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Die Unbeherrschtheit

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 159-181)

III. Was ist tadelnswert?

3. Das Tadelnswerte ( to\ ye/kton )

3.2. Die Unbeherrschtheit

Bei der Besprechung der Bestialität wurde festgestellt, dass die Bestialität zwar vermeidenswert ist, nicht aber tadelnswert. Die Unbeherrschtheit ist dagegen sehr wohl tadelnswert.

„Unbeherrscht“ nennt man jemanden, der seinen Neigungen zur Lust oft nicht widerstehen kann, obwohl er sich mit Vorsatz (proai/resij) vorgenommen hat, ihnen zu widerstehen335. Eine derartige charakterliche Verfassung bezeichnet Aristoteles als Unbeherrschtheit (a)krasi/a).

Diese Disposition ist eine häufig anzutreffende Charaktereigenschaft.

Aristoteles unterscheidet zwischen der Unbeherrschtheit bezüglich der körperlichen Begierden (a)krasi/a peri\ e)piqumi/aj) bzw. die körperliche Lust (auch Unbeherrschtheit „allein genommen“ oder

„schlechthin“ (a)krasi\a a(plw=j) genannt) und der Unbeherrschtheit beim Streben nach nicht-körperlichen Lüsten, wie Ehre, Macht oder Erfolg.

Diese zweite Art von Unbeherrschtheit ist „a)krasi\a kata\

pro/sqesin“ also „Unbeherrschtheit mit Zusatz“, auch „a)krasi\a qumou=“ genannt.336

335 Für die Unbeherrschtheit als eine Schwäche folge ich Burnets Auffassung.

Vgl. Aristotle/Burnet (1900) Kommentar zu EN 1145b19. S. 292. Charakteristisch eines Unbeherrschtes ist, dass er gegen seinen Vorsatz handelt. Siehe z.B. EN 1146a31- 1146b2.

336 Für den Unterschied zwischen diesen zwei Formen der Unbeherrschtheit siehe EN 1145b19-20; EN 1146b19-22; EN 1147b31-35; EN 1148a4-11. Der qumo/j und die e)piqumi/a sind zwei verschiedene Sorten des menschlichen o)/recij, bzw. der menschlichen Neigung nach Güter. Sie sind zwei verschiedene Formen des menschlichen Wollens. Siehe dazu An. 414b1-5. Ich werde sie im nächsten Kapitel ausführlich besprechen.

Ich werde zunächst die Unbeherrschtheit der körperlichen Lust mit einer Form des charakterlichen Schlechtseins vergleichen, der Zügellosigkeit.

Im Folgenden meint „Unbeherrschtheit“ stets „Unbeherrschtheit schlechthin“ d.h. die Unbeherrschtheit der körperlichen Lust.

Für Aristoteles sind sowohl die Zügellosigkeit als eine Form des Schlechtseins als auch die Unbeherrschtheit vermeidens- und tadelnswert. Wir werden gleich untersuchen, welche ihnen gemeinsame Elemente beide tadelnswert machen, und warum sie nicht das gleiche Maß an Tadel verdienen, d.h., welche Elemente die Zügellosigkeit tadelnswerter als die Unbeherrschtheit machen.

a) Die Unbeherrschtheit der körperlichen Lust (a)krasi/a a(plw=j) Die Unbeherrschtheit steht als Disposition dem schlechten Extrem der Zügellosigkeit (a)kolasi/a) nahe. Die Zügellosigkeit ihrerseits ist einer der Gegensätze der Besonnenheit (swfrosu/nh). Während die Besonnenheit das Streben nach der körperlichen Lust angemessen einrichtet, ist die Zügellosigkeit die absichtliche und kontinuierliche Neigung zum Übermaß bei den körperlichen Lüsten337. Der Zügellose verfolgt insbesondere diejenigen Lüste, die wir gemeinsam mit den Tieren haben, wie Essen, Trinken und Sex, d.h. die Lust oder Wohlgefühle, die wir beim Essen, Trinken oder beim Gebrauch unserer Sexualorgane empfinden338.

Es ist nicht leicht, die Unbeherrschtheit und die Zügellosigkeit auseinanderzuhalten, zunächst, weil die Handlungen aus dem Schlechtsein und die aus der Unbeherrschtheit meistens ähnlich oder 337 Vgl. EN. 1107b4-6. Hier muss es ergänzt werden, dass der Zügellose auch bestimmte körperliche Schmerzen aus Prinzip vermeidet. Siehe darüber EN.

1148a17.

338 Vgl. EN. 1118a23-25 und 1118a29-32.

sogar gleich sind339. Jedoch unterscheidet sich die Unbeherrschtheit in wesentlichen Aspekten von der Zügellosigkeit. Der wichtigste Aspekt ist, dass der Zügellose gemäß seinem Vorsatz handelt (kata\ th\n proai/resin), während der Unbeherrschte gegen seinen Vorsatz handelt (para\ proai/resin)340. Falls der Unbeherrschte sich dazu entschieden hat, auf eine bestimmte Lust zu verzichten, hat er dann nicht die nötige Kraft seinen Vorsatz tatsächlich durchzusetzen. Daher der Name „a)krato/j“ i.e. „kraftlose“. Er hat nicht die nötige Kraft, weil seine heftigen Affekte und Begierden ihn in andere als die vorgenommene Richtung bewegen. Er handelt deshalb gegen seinen Vorsatz und seine Überlegung (para\ th\n proai/resin kai\ th\n dia/noian)341.

Der Unbeherrschte wird von seinen übermäßigen Begierden überwältigt, er beugt sich den körperlichen Lüsten (swmatika\j h(dona/j). Er handelt gegen seine richtige Überlegung (para\ to\n o)rqo\n lo/gon) und nicht aus eigener Überzeugung342. Im Kontrast dazu handelt der Zügellose unabhängig vom Einfluss der Affekte und Begierden. Zwar kann auch der Zügellose übermäßige Begierden nach Essen, Trinken und Sexualität empfinden. Ob diese aber heftig oder schwach sind, ist für das Handeln des Zügellosen eher irrelevant, denn er strebt konsequent nach der körperlichen Lust aus Überzeugung und Entscheidung, nicht aus dem Affekt343. Beide verfolgen die körperlichen Lüste, der Zügellose glaubt

339 „ou) mh\n a)ll o(/moio/n ge kata\ ta\j pra/ceij.“ „und doch sind sie [das Schlechtsein und die Unbeherrschtheit] in Bezug auf die Handlungen gleich“. EN 1151a7-8. Die Handlungen aus der Unbeherrschtheit und die aus dem Schlechtsein sind in den meisten Fällen gleich; jedoch gibt es besondere Situationen, wo der Unbeherrschte sich anders als der Schlechte verhält.

340 Vgl. EN 1151a5-10.

341 Vgl. EN 1148a4-11.

342 Vgl. EN 1151a11-14.

343 Vgl. EN 1148a13-20.

jedoch, dass er so handeln muss, der Unbeherrschte meint das nicht344. Deshalb ist der Unbeherrschte in Bezug auf sein schlechtes Verhalten leicht zu überzeugen bzw. umzustimmen (eu)meta/peistoj)345.

Die Disposition der Zügellosigkeit ähnelt der Wassersucht und der Schwindsucht: Sie ist eher eine kontinuierliche, permanente Verfassung, während die Disposition der Unbeherrschtheit eher wie ein epileptischer Anfall ist. Ein Anfall, der kommt und geht, wenn der Unbeherrschte von heftigen Begierden gelenkt wird. Denn bei der Zügellosigkeit handelt es sich um eine völlige Verderbtheit eines Charakters und deswegen um eine Form von „moxqhri/a“. Hingegen ist die Unbeherrschtheit eine besondere Art der Schlechtigkeit (ponhri/a)346. Der Unbeherrschte weiß, was er macht (o(\ poiei=) und weswegen (ou(= e(/neka) bzw. er weiß um wessen willen er die schlechte Handlung realisiert. Insofern handelt er freiwillig (e(kw/n). Trotzdem handelt er unter dem Einfluss heftiger Begierden und Affekte und insofern ähnelt er eher einem Schlafenden oder Betrunkenen als einem Ungerechten oder einem Hinterhältigen. Und weil sein Vorsatz gut ist, ist er nicht völlig verdorben (moxqero/j), er ist lediglich „halb-schlecht” (h(mipo/neroj)347.

Die Zügellosigkeit impliziert die Verdorbenheit des Handlungsprinzips (a)rxh/). Das Prinzip des Handelns ist für Aristoteles „das Weswegen“ (e)n

344 Vgl. EN 1152a4-6, für die gleiche Idee siehe EN 1145b30-31.

345 Vgl. EN 1151a11-14. Diese Überzeugung erfolgt größtenteils durch Lob und Tadel, wie wir im letzten Kapitel sehen werden.

346 Vgl. EN 1150b32-36.

347 Vgl. EN 1152a14-18. Im Vergleich mit dem Zügellosen ist der Unbeherrschte weder ungerecht noch hinterhältig. Anders verhält sich die Sache im Vergleich des Unbeherrschten mit dem Unbeherrschten in Bezug auf nicht-körperliche Begierde. Denn es scheint, dass der Unbeherrschte der körperlichen Begierde hinterhältiger und ungerechter als der Unbeherrschte der nicht-körperlichen Begierde bzw. der Unbeherrschte des qumo/j ist. Dazu siehe EN 1149b13-20.

de\ tai=j pra/cesi to\ ou(= e(/neka a)rxh/) bzw. die Grundeinstellung, die alle Handlungen eines Menschen leitet348. Der Zügellose lässt sich beim Handeln von derjenigen Grundeinstellung leiten, die der Besonnenheit entgegengesetzt ist. Folgt der Besonnene den körperlichen Lüsten gemäß einer richtigen Überlegung (o)rqo\j lo/goj), d.i. mit Maß, nach Bedarf und ohne den körperlichen Lüsten den Vorrang von den schönen und nützlichen Dingen zu gewähren, so tut der Zügellose genau das Gegenteil: In seiner Seele herrscht die körperliche Begierde (e)piqumi/a) und seine Vernunft ist nur ein Instrument, um seine unersättliche Sehnsucht (a)/plhstoj o)/recij) nach Angenehmen zu befriedigen349.

Im Vergleich mit der Grundeinstellung des Zügellosen ist die Grundeinstellung des Unbeherrschten nicht völlig verdorben. Er erkennt noch, dass das Angenehme nicht das höchste Gut des Menschen ist. Er hat aber nicht die nötige Kraft, um seinen schlechten Begierden (fau=lai e)piqumi/ai) und Affekten zu widerstehen und konsequent nach dieser Überzeugung zu beurteilen und zu handeln350. Die Grundeinstellung aber ist das Beste, was die Menschen haben, deshalb ist der Zügellose schlimmer als der Unbeherrschte, weil das Beste beim Zügellosen verdorben ist und beim Unbeherrschten nicht351.

Auch in der Einschätzung ihrer jeweiligen Lage verhalten sich der Unbeherrschte und der Zügellose völlig anders. Der Unbeherrschte neigt zur tiefen Reue gegenüber seinem Zustand, während der Zügellose gar kein Bedauern empfindet. Denn dem Zügellosen bleibt verborgen, dass sein Zustand schlecht ist, dem Unbeherrschten bleibt seine 348 Vgl. EN 1151a15-1.

349 Vgl. EN 1119b3-10.

350 Vgl. EN 1152a2.

351 Vgl. EN 1151a15-27, siehe auch EE 1227b5-10, wo das charakterliche Gutsein als ein festes Bleiben bei der richtigen Entscheidung definiert wird.

Unbeherrschtheit aber nicht verborgen (h( me\n ga\r kaki/a lanqa/nei, h( d a)krasi/a ou) lanqa/nei.)352. Daher ist der Unbeherrschte heilbar (i)ato/j), er kann noch sich ändern; der Zügellose ist dagegen unheilbar (a)ni/atoj)353.

Die Zügellosigkeit ist zu Recht tadelnswert, weil der Zügellose sich weder um das Schöne noch um das Nützliche kümmert354. Um des körperlichen Genusses willen bringt der Zügellose bereitwillig seine Gesundheit in Gefahr und er hat auch keine Hemmungen, Hässliches aber Lustvolles zu tun. Er strebt nach dem Lustvollen über alles355.

Die Zügellosigkeit ruft unter keinen Umständen Nachsicht hervor, sie ist immer tadelnswert356. Die Zügellosigkeit ist sogar tadelnswerter (e)poneidisto/teron) als z.B. die Feigheit, weil die Zügellosigkeit eine aktive Entscheidung zur Verfolgung der Lust im Übermaß impliziert, und daher als besonders freiwillig gilt. Die Feigheit dagegen liegt mehr in der Unfähigkeit den Gefahren, die man nicht gesucht hat, standzuhalten357. Wie die Zügellosigkeit wird auch die Unbeherrschtheit getadelt und nicht lediglich als ein bloßer Fehler betrachtet358. Jedoch 352 Vgl. EN 1150b36.

353 Vgl. EN 1150b29-32, siehe auch EN 1150a21-22, sowie Broadies Kommentar in Aristotle/Rowe-Broadie (2006) S. 398 zu EN 1151a15-19:

„Compare VI.11. 1143a35-b5 […] He is explaining why, although the self-indulgent are in a way more rational than the uncontrolled, since their actions cohere with their convictions, they are less open to reform through criticism of their behaviour. It is because they act from conviction; conviction is grounded in character rather than the reverse (1151a13-14); and discussion cannot help change an unrepentant character. Cf. VI. 5, 1140b13-20; 12, 1144a31-6; X.9, 1179b4-18.“

354 Vgl. EN 1118b1-4 und EN 1118b24-25.

355 Vgl. EN 1119a16-120; EN 1119b4-7; EN 1119b15-18.

356 Vgl. EN 1145b30-1146a2-4.

357 Vgl. EN 1119a21-33.

358 Vgl. EN 1147b36-1148a5.

kann man mit dem Unbeherrschten eventuell Nachsicht (suggnw/mh) haben, da der Unbeherrschte eigentlich richtig handeln will, obwohl er von seinen Affekten und Begierden immer wieder besiegt wird359.

Zuletzt differenziert Aristoteles zwischen zwei Arten von Unbeherrschtheit, die nicht dasselbe Maß an Tadel bekommen sollten. Einerseits gibt es die Unbeherrschtheit aufgrund der Voreiligkeit und andererseits die aufgrund der Schwäche (a)krasi/aj de\ to\ me\n prope/teia to\ d

a)sqe/neia.360). Der unbeherrschte Voreilige handelt von einem schlechten Affekt erregt und ohne vorherige Überlegung. Der unbeherrschte Schwache überlegt und nimmt sich dann die richtige Handlung vor, nur fehlt ihm die nötige Kraft, um widrigen Affekten und Begierden zu widerstehen und seinem Vorsatz treu zu bleiben361.

Die Voreiligen sind für Aristoteles besser als die Schwachen zunächst deswegen, weil die Schwachen in der Realisierung ihres Vorsatzes von leichteren Affekten behindert werden als die Voreiligen, die von ihren Affekten zum Handeln ohne Überlegung getrieben werden362. Zum anderen deswegen, weil die Voreiligen leichter zu heilen sind als die Schwachen363. Das Heilen wird hier also wieder als entscheidendes 359 Vgl. EN.1145b30-32.

360 EN 1150b19.

361 Vgl. EN 1150b19-22. Dazu Aristotle/Burnet (1900) S. 321: „[…] In the case of the a)sqenei=j (o(\ me\n), bou/leusij is present, though not bou/lhsij, in the case of the propetei=j both are absent.“ Siehe auch EN 1152a18-19. Eine unüberlegte Handlung, d.h. eine Handlung aus dem Affekt, ist nicht notwendigerweise schlecht. Wenn ein Mensch von einem angemessenen Affekt geleitet wird, handelt richtig ohne Überlegung. Der gute Mensch empfindet die richtigen Affekte und handelt auch dann gut, wenn er vom Affekt geleitet wird.

Beim Beherrschten aber trifft dies nicht zu.

362 Vgl. EN 1151a1-3.

363 Siehe EN 1152a27-30. Hier enthält Wolfs Übersetzung (Aristoteles/Wolf (2006)) S. 241 einen kleinen Fehler, der für das richtige Verständnis des Textes von Bedeutung ist. Der griechische Text ist folgender: eu)iatote/ra de\ tw=n a)krasiw=n, h(\n oi( melagxolikoi\ a)krateu/ontai, tw=n

Merkmal gebraucht, um eine schlechte Disposition von einer schlechteren zu unterscheiden.

Durch den Vergleich der Unbeherrschtheit mit der Zügellosigkeit gewinnen wir einen tieferen Einblick in diejenigen Elemente, die einen Charakter tadelnswert machen. Wir sahen, dass ein Mensch mit einem schlechten Charakter zu tadeln ist, wenn er diesen Charakter freiwillig entwickelt hat und auch, wenn sein schlechter Charakter im Rahmen des Menschlichen und nicht des Bestialischen bleibt.

Nach diesem Vergleich finden wir in Bezug auf die Freiwilligkeit oder der

„eigenen Beteiligung“, dass nicht nur das Handeln gemäß dem Vorsatz als freiwillig gilt. Auch das Handeln gemäß den Begierden und Affekten ist freiwillig. Zügellose und Unbeherrschte handeln beide freiwillig und deshalb werden beide mit Recht getadelt. Für das Maß des Tadels ist jedoch die Qualität des Vorsatzes entscheidend, entscheidender sogar als die Qualität der Begierde und der Affekte: Der Zügellose handelt gemäß einem schlechten Vorsatz. Der Unbeherrschte handelt infolge schlechter Begierde und Affekte, sein Vorsatz ist jedoch nicht verdorben und kann sogar gut sein. Deswegen verdient der Unbeherrschte einen leichteren bouleuome/nwn me\n mh\ e)mmeno/ntwn de/, kai\ oi( di e)qismou=

a)kratei=j tw=n fusikw=n: r(a=|on ga\r e)/qoj metakinh=sai fu/sewj:

Wolf übersetzt so (meine Kursiven): „Leichter heilbar aber ist diejenige Form der Unbeherrschtheit, welche die Reizbaren aufweisen, also diejenigen, die zwar überlegen, aber nicht beim Ergebnis bleiben; ebenso sind die durch Gewohnheit unbeherrschten Menschen leichter heilbar als die, die das von Natur aus sind.

Die Gewohnheit lässt sich nämlich leichter in eine andere Richtung bewegen als die Natur.“ Sie sollte aber so übersetzen: „Leichter heilbar aber ist diejenige Form der Unbeherrschtheit, welche die Reizbaren aufweisen, als [die Form] derjenigen, die zwar überlegen aber nicht beim Ergebnis bleiben.“ Denn die Voreiligen (melagxolikoi/) sind gerade diejenigen, die nicht überlegen. Wie Wolf richtig vorher EN 1150b25-26 übersetzt hat: „Unbeherrscht im Sinn der voreiligen Unbeherrschtheit sind am meisten die zu heftigen Reaktionen neigenden (oxys) und reizbaren (melancholikos) Menschen.“ Vgl. Aristoteles/Wolf (2006) S. 236.

Ich vermute, dass aus Versehen ein „also“ anstatt eines „als“ im Text eingefügt wurde.

Tadel als der Zügellose. Diese Konklusion stimmt mit der EE überein, wo behauptet wird, die Beurteilung eines Menschen in Kategorien von Lob und Tadel sollte vor allem gemäß seinem Vorsatz erfolgen364.

Eng mit dem Vorsatz verbunden ist die Grundeinstellung der Person. Die Grundeinstellung des Zügellosen ist verdorben. Deshalb sind seine zügellosen Handlungen ein endgültiger Ausdruck der Verfassung seines Charakters. Beim Zügellosen besteht kein Konflikt zwischen dem Vorsatz einerseits und den Affekten und Begierden andererseits. Hingegen sind die schlechten Handlungen des Unbeherrschten kein definitiver Ausdruck seines Charakters, denn sie spiegeln nicht den inneren Konflikt des Zügellosen zwischen seinem guten Vorsatz und seinen übermäßigen Affekten und Begierden wider. Auch aufgrund ihrer verschiedenen Grundeinstellungen verdient der Zügellose einen härteren Tadel als der Unbeherrschte.

Inwiefern eine schlechte Handlung den eigenen Charakter zum Ausdruck bringt, ist also ebenfalls entscheidend für das Maß an Tadel, das eine Person verdient. Die Art der Grundeinstellung bestimmt auch die Heilbarkeit eines schlechten Charakters: Der Zügellose ist unheilbar, und der Unbeherrschte aus Schwäche ist schwieriger zu heilen als der Unbeherrschte aus Voreiligkeit bzw. aus heftigen Affekten und Begierden.

Zum Dritten muss auch die Genese der schlechten Grundeinstellung, sei es Zügellosigkeit, sei es Unbeherrschtheit, hinterfragt werden. Am Beispiel der Bestialität sahen wir, dass es nicht immer an uns bzw. an unseren Entscheidungen liegt, schlechte Dispositionen zu entwickeln.

364 e)/ti pa/ntaj e)painou=men kai\ ye/gomen ei)j th\n proai/resin ble/pontej ma=llon h)\ ei)j ta\ e)/rga: Vgl. EE 1228a11-13.

Die Frage nach der eigenen Beteiligung impliziert deshalb mindestens die hier erwähnten drei Aspekte: erstens das Handeln aus Vorsatz oder aus Begierden und Affekten, zweitens die Grundeinstellung und drittens die Genese der Grundeinstellung. Prinzipiell gilt, dass je mehr ein Mensch entsprechend diesen drei Aspekte an seinen hässlichen Handlungen beteiligt ist, desto verdient er einen härteren Tadel.

In Bezug auf das Menschliche und auf die besonderen Umstände, die uns bewegen, eine hässliche Handlung mit Nachsicht zu beurteilen, anstatt sie zu tadeln, will ich noch eine ergänzende Betrachtung anführen.

Der Nachsicht (suggnw/mh) sind wir bereits bei der Diskussion über die Gottähnlichkeit im vorherigen Abschnitt begegnet. Da behaupte ich, es gebe Situationen, in denen es die menschliche Fähigkeiten übersteigt das Nötige zu tun. In solchen Situationen zu scheitern ruft Nachsicht und keinen Tadel hervor. Es gibt aber auch Situationen, die zwar nicht die menschlichen Fähigkeiten übersteigen, sehr wohl aber die Fähigkeiten eines Unbeherrschten. Eine derartige Situation ist der Fall des Elpenor, eines der Begleiter des Odysseus:

Nach einem zwar angenehmen, aber nicht freiwilligen Aufenthalt bei der Göttin Kirke, befahl Odysseus den Gefährten den sofortigen Aufbruch. Als Elpenor, der vom Weine trunken auf einem Dach im Schatten schlief, das Getöse und den Lärm der Gefährten hörte und aufwachte, lief er betäubt hinunter, „sein Denken aber ließ vergessen“ durch die Steige herunter-zulaufen, und so stürzte er mit dem Kopf vom Dach herunter auf den Boden und starb365.

365 Vgl. Od. X, 552-559.

Diese Episode erlaubt zwei Interpretationen im Zusammenhang der Nachsicht und dem Tadel: Man kann Elpenor als unbeherrscht qualifizieren, weil er während des Aufenthaltes mehr als nötig zu trinken und zu essen pflegte. Andererseits bot die lange Zeit bei Kirke nichts außer täglichen Festmahlen mit Fleisch und süßem Wein im Übermaß.

Dazu noch war diese Gefangenschaft weder von Elpenor noch von den übrigen Gefährten gewollt. Und sie war auch keine Konsequenz ihres Handelns366. Einer solchen Lage ausgesetzt wäre es unangemessen, von einem Unbeherrschten zu erwarten, dass er anders als Elpenor handele.

Nachsicht und nicht Tadel wäre dann die angemessene Reaktion zu Elpenors unbeherrschten Handlungen367.

Eine dritte mögliche Interpretation besteht darin, Elpenor nicht einmal als unbeherrscht zu beurteilen, da er sich lediglich so verhalten hat, wie die meisten an seiner Stelle sich verhalten würden. Für Aristoteles sind die meisten Menschen weder beherrscht noch unbeherrscht, sondern stehen irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Dispositionen, obgleich sie in der Regel zur schlechteren Seite, zur Unbeherrschtheit tendieren368.

368 metacu\ d h( tw=n plei/stwn e(/cij, ka)\n ei) r(e/pousi ma=llon pro\j ta\j xei/rouj. EN 1150a15-16. „Die Disposition der meisten Menschen liegt dazwischen [Unbeherrschtheit bzw. Weichheit und Beherrschtheit bzw.

Beharrlichkeit FG], auch wenn sie mehr zum Schlechteren neigen.“ Übers.:

Aristoteles/Wolf (2006)

369 „Was nun Lust und Unlust durch Tasten und Schmecken sowie das entsprechende Begehren und Vermeiden betrifft, das wir zuvor als den Bereich der Unmäßigkeit und Mäßigkeit abgegrenzt haben, so kann jemand so verfasst sein, dass er dem unterliegt, dem die meisten Menschen überlegen sind; es kann aber jemand auch das beherrschen, dem die meisten unterlegen sind. In Bezug auf die Lust heißt der eine unbeherrscht, der andere beherrscht;“ EN 1150a9-14.

Übers.: Aristoteles/Wolf (2006) Für die gleiche Idee EN 1152a18-33 und Aristotle/Burnet (1900), S. 158 im Kommentar zu EN 1118b23, sowie EN 1125b16.

Unbeherrschten:

„Der Unbeherrschte gleicht ja denen, die schnell und von wenig Wein betrunken werden, das heißt von weniger Wein als die Mehrzahl.“ 370.

Es ist durchaus zu bezweifeln, dass die meisten, die sich in einer so langweiligen und frustrierenden Situation befinden, wie die, in der sich Elpenor befand, den Versuchung im Übermaß zu essen und zu trinken widerstehen könnten. Nach dieser Interpretation wären Elpenors Handlungen zwar hässlich, aber nicht tadelnswert und auch nicht die Handlungen eines Unbeherrschten, sondern die Handlungen eines normalen durchschnittlichen Menschen.

Zudem war Elpenor noch der jüngste unter den Gefährten und er war

„nicht eben besonders tapfer gegen den Feind, noch mit Verstande gesegnet“371. D.h. er war jung, hatte von Natur aus weder einen guten oder tapferen Charakter, noch war er klug. Alle diese Gegebenheiten sprechen für eine mildere Beurteilung von Elpenors hässlichen Handlungen. Denn die angemessene Erwartung, die wir im Hinblick auf das Gut und das Schlechthandeln einer Person haben, variiert je nach Alter, Erziehung und der körperlichen, charakterlichen und intellektuellen natürlichen Verfassung dieser Person. Um Elpenor vom Tadel loszusprechen, müssen wir nicht als Argument anführen, dass die meisten Menschen an seiner Stelle genau wie er handeln würden; es reicht, wenn wir zeigen, dass die meisten jungen und dummen Menschen in einer ähnlichen Situation ähnlich wie Elpenor handeln würden.

Die Idee der angemessenen Erwartung in Bezug auf das Gut- und

Die Idee der angemessenen Erwartung in Bezug auf das Gut- und

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