung durchzuführenden Spiels im (Jungen)Lager aufgezählt und erläutert,189 die auch zum Vorspiel (vor dem Rest des Lagers) geeignet seien, unter anderem die Nummernfolge.190 Hier geht es dann tatsächlich um das, was der Titel des ganzen Heftes erwarten lässt, um Darbietungen, die, wie im Zirkus oder Varieté, aus einer Abfolge von Nummern bestehen:

Im Zirkus oder V a r i e t é [Hervorhebung im Original, B.K.] gibt es einen Ablauf von Nummern. Eine Darbietung in der Feier findet Anklang, ergreift oder erhebt. Eine Nummer im Zirkus schlägt ein – oder schlägt nicht ein. Gebt Eurem Zirkus klare politische Richtung. Entwickelt aus dem Lagerzirkus einen politischen Zirkus mit Völkerbundskrokodil, russischem Bär, französischer Tänzerin Marianne und so weiter.

Wenn eine Nummer flau war, muß mit der nächsten Nummer gutgemacht werden, was mit der ersten versiebt wurde.191

Nicht nur die Forderung nach einer politischen Ausrichtung des Zirkus’ ist in Zirkus Freimauritius erfüllt, mehr noch: zwei der genannten Elemente des politischen Zirkus – der russische Bär und die französische Tänzerin Marianne – treten in Zirkus Freimauritius in Erscheinung. Auch der

186 Diese Sage wurde u. a. von Ludwig Bechstein in seiner Märchensammlung veröffentlicht. Siehe Bechstein, Ludwig:

Gesammelte Werke. Nachdr. der Ausg. Hildburghausen 1835 und 1836. Hildesheim: Olms-Weidmann 2003-.

187 Bei Hagen und Brunhild ließe sich darüber streiten, ob diese den Stücken zuzurechnen sind, die auf einem Sagenstoff basieren oder ob hier das Nibelungenlied als literarische Vorlage zu sehen ist.

188 Reichsjugendführung (Hrsg.): Lagerzirkus. Leipzig: Arwed Strauch o. J. [1936] (=Die Spielschar. Beiheft), S. 4.

189 Ebd., S. 6–11.

190 Ebd., S. 10–11.

191 Ebd., S. 10.

Völkerbund spielt in diesem Stück eine Rolle, allerdings wird er nicht durch ein Krokodil verkörpert, ein solches tritt gar nicht auf. Daher liegt es nahe, zumindest zu vermuten, dass der Verfasser dieses Spielschar-Beitrages, Erhard Banitz, das Stück kannte oder gar an dessen Entstehung beteiligt war. Je nachdem, was zuerst erschien, das Stück Zirkus Freimauritius oder das Spielschar-Beiheft, kann das Stück entweder als Musterbeispiel und Prototyp für einen gelungenen politischen Lagerzirkus gelten oder es handelt sich bei ihm um eine mustergültig gelungene Umsetzung der Vorgaben und Anregungen, die die Reichsjugendführung in Lagerzirkus gibt. Bei der Lektüre des Vorwortes zur ersten Ausgabe von Zirkus Freimauritius entsteht der Eindruck, die Ideen zum Stück und zu den Figuren seien spontan entwickelt und dann über einen längeren Zeitraum verbessert worden192. Ein Heft wie der Lagerzirkus bzw. die Verwendung eines solchen wird nirgendwo auch nur angedeutet. Dies lässt plausibel erscheinen, dass das Stück zuerst entstand und bei der Abfassung des Beiheftes Lagerzirkus zumindest einigen der Mitarbeiter bekannt war.

Zwei weitere Kapitel des Lagerzirkus widmen sich dem Puppenspiel im Lager bzw. als Bauernspielen bezeichneten Kraft- und Geschicklichkeitsspielen. Außerdem werden mehrere kurze szenische Texte abgedruckt, wie „Das Raritätenkabinett“193, oder „Essen… essen… essen…

Ein Oratorium für Lagerpimpfe“194, sowie einige Lieder samt Noten. Das Raritätenkabinett weist einige Merkmale auf, die ebenfalls in Zirkus Freimauritius auftauchen, beispielsweise verbale Angriffe auf den Völkerbund195 und den abessinischen, also äthiopischen, Kaiser196. Auch hier ist wiederum nicht zu entscheiden, ob das Stück oder das Spielschar-Beiheft zuerst entstanden ist.

Insgesamt will die Reichsjugendführung mit dem Lagerzirkus keine fertigen Stücke zur Verfügung stellen. Vielmehr hält das Vorwort dazu an, eigene Nummern zu entwickeln oder bereits etablierte Nummern zu aktualisieren, sie in Beziehung zu setzen „zum Lager, zum aktuellen Geschehen“197.

192 So heißt es zum Beispiel: „Und nun überstürzten sich die Einfälle. […] Im Stegreif entstanden erst während des Spiels die besten Szenen. Wir lernten viel daran.“ (o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 4–5.) und „Wir haben nach dieser ersten Stegreifaufführung viel an dem Zirkus herumgedoktert, ihn verschiedentlich noch im Gebiet Mittelland aufgeführt. Im Heidelberger Kulturlager arbeiteten Theo Rausch, Wolfram Brockmeier und für die Musik Karl Schäfer an der Ausgestaltung unseres Spiels.“ (ebd., S.5).

193 Reichsjugendführung (Hrsg.): Lagerzirkus (1936), S. 21–25.

194 Ebd., S. 31–35.

195 „Ach so! Ja, sehen Sie, meine Herrschaften, der Völkerbund ist beleidigt. Es liegt unter seiner Würde, auf unangenehme Fragen zu antworten“ (ebd., S. 22.). In Zirkus Freimauritius singt Michel beispielsweise ein Spottlied über den Völkerbund (o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 34–35.).

196 „Rakalei: Fabelhaft! Kannst du auch abessinisch – sag doch mal was auf abessinisch! / Ala: (und er faßt sich an den entsprechenden Teil seines Körpers): Ual – Ual – Ual / au au au Selassie – Selassie – Selassie!“ (Reichsjugendführung (Hrsg.): Lagerzirkus (1936), S. 23.). In Zirkus Freimauritius tritt „Alah Selassie, der Kaiser aller Schlangenbeschwörer“

auf. (o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), 35 und folgende.)

197 Reichsjugendführung (Hrsg.): Lagerzirkus (1936), S. 3.