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Forschungsstand zum Thema „Kinder- und Jugendtheater im ‚Dritten Reich‘“ Reich‘“

In der Forschung blieb der Gegenstand der Theaterstücke für Kinder und Jugendliche zur Zeit des Nationalsozialismus bisher, wie oben erwähnt, eher unbeachtet. Eine Monographie zum Thema erschien bisher nicht. In Werken zur Dramatik oder zur Theaterpolitik des ‚Dritten Reiches‘ spielt die dramatische Literatur für Kinder und Jugendliche keine Rolle.37 Dies passt zur geringen Beachtung, die das Kindertheater generell in der theater- und literaturwissenschaftlichen Forschung erfährt, ein Umstand, auf den z.B. Gombert hinweist.38 Die wissenschaftliche

37 Vgl. z.B. folgende Werke: Rühle, Günther (Hrsg.): Zeit und Theater. Diktatur und Exil. Band 3. 1933- 1945.

Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Propyläen 1974; Drewniak, Bogusław: Das Theater im (1983); Wardetzky, Jutta:

Theaterpolitik im faschistischen Deutschland: Studien und Dokumente. Berlin: Henschel-Verlag Kunst und Gesellschaft 1983 (=Veröffentlichungen der Akademie der Künste der Deutschen Demokratischen Republik);

Dussel, Konrad: Ein neues, ein heroisches Theater? Nationalsozialistische Theaterpolitik und ihre Auswirkungen in der Provinz. Zugl.: Dissertation. Heidelberg 1937. Bonn: Bouvier 1988; Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im

„Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe.

München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1995; Eicher, Thomas; Panse, Barbara u. Henning Rischbieter: Theater im „Dritten Reich“. Hrsg. von Henning Rischbieter. Teilw. zugl.: Dissertation 1992 u. d. T.: Eicher, Thomas:

Spielplan-Strukturen der deutschen Schauspieltheater 1929 - 44 und die NS-Zensurpraxis. - Teilw. zugl.: Habil.-Schrift 1993 u. d. T.: Panse, Barbara: Zeitgenössische Dramatik 1933 - 44, Autoren, Themen, Zensurpraxis. Seelze-Velber: Kallmeyer 2000.

38 Vgl. dazu Gombert, Ina: Kindertheater - Kinderkram (2007), S. 17–23. Sie schreibt z.B.: „Die Beschäftigung mit Kindertheater bleibt beschränkt auf einen sehr kleinen Forscherkreis […]. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindertheater findet keinen Eingang in den Lehrkanon der Theaterwissenschaften.“ (ebd., S. 18.). Gombert will Kinder- und Jugendtheater deutlich voneinander abgegrenzt wissen, da Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Entwicklung unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse hätten. Sie weist jedoch selber darauf hin,

Beschäftigung mit Kindertheater sei nicht institutionalisiert oder vernetzt und finde selten und eher zufällig statt, so Gombert. Dementsprechend finde das Thema auch nur selten Eingang in die universitäre Lehre.39 Vergleichsweise häufig werde noch zu theaterpädagogischen Aspekten geforscht. Die Theaterwissenschaft beschäftige sich vorwiegend mit der „Avantgarde des professionellen Kindertheaters“, also Gruppen, die künstlerisch und inhaltlich anspruchsvolles, an ihrem Publikum orientiertes Theater machen wollen und sich und ihre Wirkungsweisen immer wieder reflektieren. Kindertheater gehöre somit keinesfalls zum Kanon der wissenschaftlich relevanten Themen.40 Dieser geringe Stellenwert wirkt sich auch auf die Erforschung der Geschichte des Kindertheaters (und des Jugendtheaters) und somit auf die des Kinder- und Jugendtheaters im ‚Dritten Reich‘ aus.

Das oben bereits erwähnte Thingspiel ist recht gut erforscht. Es wird gelegentlich als Form des Jugendtheaters bezeichnet oder als solche vorgestellt.41 Dies ist jedoch eine beschränkte, nicht korrekte Sichtweise. Thingspiele sollten in eigens errichteten Freiluftspielstätten aufgeführt werden. Eines ihrer Grundelemente war es, möglichst große Menschenmassen auftreten zu lassen.

Da die Organisation der Jugend in den Formationen der Hitlerjugend einen geordneten, relativ einfach zu organisierenden Zugriff auf größere Gruppen von Menschen bot, hat es Thingspielaufführungen gegeben, an denen Angehörige der Hitlerjugend mitwirkten. Doch deshalb ist das Thingspiel nicht als Form des Jugendtheaters zu klassifizieren. Die Bewertung des Thingspiels als genuin nationalsozialistische Form und Ausprägung des Massentheaters ist ebenfalls nicht korrekt bzw. zu vereinfachend. Hier wird übersehen, dass das Thingspiel auf bereits vorhandenen Theaterformen aufbaute, beispielsweise auf der Freilichttheaterbewegung der 1920er Jahre und dem linken Arbeiterweihespiel.42 Als spezifisch nationalsozialistisch sind allerdings die Pläne für die massenhafte Errichtung von Thingspielstätten im ganzen Deutschen Reich zu sehen.

In Werken über die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) der Zeit von 1933-1945 liegt der Fokus in der Regel auf erzählenden Werken oder es geht um bestimmte Lenkungs- und Kontrollinstanzen,

dass beide Theaterarten oft in einem Atemzug genannt werden, auch in (wissenschaftlichen) Publikationen. (Vgl.

ebd., S. 39–40.).

39 Vgl. ebd., S. 294–295.

40 Ebd., S. 303. Auf literaturwissenschaftliche Forschung geht Gombert nicht ein.

41 Dies ist z.B. bei Klaus Doderer der Fall, der das Thingspiel in Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters als Form des Jugendtheaters im ‚Dritten Reich‘ vorstellt. (Doderer, Klaus: Geschichte des Kinder- und (1995), S. 38–39.).

42 Vgl. hierzu: Eichberg, Henning: Thing-, Fest- und Weihespiele in Nationalsozialismus, Arbeiterkultur und Olympismus. Zur Geschichte des politischen Verhaltens in der Epoche des Faschismus. In: Massenspiele. NS-Thingspiel, Arbeiterweihspiel und olympisches Zeremoniell. Hrsg. von Henning Eichberg, Michael Dultz u. a.

Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1977. S. 19–180; Stommer, Rainer: Die inszenierte Volksgemeinschaft (1985); Reichl, Johannes M.: Das Thingspiel (1988). Vgl. auch Schmitz-Berning, Cornelia:

Vokabular des Nationalsozialismus (2007), S. 609–611.

die Einfluss auf die KJL nehmen wollten. Beides trifft auf Petra Jostings Dissertation Der Jugendschrifttums-Kampf des Nationalsozialistischen Lehrerbundes43 zu. Sie beschäftigt sich darin mit dem Nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) (der Lehrer- und Erzieherorganisation im ‚Dritten Reich‘) und dessen theoretischen Äußerungen und Aktivitäten im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur.

Erzählende Texte stehen dabei im Vordergrund, der NSLB scheint sich mit dramatischen Texten nicht beschäftigt zu haben. Auch in späteren Aufsätzen Jostings, in denen sie sich mit Kinder- und Jugendliteratur und den entsprechenden literaturpolitischen Entwicklungen im ‚Dritten Reich‘

beschäftigt, geht es um das Jugendbuch.44 In Peter Aleys Jugendliteratur im Dritten Reich: Dokumente und Kommentare von 1967 fehlt die Beschäftigung mit dramatischer Kinder- und Jugendliteratur nahezu völlig. Nur auf etwa drei Seiten geht es im Teilkapitel 2.5.4. Feier- und Spielgut des Kapitels 2.5 Politisches Jugendschrifttum im Dritten Reich um Literatur, die zur Gestaltung von Feiern oder für Spiele verwendet wurde. Aley nennt an erster Stelle die Textsorte der Fahnensprüche und äußert sich dann zum Bereich Laienspiel:

Laienspiele – deklariert als Weihespiele – sorgten für die Ausgestaltung der „Heldischen Feiern“ oder der „Deutschen Weihestunden“. „Deutsche“ Kernsprüche und Sprechchöre schmückten Feste und Feiern der „völkischen“ Schule genau so aus, wie sie einer Thingstätte bei der feierlichen Übergabe eine pseudo-sakrale Würde verliehen.45

Im Folgenden gibt Aley noch den Vorschlag eines Pädagogen zur Gestaltung einer Feierstunde wieder, wobei er zwei sehr kurze Sprechchöre im Wortlaut wiedergibt. Aley beendet das kurze Kapitel mit einem Ausschnitt aus einem Sprechchor von Hans Baumann, anhand dessen er zeigen möchte, wie die Regieanweisungen belegen, „in welchem Sinne man dem Vortrag der Jugendlichen dramatische Akzente verliehen wissen wollte.“46 Die angeführten Beispiele wirken beliebig ausgewählt, Aley begründet nicht, warum er gerade diese wählt. Zudem bleibt der gesamte Bereich des Laienspiels außerhalb von Weihespiel und Sprechchor komplett unberücksichtigt. In

43 Josting, Petra: Der Jugendschrifttums-Kampf des Nationalsozialistischen Lehrerbundes. Zugl.: Dissertation.

Bielefeld 1994. Hildesheim, Zürich, New York: Olms-Weidmann 1995 (=Germanistische Texte und Studien 50).

44 Vgl. folgende Aufsätze: Josting, Petra: Kinder- und Jugendliteratur. Ein Aktionsfeld literaturpolitischer Maßnahmen im NS-Staat. In: Hier, hier ist Deutschland--: von nationalen Kulturkonzepten zur nationalsozialistischen Kulturpolitik. Hrsg. von Ursula Härtl, Burkhard Stenzel u. Justus H. Ulbricht. o. O. [Göttingen]: Wallstein 1997. S.

143–171 u. S.192-197; Josting, Petra: Kinder- und Jugendliteratur im Kontext von Pädagogik, Ästhetik und NS-Ideologie. In: Kinder- und Jugendliteratur 1933 - 1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Hrsg. von Norbert Hopster, Petra Josting u. Joachim Neuhaus. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005. Sp.95–120; Josting, Petra:

Kinder- und Jugendliteraturpolitik im NS-Staat. In: Kinder- und Jugendliteratur 1933 - 1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Hrsg. von Norbert Hopster, Petra Josting u. Joachim Neuhaus. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005. Sp.55–94.

45 Aley, Peter: Jugendliteratur im Dritten Reich: Dokumente und Kommentare. Hamburg, Gütersloh: Verlag für Buchmarkt-Forschung; Bertelsmann 1967 (=Schriften zur Buchmarkt-Forschung 12), S. 155.

46 Ebd., S. 156. Die Regiebemerkungen beschränken sich allerdings auf die Sprecherbezeichnungen: „Alle: […] Dunkle Stimmen: […] Helle Stimmen: […] Ein Schrei: […] Alle: […]“ (ebd., S. 156–157.).

Hansgeorg Meyers Die deutsche Kinder- und Jugendliteratur 1933 bis 1945 aus dem Jahr 1975 geht es um die großen Entwicklungslinien der KJL im ‚Dritten Reich‘, Theaterstücke spielen keine Rolle.47 Ulrich Nassen zieht in Jugend, Buch und Konjunktur 1933-1945, das sich mit dem „Ideologiepotential des genuin nationalsozialistischen und des konjunkturellen ‚Jugendschrifttums‘“48 beschäftigt, ebenfalls erzählende Texte als Beispiele und Belege für seine Aussagen heran. Julia Benner beschäftigt sich in ihrer 2015 erschienenen Dissertation Federkrieg. Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus 1933-1945 mit engagierten Kinder- und Jugendbüchern, die sich gegen den Nationalsozialismus wandten. Sie analysiert einige exemplarische Werke und erwähnt viele weitere, mit Stücken für das Kinder- und Jugendtheater beschäftigt sie sich jedoch nicht.49 Neben den genannten Publikationen, die sich zwar mit Kinder- und Jugendliteratur aus der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigen, Theaterstücke, Laienspieltexte usw. jedoch nicht oder kaum behandeln, gibt es einige Werke, in denen dieser Bereich in etwas stärkerem Maße berücksichtigt wird.

So beschäftigt sich Christa Kamenetsky in Children’s Literature in Hitler’s Germany aus dem Jahr 1984 mit verschiedenen Genres der KJL, Kulturpolitik sowie Zensurmöglichkeiten und -maßnahmen.

Im Zuge der Arbeit an den beiden letztgenannten Themenkomplexen spielen Texte für das Theater(spiel) (bzw. die auf diese zugeschnittenen Maßnahmen, Vorschriften etc.) keine Rolle. Mit diesen beschäftigt sich nur das kurze Kapitel Puppets, Plays, and Politics,50 in dem es, wie der Titel schon sagt, auch um das Puppen- bzw. Kasperlespiel geht. Zum Bereich Theaterspiel führt Kamenetsky hauptsächlich aus, welche Arten von Stücken die Hitlerjugend und der NSLB bevorzugt und empfohlen hätten. In beiden Fällen seien darunter politisch und ideologisch geprägte Stücke gewesen, die grundsätzlich zum Ziel gehabt hätten, in Kindern den Glauben an das ‚Dritte Reich‘ zu stärken. Es sei darin um eher abstrakte Themen gegangen: „[…] Germany’s struggle toward nationhood, the preservation of Germandom abroad, the destiny of the German peasantry, or the heroes of German history and of the National Socialist movement.“51 Der NSLB

47 Es wird allerdings aus einem Sprechchorspiel Hans Baumanns zitiert, als Illustration der Jugend- und Kindgemäßheit der Sprache von dessen Werken, zu denen hauptsächlich Lieder, aber eben auch Sprechchöre gehörten. Vgl. Meyer, Hansgeorg: Die deutsche Kinder- und Jugendliteratur 1933 bis 1945. Ein Versuch über die Entwicklungslinien.

Ohne Ort: Ohne Verlag 1975 (=Studien zur Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur 7), S. 100.

48 Nassen, Ulrich: Jugend, Buch und (1987).

49 Vgl. Benner, Julia: Federkrieg. Kinder- und Jugendliteratur gegen den Nationalsozialismus 1933 - 1945. Zugl.:

Dissertation. Göttingen 2014. Göttingen: Wallstein 2015 (=Göttinger Studien zur Generationsforschung 18), S.

177–317.

50 Viereinhalb Seiten enthalten Bilder, nahezu zwei Seiten sind mit den Endnoten gefüllt. Effektiv beschäftigt Kamenetsky sich daher nur auf sechseinhalb Seiten mit dem Thema.

51 Kamenetsky, Christa: Children’s Literature in Hitler’s Germany. The Cultural Policy of National Socialism. Athens, Ohio, London 1984, S. 205.

habe nicht nur neue Stücke, sondern auch viele, die schon vor 1933 geschrieben worden waren, empfohlen, z.B. Märchenbearbeitungen (Grimm’sche Märchen) oder Adaptionen von deutschen und nordisch-germanischen Sagen. Drei Viertel der in den Jahren 1933 und 1934 in der Jugendschriften-Warte52 empfohlenen Stücke seien Märchenbearbeitungen und eine Auswahl älterer Literatur gewesen. Auch sei der Wunsch nach einem künstlerischen Wert der Stücke formuliert worden. Bei der HJ hätten dagegen Ideologie und Rassismus im Vordergrund gestanden, sie sei fanatischer gewesen und habe sich stärker für neue Stücke ausgesprochen. Des Weiteren habe sie einen radikaleren Bruch mit der Vergangenheit beabsichtigt als der NSLB es tat, die Verantwortlichen seien weniger kritisch gewesen, was den künstlerischen Gehalt der Stücke anging.53 Außerdem urteilt Kamenetsky über die HJ: „In addition, they were not only tolerant of themes underlining a racial bias, but they even promoted them as an integral part of their ideological indoctrination program.“54 Zwar verweist sie zum Teil auf einzelne Ausgaben der Jugendschriften-Warte, untermauert ihre Behauptungen aber leider nicht durch Zitate oder durch Textbeispiele, durch die Nennung konkreter Stücktitel o.ä. Die wenigen wörtlichen Zitate aus der herangezogenen Literatur (kulturpolitische Schriften), die sie in ihren Text aufnimmt, werden nicht im deutschen Original mit anschließender Übersetzung, sondern nur in englischer Sprache aufgeführt. Insgesamt bleiben Kamenetskys Aussagen zu vage, sie scheint nur mit Materialien über Kinder- und Jugendstücke, nicht aber mit den dramatischen Texten selber gearbeitet zu haben.

Ihre Arbeit ist daher für die vorliegende Untersuchung nicht zu verwenden.

Ebenfalls mit nationalsozialistischer Kinder- und Jugendliteratur beschäftigt sich Gudrun Wilcke – besser bekannt unter ihrem Geburts- und Künstlernamen Pausewang – in ihrem Werk Die Kinder- und Jugendliteratur des Nationalsozialismus als Instrument ideologischer Beeinflussung.55 Sie schreibt dabei auch aus eigener Erfahrung, denn die 1928 geborene Wilcke war im ‚Dritten Reich‘ Mitglied des BDM.56 Sie stellt verschiedene Sparten der NS-Jugendliteratur vor: Bühnenwerke, Zeitschriften, Schulbücher, Erzählungen, Romane und Liedtexte. Bühnenwerke behandelt sie zwar als erstes, misst ihnen jedoch keine große Bedeutung für ihren Untersuchungsbereich, die Indoktrination von Kindern und Jugendlichen, bei:

52 Hierbei handelt es sich um eine Zeitschrift, in der Werke der Kinder- und Jugendliteratur besprochen wurden. Mehr dazu findet sich in Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit.

53 Vgl. Kamenetsky, ebd., S. 205–206.

54 Ebd., S. 206.

55 Wilcke, Gudrun: Die Kinder- und Jugendliteratur (2005).

56 Siehe ebd., S. 20.

Der indoktrinierende Einfluss des NS-Systems auf die junge Generation über Bühnenwerke war […] ziemlich gering, zumal die meisten Kinder und Jugendlichen der NS-Zeit nur selten Gelegenheit hatten, die Aufführungen eines Schauspiels zu erleben oder selber an der Aufführung eines Laienspiels aktiv teilzunehmen.57

Zu diesem Schluss kommt sie am Ende des Kapitels, das sie mit einer pauschalen Behauptung beginnt: „Welche Art von Bühnenwerken in der NS-Zeit auch entstanden: Sie waren pathetisch, heroisch, feierlich. (Es sei denn, es handelte sich um Bauernschwänke oder Kasperlestücke.)“58 Diese Behauptung beweist sie weder durch Textanalysen noch lässt sie sie durch die Nennung verschiedener Stücktitel plausibel erscheinen. Wilcke behandelt im Verlauf des Kapitels verschiedene Spielarten dramatischer NS-Literatur, so spricht sie kurz über das Thingspiel und das Weihespiel bzw. den Sprechchor. Ganz richtig erklärt sie: „Die Gattung des Thingspieles gehört nicht zur Jugendliteratur.“59 Als Beispiele für einen Sprechchor zitiert sie aus einem Werk Hans Baumanns und aus einem Text aus der Zeit nach 1936. In diesem Jahr sei der Sprechchor als Gattung zwar verboten worden, da die „expressionistisch ausgerichteten Sprechchöre […] noch immer an die früheren politisch-kulturellen, oft mit einem revolutionären Touch behafteten Arbeiter-Feiern“60 erinnert hätten.61 Doch danach hätte es immer noch einfachere Sprechchöre für Schulfeiern gegeben. Kurz erwähnt Wilcke, dass der normale Theaterbetrieb, wie man ihn aus der Weimarer Republik kannte, weitgehend ungestört weitergelaufen sei. Als Beleg hierfür bringt sie eine eigene Erinnerung an zwei Theaterbesuche im Winter 1937/38 in Anschlag, bei denen sie eine Rumpelstilzchen-Bearbeitung sowie ein Stück namens Pitt kapert den Piraten gesehen habe. Etwas ausführlicher beschäftigt Wilcke sich dann mit genuin nationalsozialistischer dramatischer Literatur. Als Beispiel führt sie Hanns Johsts Schlageter an, dessen Ende sie zitiert. Auch hier rekurriert sie wieder auf eigene Leseerfahrungen aus ihrer Jugend (eine Inszenierung des Stücks hat sie nicht gesehen).62 Auf einigen Seiten geht es dann noch um das Wilcke zufolge besonders von jungen Leuten gepflegte Laienspielwesen. Über dieses schreibt sie:

57 Ebd., S. 64–65. Interessant ist, dass Wilcke selbst Mitglied im Chor einer HJ-Spielschar war.

58 Ebd., S. 53.

59 Ebd., S. 54.

60 Ebd., S. 56.

61 Dieses Sprechchorverbot gab es tatsächlich. Vgl. z.B. Hopster, Norbert: Fest und Feier. In: Kinder- und Jugendliteratur 1933 - 1945. Ein Handbuch. Band 2: Darstellender Teil. Hrsg. von Norbert Hopster, Petra Josting u. Joachim Neuhaus. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler 2005. Sp.639–700. Hier: Sp. 650.

62 Vgl. Wilcke, Gudrun: Die Kinder- und Jugendliteratur (2005), S. 57–60.

Es bemühte sich, von staatlich-politischen Kontroll-instanzen [sic] ziemlich ungestört, um die Gunst vor allem der Landbevölkerung und die der jungen Generation. In vielen Schulen, auch schon in Grundschulen, führte man Laienspiele auf, gerne Märchen oder heitere Szenen, die von den sieben Schwaben, den Schildbürgern oder Till Eulenspiegel handelten. Derlei Thematik gab für die NS-Indoktrinations-Absichten nicht viel her.

Noch weniger ergiebig für diese Zwecke waren die zahllosen Krippenspiel-Aufführungen von Kindern in Kindergärten, Schulen und Kirchengemeinden.63

Auch hier gibt es wiederum keine Belege ihrer Darstellung, weder durch Sekundär- noch Primärliteratur. Die getroffenen Aussagen sind also nicht nachvollzieh- und überprüfbar. Konkret wird Wilcke erst wieder in der Erinnerung an eine Aufführung des Stücks Blut und Liebe von Martin Luserke. Diese „witzige, spritzige Stück“ (so Wilckes Bewertung) habe einen großen Unterhaltungswert gehabt. Sie meint, dass es sicher heute noch oft gespielt werden würde, wenn es nicht so deutlich ausgeprägte antisemitische Züge hätte. In der Bewertung des Stückes als unterhaltend ist Wilcke durchaus zuzustimmen,64 allerdings scheint sie versäumt zu haben, sich über seine weitere Publikationsgeschichte zu informieren. Die Aufführungsrechte liegen heute beim Deutschen Theaterverlag in Weinheim, der es noch immer unter dem gleichen Titel vertreibt.

Die deutlich negativ gezeichnete jüdische Figur aus der Originalfassung wurde inzwischen allerdings in einen „Quacksalber“ verwandelt. In diesem Zusammenhang wurden kleinere Textänderungen zur Wahrung von Versmaß und Reimschema vorgenommen, ansonsten entspricht die neue Version derjenigen, die im ‚Dritten Reich‘ und davor in mehreren Auflagen veröffentlicht worden war.65 Es dürfte deutlich geworden sein, dass Wilckes durchaus interessante Aussagen und Einzelbeobachtungen zu Bühnenwerken nicht hinreichend belegt sind. Sie können daher nicht als Grundlage für stichhaltige Aussagen über den Bereich des Theaters für Kinder und Jugendliche oder den des Laienspiels im ‚Dritten Reich‘ dienen.

Auch in Arbeiten zur Geschichte des Kindertheaters bzw. des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland wird der Zeit zwischen den Jahren 1933 und 1945 nur wenig Beachtung und Raum geschenkt. Der Beitrag Theater für Kinder und Jugendliche von Ingeborg Hass und Heinz Blumensath im Handbuch Kinder- und Jugendliteratur springt vom nur kurz angesprochenen Laienspiel der 1920er Jahre direkt zum Spiel in der Zeit nach 1945. Der dazwischenliegende Zeitraum scheint gar nicht

63 Ebd., S. 60.

64 Das Stück wurde im Rahmen dieser Arbeit untersucht. Die Ergebnisse sind im Kapitel 6 über die Münchener Laienspiele zu finden, insbesondere in den Teilkapiteln zur Figurenrede und zum thematischen Schwerpunkt Antisemitismus.

65 Das Stück ist nicht im Buchhandel erhältlich, kann jedoch gegen eine geringe Gebühr direkt beim Verlag als Ansichtsexemplar erworben werden.

existiert zu haben.66 Wolfgang Schneider widmet dem Kinder- und Jugendtheater im ‚Dritten Reich‘ in Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und Praxis immerhin eine Seite. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten habe sich die Lage des Kinder- und Jugendtheaters verändert. Proletarisches Jugendtheater sei verboten, in die Illegalität gedrängt und aufgelöst worden, denn es habe den Einheitsbestrebungen der Nationalsozialisten im kulturellen Bereich entgegengestanden. Schneider stellt fest, dass Klassikeraufführungen als Lektürebegleitung für den Schulunterricht gefragt gewesen seien, ebenso Märchendramatisierungen. Bühnenspiele für ein junges Publikum hätten ansonsten den Massenveranstaltungen für Erwachsene entsprochen. Auch Schneider belegt seine knapp gehaltenen Aussagen nicht so, dass sie nachprüfbar wären. Konkrete Stücke nennt er ebenfalls nicht. Auch der Bereich des konfessionellen Laienspiels oder des Spiels innerhalb der HJ wird von ihm nicht thematisiert.67 Etwas ausführlicher beschäftigt sich Klaus Doderer in seiner Monographie Geschichte des Kinder- und Jugendtheaters zwischen 1945 und 1970:

Konzepte, Entwicklungen, Materialien mit der Vorgeschichte seines Untersuchungsgegenstands in der Zeit zwischen 1933 und 1945.68 Er weist auf die allgemeinen Umstrukturierungen im Kulturbereich hin und erwähnt die Reichstheatertage der Hitlerjugend in Bochum 1937, die er als einen Schritt auf der Suche nach jungen nationalsozialistischen Dramatikern bewertet. Relativ ausführlich beschäftigt sich Doderer mit dem Thingspiel, das er als das einzige nationalsozialistische Konzept für ein neues Theater bezeichnet. Er weist auch auf dessen Bedeutungsverlust ab etwa 1936 hin. Das Spiel Deutsche Passion 1933 von Richard Euringer führt er als Beispiel für ein Thingspiel an, das Laienspieler aus der HJ oft vor Pimpfen und Jungmädeln gespielt hätten. Die Zeit von 1933-1945 charakterisiert er schließlich zusammenfassend, wie eingangs der Arbeit bereits erwähnt, als „eine Zeit der theatralischen Vernachlässigung der Jugend.“69 Die von Doderer angeführten Reichstheatertage der Hitlerjugend erwähnt bereits Wolfersdorf in Stilformen des Laienspiels. Eine historisch-kritische Dramaturgie von 1962, ohne allerdings näher auf sie einzugehen.70 Wolfersdorf behandelt auf nur etwa drei Seiten die Situation des Laienspiels im Nationalsozialismus. Er sieht hauptsächlich ein Fortführen von bereits vorher Vorhandenem: „Die Spielscharen waren Epigonen in Spielweise, Texten und Spieltheorie. Sie

66 Vgl. Hass, Ingeborg u. Heinz Blumensath: Theater für Kinder und Jugendliche. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein

66 Vgl. Hass, Ingeborg u. Heinz Blumensath: Theater für Kinder und Jugendliche. In: Kinder- und Jugendliteratur. Ein