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2. KINDER-UND JUGENDTHEATER VOR 1933

2.6 Das Laienspiel der Jugendbewegung

Hans-Wolfgang Nickel definiert Laienspiel in seinem entsprechenden Artikel im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur wie folgt:

L[aienspiel] ist eine bestimmte, historische Theaterform sich eigenverantwortlich fühlender Jugendgruppen. Sie entstand in engem Zusammenhang mit der Jugendbewegung und der musischen Erziehung der neuen Schule nach 1900 im deutschsprachigen Raum. L[aienspiel] in diesem Sinne setzt sich scharf gegen das professionelle Theater ab und entwickelt eigene Spielformen und eine eigene Textwelt. Es bestimmte in den zwanziger Jahren weithin die großen Bühnenverbände, wurde 1933 abgeschnitten oder übernommen, wirkte aber nach 1945 weiter bis in die Gegenwart hinein, in der es vom Spiel- und Amateurtheater abgelöst wird.71

Das Laienspiel war, neben der Pflege von Volksmusik und -tanz, ein wesentlicher Bestandteil der gemeinschaftsbildenden Aktivitäten der Jugendbewegung. Die musische Erziehung innerhalb der Jugendbewegung sei laut Frantzen moralisch und sozial ausgerichtet gewesen, Spiel und Gemeinschaft seien die Leitbegriffe gewesen.72 Das Laienspiel der Jugendbewegung war nicht nur ein Gegenentwurf zum Vereins- und Dilettantentheater, wie Bonn ausführt73, sondern, wie Nickel und andere schreiben, auch zum professionellen Theater. Es entstand ein eigener Kanon von Spieltexten für die Laienspielbewegung, mit Rückgriffen auf die Theatergeschichte wie z.B.

geistlichen Spielen, Hans-Sachs-Bearbeitungen und Märchenadaptionen.74 Zudem entwickelten

70 Vgl. Bonn, Friedrich: Jugend und Theater (1939), S. 284.

71 Nickel, Hans-Wolfgang: [Artikel] Laienspiel. In: Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. Personen-, Länder- und Sachartikel zu Geschichte und Gegenwart der Kinder- und Jugendliteratur. In drei Bänden (A-Z) und einem Ergänzungs- und Registerband. Zweiter Band: I - O. Hrsg. von Klaus Doderer. Weinheim, Basel: Beltz 1977. S.

303–305. Hier: S. 303.

72 Vgl. Frantzen, Peter (Hrsg.): Laienspiel in der Weimarer Zeit. Eine Dokumentation. Münster 1969 (=Hilfen für Spielleiter 8), S. 13.

73 Siehe Ende des vorherigen Teilkapitels bzw. vgl. Bonn, Friedrich: Jugend und Theater (1939), S. 284.

74 Siehe Nickel, Hans-Wolfgang: [Artikel] Laienspiel. In: Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. Hrsg. von Manfred Brauneck u. Gérard Schneilin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1992. S. 537–539. Hier: S. 538.

Spielleiter in Zusammenarbeit mit ihren Spielern zunehmend eigene Spieltexte.75 Auch eine eigene Spielweise wurde entwickelt, wie im obenstehenden Zitat von Nickel ja schon anklang:

Der Spielstil zeichnete sich aus durch (oftmals dogmatischen) Verzicht auf Vorhang und Kulisse, durch einfache, starkfarbige Gewänder (Spielkleid, nicht Kostüm!), durch sparsame Gestik und die Suche nach laiengeeigneten Spieltexten. Man wollte künden, wirken und erziehen; man erstrebte die innere Verbundenheit einer echten Gemeinschaft Spieler – Zuschauer in der Erbauung eines weihevollen Festes.76

Als Sonderform des Laienspiels sei hier kurz das Puppenspiel erwähnt, das im Kontext der Jugendbewegung eine große Rolle spielte. Das bekannteste Puppentheater, die von Max Jacob (1888-1967) geleiteten Hohensteiner Handpuppenspiele, ging aus dem Wandervogel hervor.77 Später (in den 1950er Jahren) wurde die Bedeutung des Begriffs Laienspiel ausgeweitet und bezeichnete dann ab den 1970er und 80er Jahren allgemein alle Formen des nicht-professionellen Theaters in Abgrenzung vom Berufstheater. Heute wird Laienspiel im nichtwissenschaftlichen Sprachgebrauch etwa gleichbedeutend mit Amateurtheater verwendet.78

Da die Jugendbewegung keine weltanschaulich homogene Bewegung war, existierten in der Weimarer Republik neben konservativen oder deutschnationalen Gruppen der bündischen Jugend auch konfessionell geprägte Jugendgruppen und die politisch links gerichteten Gruppen der Arbeiterjugendbewegung.79 Diese unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Milieus spiegelten sich auch in den Spieltexten der Laienspielgruppen wieder. Abgedruckt wurden Laienspieltexte häufig in Reihen bei verschiedenen Verlagen, z.B. die Reihe Jugend- und Laienspiele im Arbeiterjugend-Verlag Berlin, die Norddeutschen Laienspiele bei Eduard Bloch in Berlin, die Münchener Laienspiele im protestantischen Christian Kaiser Verlag, München. Einige der bedeutendsten Praktiker der Laienspielbewegung haben auch theoretische Schriften zum Laienspiel veröffentlicht, in denen sie grundlegende Gedanken und Konzepte entwickeln und so unterschiedliche pädagogische Ansätze und Arbeitsweisen prägten. Zu nennen sind hier der Reformpädagoge Martin Luserke und Rudolf Mirbt, die führende Persönlichkeit der

75 Vgl. Taube, Gerd: Kinder- und Jugendtheater (2000), S. 577.

76 Nickel, Hans-Wolfgang: [Artikel] Laienspiel (1992), S. 538.

77 Taube, Gerd: Kinder- und Jugendtheater (2000), S. 577.

78 Vgl. Belgrad, Jürgen: [Artikel] Laienspiel. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II. H-O. Hrsg.

von Harald Fricke. Berlin, New York: De Gruyter 2000. S. 375–377. Bes. S. 375.

79 Klönne beispielsweise beschreibt drei Epochen der Jugendbewegung bzw. der freien Jugendbünde: Die Phase des Wandervogels und des Freideutschtums (ca. 1900 bis 1923), die Zeit der eigentlichen Bündischen Jugend ab 1923 und ab 1929 die Jungenschaftsrichtung. Außerdem habe es konfessionelle Jugendverbände und die Arbeiterjugend gegeben und bereits ab den 1920er Jahren auch schon nationalsozialistisch eingestellte Bünde, deren Verhältnis zur NSDAP jedoch wechselhaft und zum Teil distanziert geblieben sei, so Klönne. (Vgl. Klönne, Arno: Jugend im Dritten (1984), S. 93–104.).

Laienspielbewegung in München, weiterhin Ignaz Gentges und Walter Blachetta. Wichtige Persönlichkeiten innerhalb der Laienspielbewegung waren auch Maximilian Gümbel-Seiling und Gottfried Haaß-Berkow.80 Sie alle hatten, wenigstens zeitweise, eigene Spielscharen, die häufig die von ihnen verfassten Laienspiele, aber auch andere Texte spielten.81 In den Laienspielfahrten, die einzelne Gruppen unternahmen, sieht Kaufmann eine neue Präsentationsform, die als Verschmelzung des für die Jugendbewegung essentiellen Elements der Fahrt mit der neuen Art des Theaterspielens entstanden sei. Als Beweggründe für diese Fahrten nennt er die Arbeit an der Gemeinschaft in zweierlei Hinsicht. Zum einen nach innen wirkend als Gruppenprozess, zum anderen nach außen auf die Bevölkerung wirkend, als „Arbeit am Volk“. Ob die Fahrten allerdings das richtige Mittel zur Gemeinschaftsbildung gewesen seien, sei in Kreisen der Jugendbewegung ebenso behauptet wie in Frage gestellt worden, so Kaufmann. Ob die ebenfalls intendierte Funktion, auf die Bevölkerung zu wirken, realisiert wurde, lasse sich aufgrund des Mangels an Aufführungsrezensionen oder schriftlich fixierter Publikumsreaktionen nicht nachvollziehen.82 Ab Mitte der 20er Jahre habe sich das Laienspiel auch außerhalb der Jugendbewegung verbreitet, so Schelling: „Staat, Parteien, große Verbände und Schulen entdeckten das Laienspiel als Medium, um ihre eigenen Ideen zu transportieren.“83 Nickel nennt als große Verbände, in denen sich in den 1920er Jahren das Laienspiel etablierte, den konservativen Reichsbund für Volksbühnenspiele, den schon 1906 gegründeten, aber erst ab 1925 verstärkt in der Jugendarbeit tätigen marxistischen Arbeitertheaterbund, den sozialdemokratischen Arbeiter-Laienspielverband (ab 1928) und den christlichen, bürgerlich-patriotischen Bühnenvolksbund (BVB), der 1919 als Alternative zum sozialistisch orientierten Verband der Deutschen Volksbühnenvereine gegründet worden war.84 Schelling identifiziert zwei hauptsächliche Richtungen des Laienspiels. Zum ersten die pädagogisch orientierte Variante, „die das Spiel in der Schule und Freizeit zur Förderung der Phantasie und der körperlichen und geistigen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen pflegt [...].“85 Zum zweiten

80 Auch wenn z.B. Blachetta als künstlerisch eher unbedeutend galt bzw. angesehen wurde. Vgl. Kaufmann, Andreas:

Vorgeschichte und Entstehung (1991), S. 78–83.

81 Vgl. ebd. Und auch Wolfersdorf, Peter: Stilformen des Laienspiels (1962), S. 45–47.

82 Vgl. Kaufmann, Andreas: Vorgeschichte und Entstehung (1991), S. 108–109.

83 Schelling, Frauke: Vom Jugendspiel zum (Teil 1) (1996), S. 25. Schelling bewertet dieses Vorgehen negativ und zieht Parallelen zum Nationalsozialismus und dessen Instrumentalisierung des Laienspiels. Hesse kritisiert diese Gleichsetzung, nicht jedoch die grundsätzliche Aussage, dass über Laienspiel bestimmte Positionen und Einstellungen transportiert worden wären. Vgl. dazu Hesse, Ulrich: Schritte in vermintes (1997).

84 Vgl. Nickel, Hans-Wolfgang: [Artikel] Laienspiel (1977), S. 304. Auch Wolfersdorf thematisiert die zweckgerichtete Verwendung des Laienspiels durch Verbände. Er betrachtet den Bühnenvolksbund, den Arbeiter-Laienspieler-Verband und den Reichsbund für Volksbühnenspiele. (Vgl. Wolfersdorf, Peter: Stilformen des Laienspiels (1962), S. 75–110.)

85 Schelling, Frauke: Vom Jugendspiel zum (Teil 1) (1996), S. 25.

die Variante, in der das Spiel in den Dienst einer bestimmten Weltanschauung gestellt wird und so einerseits für die ideologische Festigung bei den Kindern und Jugendlichen sowie auch für die Verbreitung der Ideologie in der Öffentlichkeit sorgen sollte.86 Diese Variante sei für verschiedene politische Richtungen genutzt worden. Kaufmann unterteilt die Entwicklung des Laienspiels in drei zeitlich aufeinanderfolgende Phasen. Die erste, frühe Phase des Laienspiels der Jugendbewegung bezeichnet er als abgeschlossenes historisches Phänomen. Es sei entstanden aus dem Wunsch nach Aktionen und sei „geprägt durch das unkonturierte und schemenhafte Motiv der Gemeinschaft, ein ‘essential’ der Jugendbewegung aller politischen Schattierungen nach 1919.“87 Damit stelle das Laienspiel eine Facette des breiten Spektrums des politischen Theaters in den zwanziger Jahren dar. Als zweite Phase des Laienspiels bezeichnet Kaufmann die Zeit von ca.

1924/25 bis zur ‚Machtergreifung‘ der Nationalsozialisten. In dieser sei versucht worden, das Laienspiel für Staat und große Verbände, wie den Bühnenvolksbund, zu operationalisieren.88 Als dritte Phase des Laienspiels nennt Kaufmann dessen massive Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus:

Mit der Zerschlagung der Bünde der Jugendbewegung, deren Eingliederung in nationalsozialistische Organisationen, nimmt das „Laienspiel“ endgültig agitatorisch-propagandistischen Charakter an und wird Kampfmittel zur politischen Formierung der Gesellschaft [...].89

Bevor es aber in Kapitel 3 um das Laienspiel ab 1933 geht, soll ein kurzer Blick auf das politisch linke Kinder- und Jugendtheater in der Weimarer Republik sowie das professionelle Theater für Kinder und Jugendliche in diesem Zeitraum geworfen werden.