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Vom Privaten ins Öffentliche: Theater für Kinder und Jugendliche ab etwa 1850

2. KINDER-UND JUGENDTHEATER VOR 1933

2.2 Vom Privaten ins Öffentliche: Theater für Kinder und Jugendliche ab etwa 1850

Ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts kam es im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters zu Veränderungen. Aus dem pädagogischen Kindertheater, das in der privaten Sphäre verankert gewesen war, wurde „ein Element der Unterhaltungsindustrie des Kaiserreichs […], ausgerichtet auf die öffentlich-professionelle Präsentation.“20 Erzieherische Konnotationen seien zwar erhalten geblieben, jedoch seien die pädagogischen Funktionen meist in Spezialkontexte wie die Schule oder Jugendvereine verwiesen worden. Brunken spricht zudem von einer starken Ausdifferenzierung des Theaters für Kinder und Jugendliche. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Theater von (und für) Kinder und Jugendliche im familiären, häuslichen Rahmen stattgefunden. Nun breitete es sich auf neue „Erlebnisräume“21 aus, auf die Schule, den Jugendverein – als Beispiele nennt Brunken Lehrlingsverein, Gesellenverein und Jünglingsverein – und auf das öffentliche Theater. In letzterem konnten Kinder und Jugendliche nur rezipierend an Aufführungen teilnehmen, während sie in der Schule, den Vereinen und im privaten Umfeld als Produzenten und Rezipienten in Theateraufführungen involviert sein konnten. Ausgelöst durch viele Neugründungen im Theaterbereich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die finanzielle Situation für viele Theater schwierig, es mussten neue Publikumskreise erschlossen werden. Unter anderem wurden Nachmittagsvorstellungen für Kinder eingeführt, deren Ausstattung und Gestaltung sich Brunken zufolge oft an den beliebten Revuen für Erwachsene orientierten.

Insgesamt erweiterte sich der Adressatenkreis des Kinder- und Jugendtheaters, auch jüngere Kinder als bisher sowie ältere Jugendliche wurden nun von bestimmten Angeboten erreicht.

Stärker ausgeprägt als in den Jahrzehnten zuvor war die explizite Adressierung von Stücken an Mädchen.

Als weitere wesentliche Entwicklung im Kinder- und Jugendtheater ab etwa 1850 nennt Brunken die „Tendenz zur Professionalisierung bei den Autoren, von denen einige nun aus Theaterberufen stammten […], etliche aber auch schriftstellerisch tätig waren […] oder sonstwie künstlerisch aktiv […].“22 Deutlich zurückgegangen sei die Zahl der schreibenden Pädagogen und Geistlichen. Der Anteil von Frauen an den für das Kinder- und Jugendtheater schreibenden Autoren habe etwa 40% betragen. Die Texte seien zunehmend auf theaterpraktische Anforderungen zugeschnitten gewesen und hätten Hinweise zu Musik, Tanz, Kostümen, Ausstattung, Lichtgestaltung etc.

20 Ebd., Sp.233. Die folgenden Ausführungen halten sich, wo nicht anders gekennzeichnet, an die Sp. 233-278, bes.

Sp. 235-253.

21 Ebd., Sp.235.

22 Ebd., Sp.236.

enthalten. Publiziert wurden sie zu einem erheblichen Anteil in Verlagen, die ein entsprechendes Spezialsortiment hatten und die Stücke oft in Heftreihen herausgaben. Als führend auf diesem Gebiet benennt Brunken den Berliner Verlag Eduard Bloch, die Verlage Hofmann und Winckelmann (beide ebenfalls aus Berlin), Bartholomäus (Erfurt), Rommel (Frankfurt a.M.) und Schöningh (Paderborn).

Es habe außerdem eine große Vielfalt an Genres des Kinder- und Jugendtheaters gegeben. Als die zwei Hauptgruppen nennt Brunken das Figuren- und das Personentheater, die sich jeweils in verschiedene Subgenres aufteilten. Im Bereich des Personentheaters habe es den Festactus, Schauspiele für Jugendfeste und für familiäre Anlässe, Weihnachts- und Krippenspiele, geistliche und historische Schauspiele gegeben. Der Festactus habe vor allem zur Ausgestaltung patriotischer Feiern gedient, meist in Schulen, seltener in anderen öffentlichen Zusammenhängen.23 Auch Krippenspiele seien für öffentliche Aufführungen in Kirche oder Verein vorgesehen gewesen. Von den Krippenspielen zu unterscheiden sind die Weihnachtsspiele, die weniger den religiösen Charakter als Aspekte des weihnachtlichen Brauchtums (Weihnachtsbaum, Bescherung etc.) betonten. Beide Spielformen arbeiteten auch mit dem Einsatz von Gesang und Musikbegleitung.

Als geistliche Spiele habe es, so Brunken, noch Schauspiele gegeben, die sich mit dem Leben von Heiligen oder biblischen Figuren beschäftigten. Historische Schauspiele hätten zumeist Szenen aus dem Leben historischer Persönlichkeiten gezeigt. Sie seien in der Regel für Aufführungen durch professionelle Bühnen bestimmt gewesen. Seltener habe es Dramatisierungen von Sagenstoffen gegeben, da sie meist eine noch aufwendigere Ausstattung erforderten, die nur von größeren professionellen Bühnen zu leisten gewesen sei.24

Als weitere Subgenres nennt Brunken die moralischen Schauspiele, die Dramolette und Komödien sowie Singspiele und Reigenspiele.25 Reigenspiele seien für die „Mädchenbühne“26 konzipiert gewesen, sie hätten recht wenig Text enthalten, dafür aber ausgearbeitete Arrangements für die Reigentänze. Gesang (Solo und Chor) sowie Instrumentalmusik seien in vielen Stücken des Kinder- und Jugendtheaters eingesetzt worden. Manchmal seien auch Singspiele entstanden, deren

23 Zum patriotischen Schulfestspiel siehe: Schroeder, Ulrich: Funktion und Gestalt des patriotischen Schulfestspiels in der Wilhelminischen Kaiserzeit (1871 - 1914). Dissertation. Aachen 1990. Und Erlach, Thomas: Das patriotische Festspiel - Schultheater im Dienste der Kriegserziehung. In: Kindertheater und populäre bürgerliche Musikkultur um 1900. Studien zum Weihnachtsmärchen (C. A. Görner, G. v. Bassewitz), zum patriotischen Festspiel, zur Märchenoper, zur Hausmusik (C. Reinecke, E. Fischer) und zur frühen massenmedialen Kinderkultur. Hrsg. von Gunter Reiß. Frankfurt a. M.: Lang 2008. S. 97–116. sowie die Ausführungen zu dieser Theaterform weiter unten im Teilkapitel 2.6.

24 Vgl. Brunken, Otto: Theater für Kinder (2008), Sp. 237-243.

25 Vgl. ebd., Sp. 242-246.

26 Ebd., Sp. 246.

Ausformung von Stücken mit Liedeinlagen bis hin zu operettenähnlichen Stücken reichen konnte.27 In den moralischen Schauspielen lebten herkömmliche dramaturgische Mittel, die zur Belehrung und Erziehung dienen sollten, fort (z.B. Erziehung durch Vorbild oder abschreckende Beispiele, sprechende Titel, Konzeption des Stückes auf eine Maxime oder Lebensweisheit hin).

Dies sei aber mit neuen, unterhaltenden Elementen kombiniert worden, die z.B. aus der Zauberposse entliehen worden seien. Die moralischen Schauspiele sind vom Text her oft umfangreich, in diesen Fällen seien sie vermutlich zur Lektüre und nicht zur (häuslichen) Aufführung gedacht gewesen. Über die intendierte Aufführungspraxis lieferten die Texte sonst meist keine Informationen, so Brunken. Der Übergang vom moralischen Schauspiel zur Komödie war oft fließend, letztere enthielten aber gegenüber ersteren deutlich mehr unterhaltende Momente. Sie orientierten sich in ihrer Bauweise an Stücken des professionellen Theaters, seien aber zur Aufführung durch Jugendliche, seltener Kinder, in privatem Rahmen vorgesehen gewesen. Die kürzeren, meist einaktigen Dramolette seien hingegen zur Aufführung durch Kinder gedacht gewesen. Sie seien meist komisch oder schwankhaft, der unterhaltende Aspekt stehe im Vordergrund. Nur selten sei für ein Dramolett eine öffentliche Aufführung an einem Theater intendiert gewesen.

Neben den bisher genannten Gruppen oder Subgenres gab es noch den Bereich der Märchen.

Diesen teilt Brunken in die Märchenspiele und die Weihnachtsmärchen ein. Als erstere bezeichnet er Dramatisierungen von (Volks)märchenstoffen, die häufig auf Aufführungen durch Kinder oder Jugendliche in privatem Rahmen zugeschnitten gewesen seien und die noch Merkmale der herkömmlichen moralischen Schauspiele aufgewiesen hätten. Größer sei jedoch die Gruppe der Märchenspiele gewesen, die für eine Aufführung an professionellen Bühnen gedacht waren oder die von den Bühnen fest in ihr Repertoire aufgenommen wurden.28 Während diese Märchen zum laufenden Spielplan der Theater gehört hätten, habe sich daneben ab Mitte/Ende der 1870er Jahre das mit großem Ausstattungsaufwand inszenierte Weihnachtsmärchen etabliert.

2.2.1 Weihnachtskomödie und Weihnachtsmärchen

Als einer der wichtigsten Vorläufer der später so erfolgreichen Weihnachtsmärchen gilt Carl August Görners Stück Die drei Haulemännerchen oder Das gute Liesel und ’s böse Gretel, das am 12.

Dezember 1854 in Berlin uraufgeführt wurde (mit Kindern als Darstellern). Es wurde sehr

27 Vgl. ebd., Sp. 246.

28 Als Beispiel hierfür nennt er u.a. die Oper Hänsel und Gretel, die von Adelheid Wette zunächst als Märchenspiel für den Hausgebrauch geschrieben wurde, dann aber von ihrem Bruder Engelbert Humperdinck vertont und zur Oper durchkomponiert wurde, deren Uraufführung 1893 stattfand. Vgl. ebd., Sp. 247.

erfolgreich, die Inszenierung gastierte auch am Hamburger Thalia-Theater.29 1855/56 veröffentlichte Görner Stücke unter dem Titel Kinder-Komödien in sechs Bänden. Zunächst waren sie noch zur Aufführung durch Kinder gedacht.30 Unter Görners Regie entstanden in den folgenden Jahren am Hamburger Thalia-Theater und am Stadttheater weitere Inszenierungen der von ihm jetzt so bezeichneten Weihnachts-Komödien. Er lässt seine Figuren eingängige Merkverse aufsagen und moralisierende Schlussresümees ziehen.31

Görners Weihnachtskomödien und -märchen und die der in seiner Tradition stehenden Autorinnen und Autoren wurden in der Rückschau oft negativ bewertet. Eine erste Phase, in der heftige Kritik an dieser Form des Weihnachtsstückes geübt wurde, gab es bereits zwischen den 1890er und den 1930er Jahren. 1919 z.B. bezeichnet Jakob Löwenberg in der Zeitschrift Jugendschriften-Warte das Weihnachtsmärchen unmissverständlich als Schundliteratur. Es weise den Weg zum neuen Medium Kino, dem er ebenfalls ablehnend gegenübersteht.32 Ernst Leopold Stahl erklärt Görner im Jahr 1922 gar zu „einem der gemeingefährlichsten Schädlinge des deutschen dramatischen Schrifttums […].“ 33 Die Kritik der 1960er und 70er Jahre fügt den älteren Vorwürfen noch neue Aspekte hinzu. So werden Görners Stücke als eher ökonomisch erfolgreich denn als ästhetisch gelungen und wertvoll bewertet, rückblickend betrachtet stehe „sein Name zugleich für den Beginn einer folgenschweren Fehlentwicklung, die kommerziellen Erfolg mit

29 Schedler, Melchior: Kindertheater: Geschichte, Modelle (1972), S. 43–44. Vgl. auch Brunken, Otto: Theater für Kinder (2008), Sp. 252. Zum Begriff „Weihnachtsmärchen“ siehe Jahnke, Manfred: Von der Komödie für Kinder zum Weihnachtsmärchen. Untersuchungen zu den dramaturgischen Modellen der Kindervorstellungen in Deutschland bis 1917. Zugl: Dissertation. Berlin 1975. Meisenheim am Glan: Hain 1977 (=Hochschulschriften Literaturwissenschaft 25), S. 2–3. Jahnke unterscheidet zwischen Komödie für Kinder (ab 1855/56), Weihnachts-Komödien (ab 1867) und Weihnachtsmärchen (ab 1870). Als neutralen Terminus schlägt er den Begriff Kindervorstellung vor.

30 Gombert, Ina: Kindertheater - Kinderkram (2007), S. 49–50.

31 Schneider, Wolfgang: Theater für Kinder (2005), S. 20.

32 Ewers, Hans-Heino: Peterchens Mondfahrt und der Feldzug gegen das Weihnachtsmärchen. Versuch einer Neubewertung des Kinderschauspiels von Gerdt von Bassewitz. In: Kindertheater und populäre bürgerliche Musikkultur um 1900. Studien zum Weihnachtsmärchen (C. A. Görner, G. v. Bassewitz), zum patriotischen Festspiel, zur Märchenoper, zur Hausmusik (C. Reinecke, E. Fischer) und zur frühen massenmedialen Kinderkultur.

Hrsg. von Gunter Reiß. Frankfurt a. M.: Lang 2008. S. 55–66. Hier: S. 55. Und: Dettmar, Ute: Theaterzauber. C.A.

Görners Weihnachtsmärchen im Spannungsfeld von kinderliterarischer Tradition, Theaterpraxis und Populärkultur um 1900. In: Kindertheater und populäre bürgerliche Musikkultur um 1900. Studien zum Weihnachtsmärchen (C.

A. Görner, G. v. Bassewitz), zum patriotischen Festspiel, zur Märchenoper, zur Hausmusik (C. Reinecke, E. Fischer) und zur frühen massenmedialen Kinderkultur. Hrsg. von Gunter Reiß. Frankfurt a. M.: Lang 2008. S. 33–54. Hier:

S. 51. Zur Jugendschriften-Warte vgl.: Azegami, Taiji: Die Jugendschriften-Warte. Von ihrer Gründung bis zu den Anfängen des ‚Dritten Reiches ‘ unter besonderer Berücksichtigung der Beurteilung der Kinder- und Jugendliteraturbewertung und -beurteilung. Zugl.: Dissertation. Bielefeld 1995. Frankfurt a. M. [u.a.]: Peter Lang 1996 (=Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur 1551).

33 Zit. nach Dettmar, Ute: Theaterzauber (2008), S. 32. (Original nicht eingesehen.).

ästhetischem Ausverkauf bezahlt“ habe.34 Bauer kritisiert im Jahr 1980, dass in Görners Weihnachtskomödien Märchenstoff, theatralische Aktion und moralische Lehrsätze nebeneinander stehen, lediglich „notdürftig zusammengehalten durch das ‚komisch-theatralische Spielprinzip‘.“35 Dettmar nimmt 2008 eine Neubewertung von Görners Werk vor. Sie charakterisiert seine frühen Stücke als Mischform zwischen dem Kinderschauspiel der Aufklärung und dem professionellen Theater für Kinder. Sie erkennt eine Entwicklung in Görners Stücken, ab 1864/65 habe er beispielsweise stärker als zuvor auf die rührende Wirkung seiner Stücke gesetzt, die aber nach wie vor religiös-moralische Wendungen enthalten hätten. Komische Szenen, die er zuvor oft unmotiviert in die Handlung eingefügt habe, seien nun besser in den Gesamtablauf des Stücks integriert gewesen. Görner habe auch zunehmend die Möglichkeiten des Mediums Theater genutzt, so habe er auf theatrale, musikalische und technische Effekte gesetzt. Bühnenbild, Kostüm und Requisite hätten mehr Beachtung erfahren, Tanz und Musik seien zentrale Elemente der Inszenierung geworden.36 Dettmar sieht in Görners Aufführungen mit ihren audiovisuellen Effekten ein populärkulturelles Angebot, das durch den Tarnmantel des Märchens und der vordergründig wirkenden Moral von Pädagogen akzeptiert werden konnte. Die Weihnachtsmärchen hätten Kindern die Möglichkeit geboten, in den Genuss eines Vergnügens zu kommen „in dem die rationalistische Abwertung der Emotionen überwunden ist und sinnliche Erlebnisse möglich werden.“ 37

Im späten 19. Jahrhundert etablierte sich das Weihnachtsmärchen, wie bereits erwähnt, auf den deutschen Bühnen. Seine Motive entnahm es nun nicht mehr nur verschiedenen Märchen, sondern der ganzen Kinderliteratur. Kennzeichnend ist das Gut-Böse-Prinzip in abgemilderter Form, am Ende steht nicht die Vernichtung des Bösen, sondern Versöhnung. Christliche Tugenden wie Nächstenliebe, Barmherzigkeit und Mildtätigkeit stehen exemplarisch für ein gottgefälliges Menschenbild.38 Die Tradition, in der Vorweihnachtszeit ein Stück für Kinder aufzuführen, hat sich gehalten, auch heute handelt es sich dabei oft um Märchenstücke, die für volle Zuschauerränge in deutschen Theatern sorgen.39

34 Ebd., S. 33. So kritisiert z.B. Schedler: „In ihnen [den Weihnachtsmärchen B.K.] entwickelte der Hochkapitalismus eine Gattung des Kindertheaters, deren Ästhetik allein durch ihre Verkäuflichkeit bestimmt wurde.“ (Schedler, Melchior: Kindertheater: Geschichte, Modelle (1972), S. 70.).

35 Bauer, Karl W.: Emanzipatorisches Kindertheater. Entstehungszusammenhänge, Zielsetzungen, dramaturgische Modelle. Zugl.: Dissertation. Essen 1978. München: Wilhelm Fink Verlag 1980 (=Literatur in der Gesellschaft. Neue Folge 1), S. 18.

36 Dettmar, Ute: Theaterzauber (2008), S. 41–42.

37 Ebd., S. 50–52.

38 Taube, Gerd: Kinder- und Jugendtheater (2000), S. 576.

39 Vgl. Gombert, Ina: Kindertheater - Kinderkram (2007), S. 50–51.