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4. DIE SPIELE DER DEUTSCHEN JUGEND 1 Verlag, Herausgeber und Allgemeines zur Reihe

4.4 Thematische Schwerpunkte .1 Bauerntum .1 Bauerntum

4.4.6 Politik und gesellschaftliche Realität

Politische Ereignisse und Entwicklungen sowie konkrete historische Sachverhalte werden in verschiedenen Stücken der Spiele der deutschen Jugend aufgegriffen, thematisiert und kommentiert. So ist Das große Zeittheater. Die tragische Geschichte vom gutmütigen Hansel (Heft 1) als Kritik an der Behandlung Deutschlands durch die anderen europäischen Staaten bzw. die Siegermächte des (Ersten) Weltkriegs zu lesen und als Stück über die Notwendigkeit, sich dagegen aufzulehnen. Die Wiederbewaffnung, neues Selbstbewusstsein und neue Stärke sind Ziele, die Hansel, der für Deutschland steht, erreicht, und die ihm dabei helfen, für sein Recht einzustehen und einer besseren Zukunft entgegenzusehen. Diese Identifizierung Hansels mit Deutschland wird dem Zuschauer bzw. Leser durch die Worte des Vorspruchs – die von einem weiteren Darsteller gesprochen werden – nahegelegt: „Schaut her, was wir hier aufgestellt, / das ist im Gleichnis unsere Welt.“415 Auf der Bühne befinden sich vier Jungen, jeder in seinem Bereich der Bühne. Zwischen Max, Moritz und Karl gibt es Streit, sie stehen sich angriffslustig gegenüber und Hansel ermahnt sie, Frieden zu halten.416 Diese friedliebende Seite an Hansel wird von den anderen jedoch nicht ernst genommen:

Der Hansel: […] Gebt Frieden und laßt eure Herzen sprechen, weil wir doch Menschen und Brüder sind!

Hört!

Eine neue, glückliche Zeit beginnt!

Der Karl: Der Hansel träumt oder er spinnt!417

Hansel besitzt keine Waffen, seine sind „Zerschlagen! Verschrottet! […] Zerbrochen!

Zertreten!“418. Diese Waffenlosigkeit geht mit Machtlosigkeit einher. Die anderen besitzen dagegen Waffen, Max hat Pfeil und Bogen, Moritz schleift verschiedene Waffen wie Dolche und Beile an einem Schleifstein und Karl trägt eine Pistole am Gürtel.419 Mit diesen Waffen wird Hansel von den anderen auch bedroht.420 Es ist für sie auch kein Problem, Hansel auszunutzen und zu berauben. So stehlen Moritz und Max ihm z.B. Essen: „(Sie schleichen hin und nehmen dem Hansel Brot, Wurst und Wein. Damit setzen sie sich an Maxens Tisch und rufen Karl hinüber, der auch erscheint und

415 Colberg, Erich: Das große Zeittheater (1936), S. 6.

416 Ebd., S. 7–10.

417 Ebd., S. 9–10.

418 Ebd., S. 11.

419 Vgl. ebd., S. 3-4 und 6-7.

420 Zum Beispiel ebd., S. 17–19.

mithält.)“421 Dass sie ihn für sich arbeiten lassen, wird in einem Spottlied artikuliert, das Max, Moritz und Karl gemeinsam singen. Darin heißt es unter anderem „Hei der Hansel in der Mitten, / […]

/ ja, den braucht man nicht zu bitten, / […]. / Der Hansel pflügt auf seinem Feld / für uns und für die ganze Welt.“422 Hansel selbst hat keinen großen Nutzen von seinem Fleiß, er muss die anderen sogar um Brot anbetteln:

Ihr Nachbarn, vergessen wir den Streit!

Ich bitte euch herzlich, daß ihr mir leiht um Lebens und um Sterbens willen

ein Stücklein Brot, meinen Hunger zu stillen.423

In seiner Not wird Hansel auch klar, dass es ein Fehler war, ohne Waffen zu leben: „Mir dämmerts, daß ich ein Esel war! / Jetzt ist das Leben in Gefahr!“424 Nachdem ihm auch Jacke, Uhr und Halstuch als Bezahlung für das Brot abgenommen wurden, wollen Moritz, Max und Karl auch Hansels Bereich der Bühne unter sich aufteilen:

Der Moritz:

Ich schlage vor – aus lauter Langeweile, wir teilen Hansels Hof in drei Teile!

(Wildes Gelächter.) Der Max:

Erst knobeln wir mal, wer den größten Teil kriegt!

(Wieder Gelächter.)425

Dem vor Hunger immer schwächer werdenden Hansel stiehlt Max Teller, Löffel und Becher, so dass jener nun nahezu nichts mehr besitzt. Noch einmal bitter er seine drei Nachbarn um Hilfe, als letztes kann er ihnen als Gegenleistung nur noch Pläne und Konstruktionszeichnungen für Erfindungen geben. An dieser Stelle machen die drei deutlich, dass er sie von nun an auf seinem Hof zu dulden habe („Es gehört sich, daß du uns duldest!“426), angeblich, damit sie ihn und seinen Hof beschützen könnten. Schlussendlich hat Hansel dann aber genug von den dreien, er will nicht mit ihnen zusammenleben. Hansel wehrt sich, er vertreibt die anderen aus seinem Bereich. Dies gelingt, da er noch einen Stock und ein Messer besitzt:

421 Ebd., S. 14.

422 Ebd., S. 17.

423 Ebd., S. 21.

424 Ebd.

425 Ebd., S. 24.

426 Ebd., S. 27.

Seht her! Den Knüppel habt ihr vergessen, und hier dies Messer, ich gebraucht es zum Essen!

Jetzt soll es der Retter der Ehre sein!427

Wichtig scheint hier auch der Begriff der Ehre. Hansel stand kurz davor, seine vollends zu verlieren, dies gilt es zu verhindern: „Der Hansel: / Ich will rein werden von Schmach und Schande!

/ Hinaus sag ich! Hinaus, oder es kracht!“428 Das Auflehnen gegen die Ausbeutung und Unterdrückung dient also sowohl zur Erhaltung der materiellen Existenz wie auch zur Rettung von Hansels Ehre. Karl, Max und Moritz lassen sich von Hansels Drohungen beeindrucken, sie bekommen Angst und packen ihre Sachen zusammen. Zudem sind sie überrascht, dass Hansel überhaupt gemerkt hat, was sie mit ihm machen:

Der Karl:

Dann ist es aus mit unseren Träumen!

Denn der ist tatsächlich aufgewacht!

Wer hätte das von dem Hansel gedacht!429

Hansel hält einen Schlussmonolog. Hier gibt er einen Ausblick auf die Zukunft, in der durch harte Arbeit seine materielle Versorgung sichergestellt sein wird („Aus Schweiß und Not und bitterem Mühen / soll mir mein neues Brot erblühen.“430). Aber Waffen sollen von nun an immer präsent sein:

Der Hansel:

[…]

Neben dem Brot soll immer das Messer liegen!

Ein Schwert soll stehn neben jeder Wiegen, ein Mann in Waffen vor jedem Haus!

Bereitschaft! – So sieht meine Zukunft aus!431

Es ist also eine wehrhafte Zukunft, die bevorsteht, und in der Hansel immer aufmerksam und in Bereitschaft sein will. Von dem Willen, waffen- und gewaltlos Frieden zu stiften und so eine bessere Zukunft zu bauen, ist nichts übriggeblieben. Dies wird aber nicht negativ gesehen, diese

427 Ebd., S. 29.

428 Ebd.

429 Ebd., S. 30.

430 Ebd., S. 31.

431 Ebd.

Entwicklung ist in der Logik des Stückes folgerichtig und die einzige Möglichkeit, wie Hansel in Zukunft existieren kann. Dies sagt er selbst ganz deutlich mit seinen letzten Worten im Stück:

Nur mit dem Schwert lässt sichs friedlich leben!

Ich will es Kindern und Enkeln geben und will sie alle den Waffen weihen!

Denn nur so kann ihr Werk gedeihen!432

Hier wird außerdem deutlich, dass Hansel schon an die Generationen denkt, die nach ihm kommen. Er plant für eine weitere Zukunft und auch in dieser spielen Waffen und Wehrhaftigkeit eine entscheidende Rolle. Mit der Wahl des Verbs „weihen“ wird den Waffen (diesen sollen Kinder und Enkel geweiht werden) eine sakrale Bedeutung zugeschrieben. Zwischen den Menschen und den Waffen soll ein Bund eingegangen werden, der unauflöslich ist. Löst man sich von der konkreten Ebene des Spiels und liest es als Gleichnis, so ist das Stück im Grunde eine Rechtfertigung dafür, dass Deutschland sich wiederbewaffnen muss(te). Diesem Stück zufolge hätten die Siegermächte bzw. die Nachbarstaaten Deutschland ausgebeutet und bedroht.

Deutschland hätte lange genug versucht, die Bedingungen zu erfüllen, Frieden zu stiften und seinen guten Willen zu zeigen – aber das Verhalten der anderen hätte es dann doch nötig gemacht, wieder Waffen zu haben, um sich wehren zu können. Insgesamt sind in diesem Stück – obgleich zu Friedenszeiten geschrieben – typische Merkmale von Kriegspropaganda nach Morelli zu finden.

Zu diesen gehören u.a. die boshaften, dämonischen Züge des Feindes, der die Alleinschuld am Krieg trägt und absichtlich grausam ist sowie die eigene Uneigennützigkeit im Kampf für eine gute Sache oder eine heilige Mission.433

Das im Teilkapitel über Antisemitismus bereits besprochene Stück Zirkus Freimauritius heißt nicht nur im Untertitel Ein politisches Spiel, es ist auch ein solches. Neben dem jüdischen Zirkusdirektor Rothschild sind auch die übrigen Figuren Typen, die neben ihrer Aufgabe innerhalb der Zirkushandlung noch eine parodistische Funktion besitzen. Nicht nur fremde (also nichtdeutsche) Feindbilder gibt es in diesem Stück, auch innerhalb der deutschen Bevölkerung werden unpassende Personen(gruppen) ausgemacht und persifliert. Die satirische Haltung des Stückes zeigt sich bereits an den treffend vergebenen Namen, so trägt der Zirkusdirektor beispielsweise den sehr jüdischen Namen Amschell Rothschild, die französische Tänzerin heißt Marianne, der (gute) Deutsche einfach Michel und der deutsche Meisterschütze und Spießbürger hört auf den ungewöhnlichen Namen Eusebius Lämmle. Lämmle weckt die Assoziation Lamm und hat dann

432 Ebd.

433 Vgl. Morelli, Anne: Die Prinzipien der Kriegspropaganda. Aus dem Französischen übersetzt von Marianne Schönbach. Springe: Kampe 2004. Siehe auch Erlach, Thomas: Das patriotische Festspiel (2008), S. 98.

durch die Diminutivendung –le etwas Provinzielles. Interessant und möglicherweise kein Zufall ist, dass Lämmle/Laemmle auch der Nachname eines sehr erfolgreichen und bekannten deutsch-jüdischen Emigranten ist. Carl Laemmle war ein im späten 19. Jahrhundert in die USA ausgewanderter deutscher Jude, der in seiner neuen Heimat maßgeblich am Aufbau der Filmindustrie in Hollywood beteiligt war und im Jahr 1939 verstarb.434 Der Name Eusebius klingt zunächst einfach nur nichtdeutsch und lässt eventuell noch an frühchristliche Theologen denken.

Vor- und Nachname scheinen jedenfalls nicht recht zusammenzupassen – so wie auch Lämmles Aussagen und sein Verhalten von einer Szene zur anderen diametral entgegengesetzt sein können.

Er ist der typische Mitläufer – eine offensichtlich in der Logik des Stücks verachtenswerte Einstellung. Je nachdem ob Lämmle mit Michel oder dem Direktor spricht, wechseln seine Sympathien und Loyalitäten innerhalb von wenigen Sekunden. Er ist so flexibel in seinen Ansichten, dass Michel ihn als „Gummimann“435 verspottet. Michel spielt auch an weiteren Stellen auf Personen an, die ihre politische Meinung und Haltung ändern, je nachdem, was gerade opportun ist. So bringt er im Gespräch mit Lämmle diesen mit den so genannten ‚Märzgefallenen’

in Verbindung – so wurden Opportunisten bezeichnet, die nach den Reichstagswahlen am 5. März 1933 in die NSDAP eingetreten waren436: „Solche Verwandlungskünstler kenne ich. Nicht wahr, Eusebius, im März fallen die besonders häufig.“437 Lämmle selbst bezeichnet sich in einem kleinen Lied als „Leisetreter“: „Niemals komme ich zu spät. Denn ich komme später, / keiner hört, wohin ich tret, ich bin Leisetreter.“438 Warum er ein „Leisetreter“ ist, offenbart der Schütze in der darauffolgenden Textpassage: „Jaja, ich komme nie zu spät! Ich komme immer zur richtigen Zeit, weil ich später komme. Dann weiß ich auch, was gespielt wird - - und wer dran ist. Dann habe ich Ruhe, und ich will meine Ruhe haben!“439 Nicht auffallen, immer das tun, was gerade opportun ist – das ist also Lämmles Devise. Michel wiederum meint, „die Lämmles [kämen] schon alt und verkalkt zur Welt. Das einzig Bewegliche ist der Rücken.“440 Dies steigert er noch in seiner nächsten Dialogpassage: Lämmle und Leute seines Schlages hätten kein Rückgrat, so Michel. Auf die Spitze getrieben wird die Darstellung von Lämmles Opportunismus in der letzten Szene des Stückes.

Nachdem Michel alle, die zuvor noch im Banne des Direktors getanzt hatten, von der Bühne gejagt

434 Vgl. Mustea, Christina S.: Carl Laemmle - Der Mann, der Hollywood erfand. Hamburg: Ostburg Verlag 2013.

435 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 20; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 20.

436 Vgl. Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus (2007), S. 399.

437 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 18; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 15.

438 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 15; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 12.

439 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 15; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 12.

440 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 25; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 23.

hat, bleibt nur der Schütze Eusebius Lämmle zurück, der Michel Beifall klatscht und ihm zujubelt – auch noch, als dieser ihm mehrfach ins Gesicht schlägt.441

Außer als rückgratloser Mitläufer wird Eusebius Lämmle von Michel auch noch als Spießer verspottet, er nennt ihn „bürgerlicher Schützenspieß“442 und „Herr Vereinsmeier“443. Auch vom Direktor wird Lämmle als Spießer bezeichnet, der zwar dumm, aber gut zu gebrauchen sei. So werden bestimmte Kreise der deutschen Bevölkerung als Komplizen und ‚Handlanger‘ der vermeintlichen jüdischen Weltverschwörung hingestellt. Dass nicht nur Teile der deutschen Bevölkerung sich vom Judentum hätten benutzen lassen, kommt in einer Sequenz zum Ausdruck, in der die Mitglieder des Völkerbundes unter Peitschenknallen ‚nach der Pfeife’ des Direktors tanzen – im wörtlichen und eben auch im übertragenen Sinne.444

Im Ehemann, der zu Beginn des Stückes mit seiner Frau auftritt, ist eine Parodie auf die Teile der deutschen Bevölkerung zu sehen, die rückwärtsgewandt die Zeiten des Kaiserreichs zurückwünschen: „Siehst du, Babett, so was hat es beim Kaiser Wilhelm alles nicht gegeben. All dieser neumodische Kram. Und überhaupt: angefangen hat es beim Kaiser Wilhelm auch pünktlich.“445 Seine Frau, offensichtlich keine Kaisertreue, kontert mit „Na ja, aufgehört hat er ja auch pünktlich.“446 Kurz danach beendet sie die Unterhaltung mit: „Ach, hör mir doch auf mit deinem Kaiser Wilhelm!“447 Darauf beginnt, mit dem Auftritt des Direktors, die Zirkusvorstellung.

Der Zauberer des Zirkus’ trägt den sprechenden Namen Dr. Freimauritius und ist das Abziehbild eines Freimaurers, der als Attribut einen silbernen Hammer mit sich führt und auf den Vorwurf er habe ja gar keine Arbeiterhände erwidert, er mauere eben nur „symbolisch“.448 Sein größtes Zauberkunststück ist das Spalten von Haaren. Zu den ihn lächerlich machenden Handlungen gehören der Freimaurergruß, den er laut Regiebemerkung bei seinem ersten Auftritt ausführen soll, und sein ebenfalls in einer Regiebemerkung beschriebenes Ritual, das er vor Beginn seines Kunststücks durchführt und welches im Hochkrempeln eines Hosenbeins, eines Ärmels u. ä.

441 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 38; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 37–38.

442 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 15; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 12.

443 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 16; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 13.

444 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 37. Siehe dazu auch die Ausführungen im Teilkapitel 4.4.5 Antisemitismus. In der Stückversion von 1937 fehlt diese Szene.

445 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 9; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 6.

446 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 9; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 6.

447 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 9; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 6.

448 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 28; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 25.

besteht.449 Auch die von den Nationalsozialisten unterstellte Unterstützung des angeblichen

‚Weltjudentums‘ durch die Freimaurer450 findet in Zirkus Freimauritius ihren Widerhall. Als der Zauberer eine Schürze mit der Aufschrift „Papas Liebling“ umbindet, veranlasst das Michel zur Bemerkung: „Fasse dich kurz, Papas Liebling; dein Papa sitzt wohl auch in Jerusalem?“451 Die Freimaurer erscheinen somit als Kinder oder Zöglinge des ‚Weltjudentums‘.

Die Tänzerin Marianne und der Bär sind, nicht zuletzt dank ihrer Kostüme, unschwer als Frankreich und Russland bzw. die Sowjetunion zu erkennen.452 Marianne tanzt auf dem Seil, das Osten und Westen verbindet, und fällt, als Michel dieses durchschießt, direkt in die Arme des russischen Bären. Dies ist der Beginn einer Romanze.453 Um sich gegen die Aggression des Deutschen zu wehren, geht Marianne, angeregt vom Freimaurer-Zauberer und in Begleitung weiterer Zirkusmitglieder, zum Völkerbund, um sich über Michel zu beschweren. Der Völkerbund erscheint als von Freimaurern unterwanderte Institution, die hauptsächlich redet, aber nicht handelt. Michel singt ein entsprechendes Spottlied, in dessen Kehrreim die übrigen einfallen:

Michel: (singt)

449 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 26–27; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 23–25.

450 Vgl. zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Freimaurertum: [Artikel] Gegner der Freimaurerei. In:

Internationales Freimaurerlexikon. Hrsg. von Eugen Lennhoff, Posner u. a. München: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung 2006/2011. S. 327–331. Hier: S. 328 und S.330, außerdem: [Artikel] Deutschland. In:

Internationales Freimaurerlexikon. Hrsg. von Eugen Lennhoff, Posner u. a. München: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung 2006/2011. S. 217–225. Hier: S. 223-224, sowie: [Artikel] Nationalsozialisten. In:

Internationales Freimaurerlexikon. Hrsg. von Eugen Lennhoff, Posner u. a. München: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung 2006/2011. S. 596–598.

451 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 27; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 25. Vgl. auch die Stelle im Stück, an der der Völkerbund nach der Pfeife des Direktors tanzt (diese Stelle ist nur in der Stückversion von 1936 enthalten):

o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 37.

452 Im Vorwort zur Ausgabe von 1936 beschreibt Raeck die Kostümierung der beiden so: „Die Marianne trägt ein kurzes Tänzerinkleid [sic], eine schwarze Perücke und eine Jakobinermütze – der Bär hat einen großen roten Schurz um mit Sowjetstern, Hammer und Sichel darauf […].“ (ebd., S. 7.).

453 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 31–32; o.A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 30.

454 o.A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 35; o.A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 33–34. Die Anordnung der Zeilen etc.

folgt den Druckbildern der Originale.

Persifliert werden auch Gruppen, Organisationen und Haltungen, die nicht direkt bzw. nur personifiziert im Stück auftauchen. Es sei hier ein Beispiel zitiert, der Text steckt aber voller weiterer Anspielungen.455 Das einzig auftretende Zirkustier, der blaue Esel, bietet Michel Gelegenheit für Spitzen in verschiedene Richtungen:

Schütze: […] Wetten, du errätst es nicht, wieso der Esel blau ist. […] Dreimal darfst du es versuchen, Michel.

Michel: Schön! (überlegt und schaut sich das Vieh von allen Seiten an. Wo er hinschaut, fängt es zu zittern an.) Halt, ich hab’s. Der Esel ist blau, weil er sich hat aufnorden wollen. Der hat blaue Augen haben wollen, da ist ihm die ganze Farbe über den Balg gelaufen.

Schütze: Falsch – ganz kolossal falsch.

Michel: Jetzt ist es richtig. Der Esel hat lauter blaue Blumen im Mondschein gefressen – der Esel ist bündisch.

Schütze: Unsinn. Wieder falsch geraten.

Michel: (tippt sich an den Kopf, macht einen Freudensprung und ruft): Ich weiß, das ist einer von den Eseln, die zu den Sowjets gegangen sind. Erst haben sie ihm lauter blauen Dunst vorgemacht, und dann saß er schwer in der blauen Tinte. Kein Wunder, wenn er jetzt blau ist.

Schütze: Kolossal kurioser Einfall. War aber wieder falsch. Ich habe gewonnen. 456

Bei seinem ersten Rateversuch mutmaßt Michel, der Esel sei blau, weil er sich habe „aufnorden wollen“. Der Begriff „aufnorden“ meinte eigentlich, durch verschiedene Maßnahmen den Bevölkerungsanteil der vermeintlich existierenden ‚nordischen Rasse’ zu erhöhen. Daneben hatte sich in der NS-Zeit inoffiziell die ironische Bedeutung ‚aufhellen, aufbessern’ herausgebildet, so waren ‚aufgenordete‘ Haare blondierte Haare. „Aufnorden“ wurde außerdem als ironische Bezeichnung für Korrekturen im Abstammungsnachweis gebraucht.457 Mit seiner Mutmaßung macht sich Michel also über all jene lustig, die versuchten, auf die eine oder andere Weise anders – in ihren Augen besser, da ‚nordischer‘ – zu erscheinen. Das Verhalten dieser Personen wird mit dem eines Esels verglichen und zudem als höchst ineffektiv und sinnlos gezeigt, denn Michel hält

455 Von den zahllosen kleineren Andeutungen und Spitzen sollen einige hier genannt werden, z.B. gibt es Angriffe gegen 1.) „Hundertfünfzigprozentige“, also übereifrige, besonders strenge, intolerante und uneinsichtige Nationalsozialisten, die keinen Spaß, wie z.B. Witze über Hermann Göring, verstehen. (o.A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 10. Fehlt 1937.) Zum Begriff der Hundertfünfzigprozentigen vgl. auch Brackmann, Karl-Heinz u. Renate Birkenhauer: NS-Deutsch (1988), S. 100. 2.) die Zentrumspartei (o.A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 21–22. Und o.A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 18–20.). 3.) Verbindungsstudenten (Verspottung der „Bierehre“, die es nur bei Eseln gebe, und Entdeckung von Schmissen am Hinterteil des Esels; o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 20. Und, leicht abgewandelt, o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 17–18. Hier wird der Esel noch als „Reaktionseselchen“

bezeichnet, dafür fehlt der Hinweis auf die Schmisse am Hinterteil.). 4.) den äthiopischen Kaiser Haile Selassie (hier als „Alah Selassie, der Kaiser aller Schlangenbeschwörer“) (o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 35 und folgende.

In der Fassung von 1937 fehlt die Figur des Schlangenbeschwörers.)

456 o. A.: Zirkus Freimauritius (1936), S. 16–17; o. A.: Zirkus Freimauritius (1937), S. 14.

457 Vgl. Schmitz-Berning, Cornelia: Vokabular des Nationalsozialismus (2007), S. 75–76, und Brackmann, Karl-Heinz u. Renate Birkenhauer: NS-Deutsch (1988), S. 28.