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Lob und Tadel bei Aristoteles

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Lob und Tadel bei Aristoteles

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.)

Vorgelegt von: Fernando Galindo Universität Konstanz

Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Philosophie

Konstanz 2013

(2)

mi vida.

(3)

o(/ti xalepa\ ta\ kala/.

fai/netai, h)=n d e)gw/.

Resp. 435b7-9.

Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas.

Ovidius. Ex ponto. III, 4, 79.

(4)

Inhaltsverzeichnis

I. Was sind Lob und Tadel?...6

1. Der Bereich des Lobens und Tadelns...7

2. Die Motive des Handelns...13

3. Die deliberative und die gerichtliche Redegattung...19

4. Die epideiktische Redegattung...27

4.1. Das epideiktische Genus...27

4.2. Die Objekte und die Ziele von Lob und Tadel...29

4.3. Das Tempus von Lob und Tadel...39

5. Tentative Definitionen von Lob und Tadel...47

II. Was ist lobenswert?...49

1. Das Lobenswerte und das Gutsein...49

1.1. Das Lobenswerte (to\ e)paineto/n): Versuch einer Definition ...50

1.2. Gut, schön und lobenswert...63

2. Über das Schöne (to\ kalo/n)...67

2.1. Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-b3: erster Annäherungsversuch...67

2.2. Schöne Handlungen...72

2.3. Die Distinktion a(plw=j / tini/ : warum das Schöne wählenswert ist...79

2.4 Das Gutsein ist nützlich und schön ...114

2.5 Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-34: zweiter Annäherungsversuch...120

3. Die Dreiteilung des Lobes...127

III. Was ist tadelnswert?...131

1. Das Schlechtsein...132

1.1. Das Schlechtsein als schlechter Zustand einer Disposition...132

1.2. Übermaß und Mangel...135

2. Das Hässliche (to\ ai)sxro/n)...140

2.1. Das Hässliche als Handeln gemäß dem Schlechtsein...141

2.2. Das Hässliche und das Umgehen mit den guten Dingen...143

2.3. Das Hässliche als Gleichgültigkeit gegenüber dem Schönen bzw. als Handeln unter die angemessene Erwartung ...146

3. Das Tadelnswerte (to\ ye/kton)...149

3.1. Das Bestialische und das Gottähnliche ...151

a) Das Bestialische...151

b) Die Gottähnlichkeit...156

3.2. Die Unbeherrschtheit...159

a) Die Unbeherrschtheit der körperlichen Lust (a)krasi/a a(plw=j) ...160

b) Unbeherrschtheit gegenüber nicht-körperlichen Lüsten ...173

3.3. Die Kriterien für das Zuteilen des Tadels...181

IV. Richtig loben und tadeln...185

1. Die Formen der Freiwilligkeit...186

1.1. Die Prinzipien des menschlichen Handelns...186

1.2. Das vorsätzliche Handeln...195

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a) Was ist der Vorsatz? ...195

b) Vorsatz und Charakter...202

1.3. Die alogischen Formen der Freiwilligkeit...205

a) Das sinnliche Begehren und seine Affekte...212

b) Der Thymos und seine Affekte...221

b.1.) Affekte des Thymos...225

1.4. Der Charakter und die Affekte...232

2. Die gemischten Handlungen...238

2.1. Gewalt ...238

2.2. Unwissenheit...245

3. Handlungen verstehen und richtig beurteilen ...252

3.1. Penelopes Skepsis: das Verstehen einer Handlung...252

3.2. Penelopes Handeln: die Beurteilung einer Handlung...256

3.3. Perspektive und Charakter des Beurteilenden beim Loben und beim Tadeln ...262

V. Die Wirkung von Lob und Tadel...269

1. Die Wirkung von Lob und Tadel in der Seele...271

1.1. Tadel und Scham...272

1.2. Fremdes Lob und Eifer ...278

2. Lob und Tadel in der Erziehung...284

2.1. Ziel und Elemente der Erziehung bei Aristoteles...284

2.2 Die Funktion von Lob und Tadel in der Erziehung...294

3. Lob und Tadel im Leben der Polis...300

3.1. Die Ehre und der gute Ruf: das Lob und der Tadel wie ein Spiegel...301

3.2 Die politische Tapferkeit...305

3.3. Lob und Tadel in der Politik...313

a) Der Schmeichler und der Demagoge...319

b) Lob, Tadel und Regierungsformen...323

VI. Abstrakt ...326

VI. Bibliographie...335

(6)

I. Was sind Lob und Tadel?

Eine zentrale Aufgabe der Philosophie besteht darin, verbreitete Meinungen bezüglich gewöhnlicher Erfahrungen zu überprüfen. Dies tut die Philosophie u.a., indem sie die aufklärerische Leistung sowie die Konsistenz oder Widersprüchlichkeit dieser Meinungen aufdeckt. Somit ist es eine wichtige Unternehmung der praktischen Philosophie, unser ethisches Vokabular zu analysieren, um besonders die Vernünftigkeit und Angemessenheit unserer praktischen, d.h. auf das Handeln bezogenen, evaluativen Konzepte zu testen. Zweifelsohne gehören Lob und Tadel zu diesem ethischen Vokabular. Die Begriffe „lobenswert“ und „tadelnswert“

benutzen wir häufig, um Handlungen, Haltungen und Personen zu beurteilen und zu kategorisieren. Die meisten von uns verstehen zumindest einigermaßen, was es heißt, jemanden zu loben oder zu tadeln;

jedoch ist es schwierig, genau zu bestimmen, was Lob und Tadel eigentlich sind. Zwar haben wir vage Vorstellungen und zahlreiche Intuitionen über die Grundlagen von Lob und Tadel. Wir wissen etwa, dass gelobt zu werden in der Regel angenehm ist, getadelt zu werden aber unangenehm. Dennoch ist es nicht leicht zu erklären, warum dies so ist und darüber hinaus, was genau das Lob und den Tadel ausmacht, worin ihre Wirkungen liegen und wie wichtig sie für die Gestaltung und Führung des eigenen Lebens sind. Ebenso ist es bekannt, dass Lob und Tadel in der Politik und in der Erziehung eine wichtige Rolle spielen. Über die Kriterien aber, die diese Rolle rechtfertigen, bleiben wir oft im Ungewissen. In dieser Arbeit versuche ich den m.E. wichtigsten Intuitionen in Bezug auf Lob und Tadel Rechnung zu tragen, indem ich von einer aristotelischen Perspektive aus systematisch fünf Fragen bezüglich Lob und Tadel angehe. Die Fragen lauten:

— Was sind Lob und Tadel?

— Was ist lobenswert?

— Was ist tadelnswert?

(7)

— Was bedeutet es richtig bzw. mit Recht zu loben oder tadeln?

— Wie wirken sich Lob und Tadel auf die Seele einer Person, in Erziehung und Politik aus?

Die ersten vier Fragen betreffen das Wesen von Lob und Tadel, die letzte Frage betrifft ihre Wirkung. Jeder der fünf Fragen widme ich jeweils ein Kapitel.

1. Der Bereich des Lobens und Tadelns

Ziel meines ersten Kapitels ist zu erörtern, was Lob und Tadel eigentlich sind. Die Antwort des Aristoteles ist in wichtigen Hinsichten anders als wir erwarten würden, vor allem weil er Lob und Tadel nicht in Verbindung mit der Moral und der moralischen Beurteilung sieht. Zwar wird für Aristoteles der Anwendungsbereich von Lob und Tadel in der praktischen Philosophie erörtert — d.h. in der Philosophie, die sich mit dem Charakter, den Handlungen und den Affekten der Menschen beschäftigt —, keineswegs aber in dem besonderen Bereich der praktischen Philosophie, den wir

„Moral“ nennen. In Bereich der Moral diskutieren wir über Pflichte und moralische Gründe, die unser Handeln in bestimmten Fällen beschränkt und in anderen leitet, jedoch unabhängig von unserem Wollen und unseren eigenen Interessen sind1. Anders als die aristotelische ethische 1 Vgl. Anscombe (1958); Long (2001), S. 30; Williams (1981), S. 250-251: „It is worth bringing together several features of Greek ethical thought which mark it off in may ways from current concerns and from the moral inheritance of the Christian world. It has, and needs, no God: though references to God or gods occur in these writers, they play no important role. It takes as central and primary questions of character, and of how moral considerations are grounded in human nature: it asks what life is rational for the individual to live. It makes no use of a blank categorical imperative. In fact ― though we have used the word 'moral' quite often for the sake of convenience ― this system of ideas basically lacks the concept of morality altogether, in the sense of a class of reasons or demands which are vitally different from other kinds of reason or demand." [...] Relatedly, there is not a rift between a world of public 'moral rules' and of private personal ideals: the questions of how one's relations to others are to be regulated, both in the context of society at large and more privately, are not detached from questions about the kind of life it is worth living, and of what is worth having or caring for.“ (Kursiven im Original). Bereits Pichard hat den Unterschied zwischen der aristotelischen Ethik und der modernen Moralphilosophie richtig begriffen vgl.

(8)

Konzeption bewegen sich die meisten gegenwärtigen Betrachtungen und Strömungen bezüglich Lob und Tadel hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, im Bereich der Moral. Es lohnt sich, zumindest kurz die Ursachen für diesen Unterschied zu besprechen.

Vor allem in der angelsächsischen Literatur sind Lob und Tadel etwa seit dem vergangenen Jahrhundert eine Nebenfrage innerhalb der Debatte über Determinismus und moralische Verantwortung2. Dieser Nebenfrage messen verschiedene Autoren mehr oder weniger Bedeutung zu; sie bleibt aber an die Diskussion über moralische Verantwortung und wichtiger noch an der Diskussion über Determinismus und Indeterminismus gebunden3. Besonders die Behandlung des Tadels ist meistens auf die Behandlung Pichard (1912), besonders S. 31-34. Irwin (1986) hat die Position von Williams als falsch kritisiert. Er behauptet, man darf mit Recht Aristoteles eine erkennbare Konzeption der moralischen Pflicht zuschreiben (a fairly recognizable concept of

„moral obligation“), vgl. Irwin (1986), S. 130. Auch Annas (1992) hat die Position von Williams als unbegründet kritisiert. In ihrer Kritik erwähnt sie aber leider weder den Aufsatz von Anscombe noch den von Phicard. Gauthier-Jolif vertreten vielleicht am Besten die These über die moralische Pflicht bei Aristoteles. Anhand einer Analyse des Substantives „to\ de/on“, des Verbes „dei=n“ und des Substantives „to\ kalo/n“ kommen sie zu dem Schluss, dass bei Aristoteles die Begriffe der moralischen Pflicht und der moralische Verpflichtung („le devoir“ und

„l᾽obligatoire“) bereits artikuliert sind. Sie verstehen „to\ de/on“ als die moralische Plicht („le devoir“) und „to\ kalo/n“ als das moralische Gute („le bien moral“). Siehe Aristoteles / Gauthier-Jolif (1970 bzw. 2002), II-2, S. 568-575.

Sie behaupten sogar (siehe S. 571), dass den Begriff der moralischen Pflicht zentral für Aristoteles ist: „Aristote a mis au centre même de sa morale l᾽idée distincte de «devoir» moral.“ In letzten Jahren hat Kraut die Position von Anscombe grundsätzlich verteidigt. Kraut hat allerdings auch eine von Anscombe formulierte und später von Williams artikulierte These kritisiert, die besagt, dass es zuträglich für die gegenwärtigen ethischen Diskussionen wäre, auf Begriffe wie der der moralischen Pflicht, der moralischen Schlechtigkeit und des moralischen Zwang zu verzichten. Vgl. Kraut (2006) besonders S. 163.

2 Ein entscheidender Impuls für diese Debatte war der Essay von William James „The Dilemma of Determinism“. Allerdings bezieht sich James in seinem Essay nicht auf die Lob und Tadel Problematik. Siehe James (1884).

3 Siehe z.B. Nowell-Smith (1948), S. 45: „If there is no freedom, there is no moral responsibility; for it would not be right to praise and blame a man for something that he could not help doing.“ Siehe auch Campbell (1951), MacIntyre (1957), Smart (1961) besonders S. 303-306. Das Behandeln des Tadels ausschließlich als eine Nebenfrage des Determinismus Problem wurde von Holborow richtig kritisiert, vgl. Holborow (1971), S. 85.

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des moralischen Tadels begrenzt und versteht den moralischen Tadel als die wichtigste Art des Tadels, das Lob dagegen hat weniger Aufmerksamkeit befunden4.

Auch in der Debatte über die Grundlagen der Moral geht Ernst Tugendhat so weit, dass er das Begriffspaar „Lob und Tadel“ konzeptuell trennt. Für ihn laufen die Begriffe von Lob und Tadel nicht parallel, etwa wie die Begriffe „gut“ und „schlecht“, sondern gehören zu verschiedenen Bereichen. Der Tadel gehöre ausschließlich zur Moral, das Lob nicht: Er definiert den Tadel als eine von Entrüstung begleitete Reaktion auf eine unmoralische Handlung. Der Tadel orientiere sich immer an moralischen Kategorien. Jemanden zu tadeln heißt, jemanden in moralischem Sinn zu tadeln5.

Eine derartige Überbetonung der Wichtigkeit des Tadels und die entsprechende Vernachlässigung des Lobes als ein zweitrangiges

4 Beardsley (1957, 1969 und 1970), Kenner (1967), S. 239, Squires (1968), Sher (2002, 2006), Arpaly - Schroeder (1999), Arpaly (2003, 2006). Beardsley (1957), S. 306 behauptet z.B., dass eine Handlung gegen eine moralische Regel stoßen muss, um tadelnswert zu sein sie erklärt aber nicht, ob jede Handlung, die der Moral konform ist, auch deswegen lobenswert ist. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht ist Cohen (1977). Er analysiert die Bedeutung von „Tadel“ (blame) und kommt zu dem Schluss, dass der moralische Tadel zwar eine besondere Art keineswegs aber die wichtigste Art des Tadels ist, deswegen ist die Moral nicht notwendigerweise das entscheidende Kriterium, um eine Handlung oder eine Person zu tadeln. Siehe Cohen (1977), S. 165-66. Auch Rountree (2001) in seinem Aufsatz über das epideiktische Genus findet kein Verständnis für Aristoteles Vorliebe für die Lobrede und seine entsprechende Vernachlässigung der Tadelrede.

5 Tugendhat E. (1993) S. 37. Wie Tugendhat argumentiert auch Holborow (1971) S. 89 für die konzeptuelle Trennung von Lob (praise) und Tadel (blame). Er behauptet, dass das Gegenteil des Tadels nicht das Lob sondern das Gewähren von Anerkennung (give credit) ist. Auch Smart (1961) S. 303 unterscheidet zwischen einer Bedeutung vom „Lob“, die das Gegenwort von „Tadel“ bildet und einer Bedeutung von „Lob“, die kein Gegenwort von „Tadel“ ist und er gibt Beispiele: „But when we praise a girl for her good looks this does not mean that we should have blamed her if her looks had been bad. When we praise one footballer for his brilliant run, we do not blame his unfortunate team mate who fumbled a pass.“ Für eine ähnliche Vorstellung siehe Brandt (1958), S. 8 Fn. 5.

Brandt behauptet, dass das Tadeln oft nicht eine Handlung, sondern einen mentalen Zustand bezeichnet.

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Phänomen ist symptomatisch für eine Sorge, die sowohl der Debatte über die Grundlage der Moral als auch die über den Determinismus und die Freiheit prägt: In beiden Debatten geht es nämlich um die Bewahrung der Moral als einem System von Pflichten und Rechten, die von allen Menschen beachtet werden müssen. Der Tadel ist eine von verschiedenen Sanktionen, vermittels deren man die Missachtung der moralischen Pflichten bestraft. Das Lob spielt innerhalb dieser moralischen Konzeptionen keine relevante Rolle.

Wie Tugendhat beschäftigt sich Daniel Robinson in seinem Buch über Lob und Tadel mit dem Problem der Grundlage der Moral. Als Verfechter einer objektivistischen Moral kommt er allerdings zu anderen Konklusionen als Tugendhat. Interessant an Robinsons Überlegung ist außerdem, dass er auch das Problem des Determinismus und der Freiwilligkeit analysiert. Robinsons Darstellung zeigt die zahlreichen Berührungspunkte zwischen diesen zwei wichtigen Themen6.

Ich bin überzeugt, dass die aristotelische Betrachtung bezüglich Lob und Tadel dank ihrer Originalität und Kohärenz diese zwei laufenden Diskussionen bereichern könnte. In der Philosophie des Aristoteles haben weder die moralische Verantwortung noch die moralischen Gründe einen Platz, zwei zentrale Begriffe für diese eng verbündeten Debatten. Für Aristoteles findet die Überlegung der praktischen Philosophie über den menschlichen Charakter, das menschliche Handeln und das menschliche Fühlen, außerhalb der Moral statt. Die Frage nach der Institution der Moral, nach ihrer Reichweite, ihren Grundlagen und ihrer Rechtfertigung, die so typisch von der modernen und gegenwärtigen Philosophie seit Kant ist, ist Aristoteles absolut fremd. Es ist deshalb ein Anachronismus, wenn wir über Moral bei Aristoteles — oder bei Platon — reden, zumindest solange wir unter Moral ein System von Pflichten und Rechten, Sanktionen und Belohnungen mit Anspruch auf universelle Gültigkeit 6 Robinson (2002) besonders Kapitel II und III.

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verstehen. In dieser Hinsicht stimme ich völlig mit der Meinung von E.

Anscombe, B. Williams und A. MacIntyre überein7.

Die immer noch laufende Auseinandersetzung über den Unterschied zwischen antiker Ethik — gemeint sind in erster Linie die Ethiken des Sokrates, Platon und Aristoteles — und modernen Formen oder Systemen der Moral ist sehr komplex und enorm interessant. Meine Zusammenfassung hier wird ihrem Reichtum natürlich nicht gerecht. Es scheint jedoch klar, dass die Grundfrage der antiken Ethik nicht mit den Grundfragen der modernen moralischen Systeme übereinstimmt8. So lautet die Frage, die die Untersuchungen der antiken Ethik leitet, nicht etwa „was soll oder muss ich tun?“, mit ihren zahlreichen Variationen, wie

„Wofür bin, ich verantwortlich?“, „Worin liegt meine Pflicht?“, „Welche Handlung ist moralisch in Ordnung?“ oder „Warum muss ich moralisch leben?“. Vielmehr fragt die antike Ethik, welche Lebensweise mehr Glück verspricht bzw. wie ich als Mensch glücklich werden kann, und dies unabhängig von gängigen Konventionen oder theologischen Vorstellungen9.

Das Glück ist das Hauptziel der antiken Ethik. Die Grundfrage nach dem Glück ist eine Frage der Klugheit und nicht der Moral: Eine Lebensweise ist demgemäß nur zu empfehlen, wenn sie uns zum persönlichen Glück führt, ungeachtet der herrschenden Moral und der gültigen Gesetze, d.h.

ungeachtet der formellen und informellen Normativität. Freilich gibt es Lebensweisen und Handlungen, die für die antike Ethik empfehlenswert sind und gleichwohl mit unseren herrschenden gegenwärtigen moralischen Vorstellungen harmonieren. Im nächsten Kapitel werden wir

7 Anscombe (1958), Williams (1986) Kapiteln 1 und 10, und A. MacIntyre (1981) Kapitel 4.

8 Vgl. Gill (2004) S. 1-11 und Gill (2005) S. 16-40 für einen historischen Überblick der Debatte bezüglich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der antiken Ethik und der modernen Moralphilosophie.

9 Vgl. Long (2001), dessen Überlegung stark auf Williams aufbaut.

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z.B. sehen, dass jede schöne Handlung dem entspricht, was die meisten gegenwärtigen moralischen Konzeptionen „moralische Handlung“ nennen.

Und trotzdem entsprechen viele moralischen Handlungen nicht dem, was Aristoteles unter schönen Handlungen versteht. Und was eine schöne Handlung ausmacht, ist nicht, dass sie der Moral bzw. einer moralischen Konzeption konform ist.

Aristoteles macht sich also als Erbe der sokratischen Tradition keine Gedanken über die Moral. Die Moral liefert deshalb für Aristoteles keine Handlungsgründe. Wenn Lob und Tadel eine bestimmte Überzeugungskraft besitzen, entsteht diese Kraft nicht aus der Moral. Für Tugendhat besteht etwa die Motivationskraft des Tadels gerade darin, dass der Getadelte als moralisch schlecht bezeichnet wird, und diese Bezeichnung für die Identität des Getadelten und für die Verfolgung seiner eigenen Interessen schädlich ist. Aristoteles scheint mir aber eine derartige Erklärung auszuschließen. Vielmehr situiert Aristoteles Lob und Tadel in einer direkten Beziehung mit Konzepten, die für ihn doch nicht- moralische Handlungsgründe liefern. Um die Motivationskraft von Lob und Tadel zu verstehen, müssen wir deshalb diese Konzepte analysieren.

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2. Die Motive des Handelns

Aristoteles erkennt in der EN drei positive Motive des menschlichen Handelns an, jeweils mit den entsprechenden negativen Motiven:

„Nach drei Dingen richtet sich also das Wählen und nach drei das Vermeiden: Das Schöne, das Nützliche und das Lustvolle; und ihren jeweiligen Gegensätzen, das Hässliche, das Schädlichen und das Schmerzvolle, über alle diese Dinge also ist der gute Mensch jemand, der richtig entscheidet, der schlechte Mensch aber jemand, der falsch entscheidet, am meisten gilt dies im Hinblick auf die Lust.“10

Aus jeweils einer positiven und einer negativen Motivation bildet Aristoteles also drei konzeptuelle Paare: Das Schöne und das Hässliche, das Nützliche und das Schädliche, und das Lust- und das Schmerzvolle.

Um wirksam zu sein, müssen das Lob und der Tadel sich auf diese drei konzeptuellen Paare beziehen, entweder auf alle sechs oder auf einige von ihnen. Infolge dieser Idee könnten wir das Lob als eine sprachliche Handlung definieren, die etwas als gut — weil schön oder nützlich oder lustvoll — bezeichnet. Analog könnten wir den Tadel als eine sprachliche Handlung definieren, die etwas als schlecht — weil hässlich oder schädlich oder schmerzvoll — qualifiziert. Diese vorläufigen Definitionen werde ich überprüfen und verfeinern, um erstens herauszufinden, was genau die erwähnten konzeptuellen Paare für Aristoteles bedeuten, zweitens, wie genau das Lob und der Tadel sich auf diese Paare beziehen.

Für die Beantwortung beider Fragen reicht jedoch eine Analyse der EN nicht aus. Zwar werden in der EN verschiedene Lebensweisen erwähnt,

10 triw=n ga\r o)/ntwn tw=n ei)j ta\j ai(re/seij kai\ triw=n tw=n ei)j ta\j fuga/j, kalou= sumfe/rontoj h(de/oj, kai\ ?triw=n? tw=n e)nanti/wn, ai)sxrou= blaberou= luphrou=, peri\ tau=ta me\n pa/nta o( a)gaqo\j katorqwtiko/j e)stin o( de\ kako\j a(marthtiko/j, ma/lista de\ peri\ th\n h(donh/n: EN. 1104b30-32. Ich erlaube mir hier das originale Zitat anzuführen, weil es für meine ganze Arbeit zentral ist. Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Griechischen von mir.

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die jeweils nach der Lust, dem Nutzen oder dem Schönen streben11. Es wird auch ihre Zuträglichkeit für das eigene Glück diskutiert: Das Leben nach der Lust wird kritisch analysiert12; das Leben nach dem Nutzen wird durch das Streben nach dem Reichtum exemplifiziert13, und das Leben nach dem Schönen wird durch das Streben nach der Ehre, nach dem ethischen Gutsein illustriert14. Trotzdem werden die drei konzeptuellen Paare nirgendwo ausführlich thematisiert. Die ausführlichste Behandlung dieser konzeptuellen Paare findet sich weder in EE noch in EN, sondern in der Rhetorik (Rhet.). In diesem Werk wird jedes konzeptuelle Paar jeweils im Rahmen einer Redegattung diskutiert:

Das Nützliche und das Schädliche werden in Bezug auf die beratend- deliberative Rede expliziert15; das Schöne und das Hässliche in Bezug auf die epideiktische Rede16; und das Lust- und Schmerzvolle in Bezug auf die gerichtliche Rede17. Auf diese Korrespondenz wird leider, so weit mir bekannt ist, weder in der Forschung über die aristotelischen Ethiken noch in der über Rhetorik aufmerksam gemacht18. Gerade in Bezug auf das Thema Lob und Tadel ist es jedoch interessant zu betrachten, warum

11 Vgl. EN I 3.

12 Vgl. EN VII 12-15 und EN X 1-5.

13 Vgl. EN I 3, 1096a5-7.

14 Vgl. EN 1095b22-31.

15 Vgl. Rhet I 6.

16 Vgl. Rhet I 9.

17 Vgl. Rhet I 10-11.

18 Viele Kommentatoren betonen die Verbindung zwischen Aristoteles ethischen Schriften und seiner Rhetorik, jedoch übersehen sie die Korrespondenz zwischen den drei konzeptuellen Paaren und den drei Geni der Rethorik. Siehe z.B.

Grimaldi (1958), Garver (1986,1996), Irwin (1986), S. 135, Nichols (1987), Oksenberg Rorty (1992), Rigotti (1995), S. 247-48, Hauser (1995) viii-xi, Halliwell (1994), Cooper (1999) Kapitel 18, S. 397, Oates (1974). Oates übersieht diese Korrespondenz mit verherrlichen Konsequenzen. Er wirft Aristoteles vor, in seiner Rhetorik eine „Doppelmoral“ anzuwenden, — siehe Oates (1974) S. 109 — und empört sich sogar, weil Aristoteles in seiner Rhetorik die Lust als ein wirkungsvolles Überredungsmittel bestimmt. Siehe Oates (1974), S. 112.

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Aristoteles ausgerechnet in der Rhet. und nicht in den ethischen Werken diese drei konzeptuellen Paare am gründlichsten behandelt hat.

Wie schon gesagt wurde, beschäftigen sich die ethischen Werke mit der Frage nach dem Glück bzw. nach dem gelungenen Leben. Die EE beginnt mit der Behauptung, das Glück (eu)daimoni/a) sei das Schönste, Beste und Lustvollste überhaupt, und fragt gleich danach, worin denn das gute Leben bestehe und wie man es erwerben könne19. Als eine Suche nach dem höchsten menschlichen Gut hat Aristoteles auch die EN gestaltet.

Dieses höchste Gut ist entweder das Glück oder steht in einer engen Beziehung zum Glück20. Diese zwei Aussagen zeigen, dass für das Erkenntnisziel der ethischen Werke das Interesse an der begrifflichen Konstellation der drei Paare nur marginal ist. Die drei Paare sind in diesen Werken nur insofern relevant, als sie zum Glück führend sind. Deswegen wird das Paar des Nützlichen und Schädlichen von den ethischen Überlegungen prinzipiell ausgeschlossen, da alles, was nützlich ist, lediglich instrumentell gut ist, d.h. lediglich als Mittel zu einem anderen Zweck gut ist. Das Glück ist aber nicht instrumentell gut, sondern als solches gut. Und die Dinge, die mit größter Wahrscheinlichkeit zum Glück führen — wie Ehre, politische Macht, Weisheit und Lust — sind nicht nur instrumentell gut — wie der Reichtum —, sondern sowohl instrumentell als auch als solche gut. Wenn Aristoteles sich daher am Anfang der EE fragt, welches Leben als glücklich zu qualifizieren sei, nennt er als mögliche Antworten das Leben gemäß der praktischen Weisheit, das Leben gemäß dem charakterlichen Gutsein und das Leben gemäß der Lust. Diese drei 19 Vgl. EE 1214a7-10.

20 Vgl. EN. I. Kenny sieht einen bedeutenden Unterschied zwischen dem Ausgangspunkt der EE und dem der EN bzw. zwischen der Eröffnungsfrage in EE nach dem menschlichen Glück und der Eröffnungsfrage in EN nach dem höchsten menschlichen Gut, vgl. Kenny (1992) S. 4-15. Deswegen, wenn Aristoteles sich am Anfang der EE fragt, welches Leben als glücklich zu qualifizieren sei, nennt er als mögliche Antworten das Leben nach der praktischen Weisheit, das Leben nach dem charakterlichen Gutsein und das Leben nach der Lust. Diese drei Arten von Leben sind sowohl als solche als auch ihrer Konsequenzen wegen gut. Vgl. EE. 1213b30-33.

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Arten von Leben sind sowohl als solche als auch ihrer Konsequenzen wegen gut21. Ähnlich werden am Anfang der EN das politische, das theoretische bzw. philosophische und das Leben nach der körperlichen Lust als Lebensweisen genannt, in denen mit größerer Wahrscheinlichkeit das Glück und das höchste menschliche Gut zu finden sind. Das Leben gemäß dem Reichtum wird dagegen ohne weiteres ausgeschlossen22. Im Kontrast mit den ethischen Werken ist es das ausgesprochene Ziel der Rhet. herauszufinden, wie eine Überzeugung in der Hörerschaft zu erzeugen ist23. Für dieses Ziel ist eine detaillierte Behandlung des begrifflichen Netzes zentral. Denn es geschieht im Hinblick auf diese drei begrifflichen Paare, dass die Überzeugung geschaffen wird. In diesem Sinne definiert z.B. Grimaldi die Rhetorik:

„Rhetoric in Aristotle’s definition (1355b25-26; see also b 10 ff.) is called a dúnamis, faculty or power , to apprehend the „possibly suasive“ (sic) within any subject, i.e.,those elements within any given subject which are likely to bring about in an audience the state of mind which is open to the speaker’s proposition.“24.

Das Schöne und das Schändliche, das Nützliche und das Schädliche und das Lustvolle und das Schmerzvolle sind eben die Elemente, die die Überzeugung in der Hörerschaft erzeugen. Um zu überzeugen, reicht es deshalb für den Rhetoriker aus, auf diese Elemente hinzuweisen. Er muss die vermeintliche oder tatsächliche Verbindung zwischen diesen Elementen und dem eigenen Glück nicht beweisen. Diese Idee steht in Übereinstimmung mit der vorläufigen Definition von Lob und Tadel, die ich gegeben habe: Etwas zu loben bedeutet grundsätzlich, es als gut zu bezeichnen. Dann lobt der Rhetoriker etwas mit Recht, wenn er zeigt,

21 Vgl. EE. 1213b30-33.

22 Vgl. EN. 1095b14-24.

23 Vgl. Rhet. 1391b8-18, Rhet. 1355a14-26, Rhet. 1355b8-14, Rhet. 1356a15ff.;

Rhet. 1377b21, Rhet. 1402b31ff, Rhet.1355a4ff, 1355b26ff; Vgl. auch Grimaldi (1958) S. 373-374 und Rorty (1992) S.63.

24 Grimaldi (1958) S. 375. Fn. 11.

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dass es entweder schön oder nützlich oder lustvoll ist25. In entsprechender Weise tadelt er etwas mit Recht, wenn er zeigt, dass es hässlich oder schädlich oder schmerzvoll ist.

Allerdings bezieht Aristoteles gerade in Rhet. das Lob und den Tadel ausdrücklich und ausschließlich auf das Schöne resp. das Hässliche und nicht auf die anderen zwei begrifflichen Paare. Dies bedeutet aber, dass die vorgeschlagenen Definitionen von Lob und Tadel falsch oder zumindest ungenau sind. Es scheint, dass für Aristoteles nicht alles, was gut ist, deswegen auch Lob verdient. Und nicht alles, was schlecht ist, deswegen auch getadelt werden muss. Um die Grundintuitionen der vorgeschlagenen Definitionen von Lob und Tadel dennoch zu bewahren — alles Gute verdient das Lob, alles Schlechte den Tadel —, wäre die einzige Alternative zu behaupten, dass weder das Nützliche und Lustvolle gut noch das Schädliche und Schmerzvolle schlecht sind. Dies ist aber offensichtlich absurd: Wenn die Menschen aufgrund des Nutzens oder der Lust handeln, verfolgen sie selbstverständlich etwas Gutes für sie selbst.

Und wenn sie versuchen, etwas Schädliches oder Schmerzvolles zu vermeiden, fliehen sie auch offensichtlich vor etwas Schlechtem für sie selbst26.

Wir brauchen also eine andere, genauere Definition von Lob und Tadel.

Die Analyse der epideiktischen Redegattung, wie sie in Rhet. vorgeführt wird, scheint mir der beste Ausgangspunkt auf dem Weg zu einer besseren Definition von Lob und Tadel. Denn für diese Redegattung sind, 25 Die Frage, wie diese drei Attribute mit dem „Gut“ zusammenhängen, bespreche ich in das zweite Kapitel.

26 Vgl. EN 1104b30-32., auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 447: „nach welchen Dingen man strebt (o)rego/menoi) und was für Dinge man zu vermeiden (feu/gontes) sucht“ (Rhet. 1368b28-29): Gemeint ist eine positive und eine negative Form des Strebens.“ Siehe auch Rhet 1369a3-4: „keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei“. Übers.:

Aristoteles/Rapp (2002) B1. S. 51-52. Vgl. auch Rapps Kommentar dazu:

Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 450, wo er EE II 7, 1223b f. in seiner Übersetzung zitiert: „keiner aber will (bou/letai), was er für ein Übel hält“.

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wie gesagt, sowohl das Lob und der Tadel als auch das Schöne und das Hässliche wesentlich. Um die Einzigartigkeit der epideiktischen Rede besser zu begreifen, empfiehlt es sich als eine kluge Strategie auch hier, die epideiktische Rede im Zusammenhang mit den übrigen Redegattungen — der beratend bzw. der deliberativen Rede und der gerichtlichen Rede — zu betrachten. Diese Strategie wird uns auch helfen zu verstehen, weshalb Aristoteles das Nützliche und das Lustvolle auf der einen Seite, sowie das Schädliche und das Schmerzvolle auf der anderen Seite von Lob und Tadel ausschließt. Zunächst werde ich die Elemente der deliberativen und der gerichtlichen Redegattungen vorstellen und besprechen. Sobald diese Elemente expliziert worden sind, wird es für uns einfacher sein, die Eigentümlichkeit der epideiktischen Redegattung zu begreifen und daraus eine bessere Definition des Lobes und Tadels zu erarbeiten.

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3. Die deliberative und die gerichtliche Redegattung

In Rhet. I 3. behauptet Aristoteles, dass jede partikuläre Rede unabhängig von ihrer jeweiligen Redegattung aus drei Elementen bestehe: Dem Redner, das, worüber er redet, (peri\ ou=( le/gei) d.h. das Objekt oder Thema der Rede und dem Adressaten der Rede. Aristoteles fügt hinzu, das spezifische Ziel (te/loj) einer partikulären Rede entscheide sich im Hinblick auf den jeweiligen Adressaten27. Außerdem gehöre zu jeder Redegattung — und folgerichtig zu jeder partikulären Rede innerhalb einer Redegattung — ein spezifisches Tempus: Zur deliberativen Redegattung gehört die Zukunft; zur gerichtlichen Redegattung die Vergangenheit; und zur epideiktischen Redegattung die Gegenwart28. Besonders wichtig für die Bestimmung einer Redegattung und zugleich besonders problematisch ist der Begriff des Zieles. Aristoteles nennt die spezifischen Ziele jeder Redegattung. Die Ziele, die zur Gattung der deliberativen Rede gehören, sind das Nützliche (to\ sumfe/ron) und das Schädliche (to\

blabero/n); die Ziele der gerichtlichen Redegattung sind das Gerechte (to\ di/kaion) und das Ungerechte (to\ a)/dikon). Und die Ziele der epideiktischen Redegattung sind das Schöne (to\ kalo/n) und das Hässliche (to\ ai)sxro/n)29.

Im Hinblick auf diese Klassifikation dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass Aristoteles hier unter „Ziel“ nicht den jeweiligen Endzweck 27 su/gkeitai me\n ga\r e)k triw=n o( lo/goj, e)/k te tou= le/gontoj kai\ peri\ ou(= le/gei kai\ pro\j o(/n, kai\ to\ te/loj pro\j tou=to/n e)stin, le/gw de\ to\n a)kroath/n. Rhet. I, 3 1358a37-1358b2. „Aus dreierlei nämlich ist eine Rede zusammengesetzt: aus einem Redner, dem Gegenstand, über den er redet und demjenigen, zu dem er redet; und das Ziel bezieht sich auf diesen Letzteren, ich meine den Hörer.“

28 Vgl. Rhet. 1358b13-20.

29 Vgl. Rhet. 1358b20-29.

(20)

einer Redegattung versteht. Dies scheint mir aus zwei Gründen klar:

Zum einen haben alle drei Redegattungen letztendlich einen gleichen Endzweck, nämlich die Hörerschaft zu überzeugen. Zum anderen ist es absurd anzunehmen, dass ein Redner mit einer spezifischen Rede zwei entgegengesetzte Ziele verfolgen kann. Ein Redner will nicht z.B. seine Hörerschaft davon überzeugen, dass eine bestimmte Handlung bzw.

Entscheidung gleichzeitig und unter derselben Perspektive nützlich und schädlich ist. Insofern zielt der Redner bei der deliberativen Redegattung nicht gleichzeitig auf das Nützliche und das Schädliche. Dasselbe gilt für die zwei anderen konzeptuellen Paare, die Ziele der anderen Redegattungen sind. Wie aber ist dann der Begriff von Ziel zu interpretieren? Dieser Begriff des Zieles und die einzelnen erwähnten Ziele werden am besten im Zusammenhang mit den Elementen ihrer eigenen Redegattung verständlich. Fangen wir also mit der deliberativen Rede an.

Die deliberative Redegattung besteht aus zwei Arten von Sprachhandlungen — das Zuraten (h( protroph/) und das Abraten (h( a)potroph/)30. Beide Sprachhandlungen schließt Aristoteles unter dem Namen „sumbouleutiko/n“ zusammen. Dieses Wort wird aus dem Substantiv sumboulh/ („Beratung“ oder „Deliberation“) oder aus dem Verb sumbouleu/w („beraten“, „beratschlagen“) abgeleitet. Zu deliberieren impliziert deshalb Gründe vorzubringen, die für und gegen etwas sprechen. Es fehlt noch die Bestimmung des Themas und des Ortes der deliberativen Reden.

Die deliberativen Reden finden in der Volksversammlung statt. Die

30 Vgl. Rhet. 1358b8-10.

(21)

Adressaten der deliberativen Reden sind die Mitglieder der Volksversammlung. In der antiken athenischen Demokratie wurden die wichtigsten politischen Entscheidungen durch Abstimmung der Bürger in der Volksversammlung getroffen. Bei jedem Entscheidungsprozess versuchten verschiedene Redner, die übrigen Bürger für die eigene Ansicht zu gewinnen, bevor es zur Stimmabgabe kam. Prinzipiell konnte jeder Bürger seine Meinung äußern, um einen bestimmten Handlungskurs vorzuschlagen bzw. einen Plan oder einen Rat anzubieten. Die Redner konnten auch Vorschläge anderer Redner kritisieren31. Die deliberative Redegattung besteht, wie gesagt, aus dem Zuraten (h( protroph/) und dem Abraten (h( a)potroph/). Ziel des Zuratens ist zu zeigen, worin das Nützliche (to\ sumfe/ron) für die Polis liegt bzw., welche Entscheidung die beste für die Interessen der Polis ist. Ziel des Abratens ist dagegen zu zeigen, welche Handlungen zu vermeiden sind oder anders formuliert, worin das Schädliche (to\ blabero/n) für die Polis liegt32.

Das Nützliche und das Schädliche sind die Ziele der Deliberation, weil vermittels der Deliberation die Bürger bestimmen wollen, was schädlich und was nützlich für die Polis ist. Das Nützliche und das Schädliche sind die Kriterien für die Evaluierung jeden Rates. Sie sind die Orientierungspunkte für die Argumentation der Redner. Aristoteles betont, dass andere Kriterien, wie das Schöne oder das Gerechte, keinen Platz in der Deliberation finden sollten33. Die Redegattung der Deliberation hat also zwei Orientierungspunkte, das Nützliche und das Schädliche, die Aristoteles „Ziele“ nennt. Der Redner in der Volksversammlung will keinen Vortrag über die Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit halten.

31 Über die athenische Volksversammlung siehe Hansen (1995) S. 128-153.

Man muss aber merken, dass Hansen die epideiktische Rede irrtümlicherweise als Prunkrede versteht, vgl. Idem. 147. Siehe über die athenische Volksversammlung auch Aristoteles/Rapp (2002) B1. S.197-204.

32 Vgl. Rhet. 1358b20-25.

33 Vgl. Rhet. 1358b29-37.

(22)

Vielmehr will er überzeugend dafür plädieren, dass sein spezifischer Vorschlag das Beste im Hinblick auf die Verfolgung des Nützlichen ist und zugleich, dass die anderen Vorschläge schädlich sind. Ungeachtet dieser Orientierungspunkte ist es das eigentliche Ziel des Redners, die Volksversammlung für seine Ansicht zu gewinnen.

Bezüglich der Zeit beziehen sich die deliberativen Reden auf die Zukunft.

Die Mitglieder der Volksversammlung entscheiden wörtlich „über zukünftige Dinge“ (o( me\n peri\ tw=n mello/ntwn kri/nwn o( e)kklhsiasth/j) und diskutieren über „das Mögliche“ (ta\ dunata/), d.h. über mögliche Handlungsverläufe für die Zukunft34. Über die Vergangenheit und über das, was unmöglich ist, gibt es keine Deliberation35. Die Bürger wollen z.B. entscheiden, ob sie die Grenznachbarn in die Sklaverei führen sollen. Und im Hinblick auf diese Frage geben die Redner ihren Rat. So viel müssen wir über die deliberative Rede wissen. Kommen wir als Nächstes zur gerichtlichen Redegattung.

Die gerichtliche Redegattung nennt Aristoteles „to\ dikaniko/n“36. Mit dieser Bezeichnung bezieht sich Aristoteles auf das Substantiv

„h( di/kh“. Dieses Wort bedeutet u.a. „der gerichtliche Prozess“. Zur gerichtlichen Redegattung gehören die Reden der streitenden Parteien vor Gericht. Die Adressaten der gerichtlichen Reden sind die Richter. Zeitlich orientieren sich die Reden der streitenden Parteien auf die Vergangenheit.

Denn der Angeklagte wird wegen seiner Taten angeklagt und diese Taten liegen notwendigerweise in der Vergangenheit. Zu einem gerichtlichen Prozess gehören demgemäß die Anklage (h( kathgori/a) und die 34 Vgl. Rhet. I 3, 1358b4-5.

35 Vgl. u.ä. Rhet. I, 3 1359a11-16.

36 Vgl. Rhet. 1358b7.

(23)

Verteidigung (h( a)pologi/a). Ähnlich wie beim Zu- und Abraten werden auch beim Anklagen und Verteidigen Gründe vorgebracht. Jedoch richten sie sich jeweils nach völlig verschiedenen Kriterien und behandeln jeweils völlig verschiedene Objekte: Beim Gericht geht es nicht um das Empfehlen oder das Abraten von zukünftigen Handlungsabläufe, sondern um die Beurteilung vergangener Taten. Und das Getane wird nicht gemäß der Nützlichkeit oder der Schädlichkeit beurteilt, sondern gemäß der Gerechtigkeit und der Ungerechtigkeit. Die Ziele oder Orientierungspunkte der gerichtlichen Reden sind deshalb das Gerechte (to\ di/kaion) und das Ungerechte (to\ a)/dikon)37.

In Rhet I 10. analysiert Aristoteles im Detail die Art und Weise, in der der Ankläger und der Verteidiger ihre jeweilige Rechtssache aufbauen müssen. Hier ist es angebracht, auf die Gründe des unrechten Handelns aufmerksam zu machen.

Unrechttun bedeutet, jemandem absichtlich und gegen das Gesetz Schaden zuzufügen38. Um die Absichtlichkeit der schädlichen Handlung zu beweisen, muss der Ankläger zeigen, dass es sich für den Angeklagten lohnte, die unrechte Tat zu begehen. Dagegen muss der Verteidiger beweisen, dass der Angeklagte von der unrechten Tat nicht profitiert hat, um die Absichtlichkeit der Tat zu bestreiten. Für Ankläger und Verteidiger ist es deshalb in gleicher Weise von enormer Bedeutung, diejenigen Gründe zu kennen, die die Menschen zum unrechten Handeln motivieren, wie Aristoteles feststellt:

„Zuerst lass uns unterscheiden, nach welchen Dingen diejenigen streben, die zum Unrechttun greifen; und [lass uns auch unterscheiden], wie beschaffen die Dinge sind, die sie vermeiden, indem sie zum Unrechttun greifen. Denn offenbar ist es für den Ankläger notwendig zu betrachten, wie und auf welche Weise 37 Vgl. Rhet. 1358b10-11, 1358b15-17, 1358b25-27.

38 Vgl. Rhet. 1368b6-7.

(24)

diejenigen Motive im Angeklagten zu finden sind, aufgrund deren alle Menschen sich anreizen lassen, um ihren Nächsten Unrecht zuzufügen. Für den Verteidiger ist es dagegen notwendig zu betrachten, wie und auf welche Weise [zu beweisen ist], dass diese Motive im Angeklagten nicht zu finden sind.“39

Aristoteles formuliert die Frage nach den Motiven des Unrechthandelns in Rhet. I 10. Und in Rhet. I 11. macht er eine ausführliche Analyse der Lust und der Dinge, die normalerweise Lust verursachen als Motive des Unrechthandelns. Die Verfolgung der Lust und das Vermeiden des Schmerzes sind die gewöhnlichsten Motive hinter einer unrechten Tat und nicht das Nützliche und das Schädliche. Denn gerade eine Person, die häufig Unrecht tut, bestimmt das Nützliche und Schädliche gemäß der Lust und dem Schmerz. Sie sieht nämlich als nützlich an, was Mittel zur Lust ist und als schädlich, was zum Schmerz führt. In Rhet. I 1369a9 bringt Aristoteles ein Paradebeispiel, das für diese Idee spricht. Bezüglich der Zügellosen, d.h. Menschen, die das Verfolgen der körperlichen Lust über alles stellen, behauptet Aristoteles:

„Manchmal tun nämlich auch die Zügellosen nützliche Handlungen.

Allerdings tun sie diese nützlichen Handlungen nicht um des Nützlichseins (to\ sumfe/rein), sondern um der Lust willen.“40

Die Lust als Hauptursache des Unrechttuns wird auch in EN suggeriert.

Gemäß der EN ist es nämlich ein Merkmal des schlechten Menschen aufgrund der Lust falsch zu handeln:

„Nach drei Dingen richtet sich also das Wählen und nach drei Dingen das Vermeiden: nach dem Schönen, dem Nützlichen und dem Lustvollen; und ihren jeweiligen Gegensätzen, dem Hässlichen, dem

39 Rhet. I 10, 1368b28-32. Ich lasse hier den Text auf Original, weil es nicht so leicht zu übersetzen ist: prw=ton me\n ou)=n dielw/meqa ti/nwn o)rego/menoi kai\ poi=a feu/gontej e)gxeirou=sin a)dikei=n:

dh=lon ga\r w(j tw=| me\n kathgorou=nti po/sa kai\ poi=a tou/twn u(pa/rxei tw=| a)ntidi/k% skepte/on, w(=n e)fie/menoi pa/ntej tou\j plhsi/on a)dikou=si, tw=| de\ a)pologoume/n% poi=a kai\ po/sa tou/twn ou)x u(pa/rxei.

40 Rhet. 1369a9-11.

(25)

Schädlichen und dem Schmerzvollen. Über alle diese Dinge also ist der gute Mensch jemand, der richtig entscheidet, der schlechte Mensch aber jemand, der falsch entscheidet. Vor allem gilt dies im Hinblick auf die Lust.“41

Warum ist aber die Beziehung der Lust zu der Ungerechtigkeit von Bedeutung für das Thema Lob und Tadel? Die Antwort ist, dass für das richtige Zuteilen von Lob oder Tadel sowohl der Umgang mit der Lust und dem Schmerz als auch das Handeln gemäß der Gerechtigkeit oder das Handeln gemäß der Ungerechtigkeit von entscheidender Bedeutung sind.

Im Bereich des Lobens ist es ein Hauptmerkmal des guten Menschen, dass er richtig mit Lüsten und Schmerzen umzugehen vermag. Und diese Haltung des guten Menschen gegenüber der Lust ist im höchsten Maße lobenswert. Auch die Gerechtigkeit ist für Aristoteles besonders lobenswert, weil sie als solche und ihrer Konsequenzen wegen gut ist.

Wir werden im nächsten Kapitel sehen, dass die Gerechtigkeit zu den schönen Dingen gezählt wird, gerade weil sie sowohl als solche als auch ihrer Konsequenzen wegen gut ist. Demgemäß werden wir beim Besprechen des Tadels im dritten Kapitel sehen, dass die Haltung der Zügellosen gegenüber der Lust bzw. dem Schmerz höchst tadelnswert ist und dass die Ungerechtigkeit ebenso mit Recht getadelt wird.

Darüber hinaus stehen das Lust- und das Schmerzvolle als Handlungsgründe oft in direkter Konkurrenz zum Streben nach dem Schönen, wie Aristoteles in der EN sagt:

„Aufgrund der Lust tun wir schlechte Handlungen (ta\ fau=la), aufgrund des Schmerzes unterlassen wir schöne Handlungen (tw=n kalw=n bzw. ta\ ka/la).“42.

41 EN 1104b30-32..

42 EN. 1104B9-11. „tw=n kalw=n“ übersetzt hier Wolf irrtümlicherweise als „das Gute“. Zu Begründung heißt es: „Kalos ist wie agathos ein allgemeines Wertwort, wobei beide Wörter unterschiedliche Bedeutungsaspekte haben, in manchen

(26)

Diese Konkurrenz zwischen dem Schönen und dem Lustvollen werde ich in den letzten beiden Kapiteln meiner Arbeit behandeln: Wer um des Schönen willen große Schmerzen erträgt, verdient Lob im höchsten Maß, wie wir im vierten Kapitel sehen werden. Und im fünften Kapitel werden wir sehen, auf welche Art und Weise dem Schönen der Vorzug vor der Lust zugeben ist. Jetzt müssen wir die epideiktische Redegattung analysieren und dabei das wichtigste konzeptuelle Paar für Lob und Tadel untersuchen — das Paar des Schönen und des Hässlichen.

Kontexten aber auch austauschbar sind. Agathos betont den Aspekt der Nützlichkeit und Brauchbarkeit, der Förderlichkeit für ein Ziel (bei Sachen) bzw.

der Tauglichkeit für eine Aufgabe (bei Personen), der substantivierte Ausdruck to agathon bezeichnet das Strebensziel, ta agatha die Güter, deren Vorhandensein das Leben befriedigend macht. Kalos betont dagegen mehr den inhärenten Wert von etwas, der aber so verstanden wird, dass etwas durch seine intrinsische Qualität gerade zu etwas wird, was Attraktivität oder Glanz besitzt, auf diese Weise motiviert und zum Strebensziel wird.“ Siehe Aristoteles/Wolft (2006) S.

353-54. Selbst wenn dieser Unterschied richtig ist, passt die Übersetzung „das Gute“ für tw=n kalw=n bzw. ta\ ka/la hier auf zwei Gründen allenfalls nicht.

Zunächst ist es nicht klar, warum jemand aufgrund des Schmerzes auf die Güter,

„deren Vorhandensein das Leben befriedigend macht“, verzichten sollte, da dieser Verzicht im großen Schmerz resultiert. Das Essen z.B. macht das Leben befriedigend. Was würde denn bedeutet, auf das Essen aufgrund des Schmerzes zu verzichten? Gerade im Verzicht auf das Essen besteht der Schmerz.

Andererseits indem Wolf anstatt des Schönen bzw. der schönen Handlungen, über das Gute spricht, blendet ihre Übersetzung das begriffliche Netz völlig aus, zu dem sowohl das Schöne, als auch das Lust- und das Schmerzvolle gehören, Aristoteles will zeigen, dass bei den menschlichen Entscheidungen das Lustvolle oft die Oberhand über das Schöne gewinnt. Das Lustvolle ist zweifellos in bestimmter Hinsicht immer gut: Wer sich aufgrund des Schmerzes gegen das Schöne entscheidet, entscheidet sich auch für etwas Gutes, nämlich für das Vermeiden des Schmerzes. Aristoteles sagt keineswegs, dass die Menschen aufgrund des Schmerzes auf das Gute im Allgemeinen verzichten, sondern dass sie aufgrund des Schmerzes auf das Schöne verzichten. Das begriffliche Netz wird von Aristoteles wenige Linie später erwähnt, vgl. EN 1104b30-32.

(27)

4. Die epideiktische Redegattung

Anders als bei den anderen Redegattungen ordnet Aristoteles die epideiktische Rede keinem institutionalisierten Anlass zu. Daher ist der Adressat dieser Rede lediglich jemand, der das Vorgetragene hört und sieht, ein Zuschauer (o( qewro/j) also. Was das Zuraten und das Abraten bezüglich der deliberativen Rede sind, und was das Anklagen und das Verteidigen bezüglich der gerichtlichen, sind das Lob (o( e)/painoj) und der Tadel (o( yo/goj) bezüglich der epideiktischen Rede. Die Ziele der epideiktischen Rede sind das Schöne (to\ kalo/n) und das Schändliche (to\ ai)sxro/n). Zeitlich bezieht sich die epideiktische Rede auf die Gegenwart.43

Es sei hier auf vier Schwierigkeiten für das Verständnis der epideiktischen Reden aufmerksam gemacht: Erstens ist es nicht klar, wie das Genus „to\ e)pideiktiko/n“, zu verstehen ist. Zweitens muss es geklärt werden, wovon die epideiktischen Reden eigentlich handeln, was ihr Thema oder ihr Gegenstand ist. Drittens muss es die Rolle des te/loj für die epideiktische Redegattung erläutert werden. Viertens ist es nicht offensichtlich, warum Aristoteles meint, Lob und Tadel konzentrierten sich hauptsächlich auf die Gegenwart; Lob und Tadel können aber doch wohl ebenso vergangenen Taten zugeteilt werden.

4.1. Das epideiktische Genus

Von den drei Redegattungen, die Aristoteles in Rhet. bespricht, war in seiner Zeit die Klassifikation von deliberativen und gerichtlichen Reden allgemein akzeptiert. Diese Klassifikation ergibt sich jeweils aus der 43 Für diese Charakteristiken vgl. Rhet. 1358b8-13, Rhet. 1358b27-29, Rhet.

1358b2-6.

(28)

Institution der Volksversammlung und des Gerichts. Dagegen wurde das Genus der epideiktischen Reden zuerst von Aristoteles aufgestellt und entspricht keiner spezifischen Institution der Polis44. Die epideiktischen Reden können also unter den verschiedensten Umständen stattfinden.

Jedoch erfüllt die Benennung „epideiktisch“ bei dieser dritten Art von Rede dieselbe Funktion, die den gehörigen Benennungen der anderen Redegattungen entspricht: Sie fasst die wesentlichen Sprachhandlungen dieser Gattung unter einen dieser Sprachhandlungen gemeinsamen Aspekt. Diese Funktion des Namens lässt sich bei den deliberativen und gerichtlichen Reden ablesen. Wie die deliberative Redegattung das Zu- und Abraten, die gerichtliche Redegattung das Anklagen und Verteidigen fassen, so umfasst die epideiktische Redegattung das Loben und das Tadeln45.

Aristoteles leitet die Benennung „to\ e)pideiktiko/n“ als Substantivierung des Verbes „e)pidei/knumi“ ab. Das Verb

„e)pidei/knumi“ bedeutet „etwas aufzeigen“, „etwas vorzeigen“. Das Wort „to\ e)pideiktiko/n“ bedeutet folgerichtig so viel wie „das Aufweisen“ oder „das Vorzeigen“. Daraus folgt, dass Lob und Tadel Sprachhandlungen sind, die etwas vorzeigen oder etwas aufzeigen. Und 44 Vgl. Kraus (1905) S. 7, 12; Kraus (1907) S. 38-40; Westermann (1833) S.

143. Fn. 30; Aristoteles/Rapp (2002) B1. S. 370 und B2. S. 254-55, 390; Kennedy G. (1963) S. 86; Hellwig (1973) S. 121.

45 Ähnlich meint Kraus (1905) S. 5: „Ferner führt Aristoteles als Spezies der epideiktischen Redegattung die Lobrede und die Tadelrede an, ganz ebenso, wie nach ihm die beratende Rede, in die zuredende und abredende, die gerichtliche in Anklage und Verteidigung zerfällt; wie also der Gattungsbegriff für die Begriffe

„Anklage“ und „Verteidigung“ der Begriff der „gerichtliche Rede“, ist er für die Begriffe „Zuraten“ und „Abraten“ der Begriff der „beratenden Rede“ und ist er für die Begriffe „Lobrede“ und „Tadelrede“ der Begriff der „epideiktischen Rede“.

Auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 258. Kommentar zu Rhet. 1358b-1358b13:

„Die nähere Bestimmung der drei Redegattungen wird aufgenommen, indem den drei Gattungen jeweils eine spezifische Redehandlung bzw. ein jeweils konträres Paar solcher Redehandlungen zugewiesen wird. So ist die Beratung, um die es in der beratenden Rede geht, immer entweder zuratend oder abratend; vor Gericht redet man immer entweder anklagend oder verteidigend, und bei der vorführenden Festrede redet man immer entweder lobend oder tadelnd.“

(29)

für ihr Vorzeigen orientieren sie sich an den Kriterien des Schönen und Hässlichen, genau wie die Paare der übrigen Gattungen sich an dem Nützlichen und Schädlichen oder an dem Gerechten und Ungerechten orientieren.

Der zeitliche Bezug des Lobens und Tadelns ist nach Aristoteles hauptsächlich die Gegenwart. Aus dieser Skizze ergibt sich eine neue vorläufige Definition von Lob und Tadel: Sie sind Sprachhandlungen, die etwas vor die Augen irgendeines Zuschauers (qewro/j) führen, gemäß den Kriterien des Schönen und des Hässlichen und im Bezug vor allem auf die Gegenwart. Es wurde aber noch nicht gesagt, wovon Lob und Tadel handeln, was ihr Objekt eigentlich ist. Um dieses herauszufinden, ist wieder der Vergleich mit den anderen Redegattungen hilfreich.

4.2. Die Objekte und die Ziele von Lob und Tadel

Bei den deliberativen Reden entscheidet die Hörerschaft über die beste künftige Handlung. Bei den gerichtlichen Reden entscheidet der Richter über die Angemessenheit oder Unangemessenheit der Anklage.

Demgemäß beurteilt der Zuschauer Aristoteles zufolge bei der epideiktischen Rede über die Fähigkeit oder das Vermögen: „o( de\ peri\

th=j duna/mewj o( qewro/j.“46.

Bei diesem Satz ist unklar, ob der Zuschauer die Leistung des Redners beurteilen muss oder den Inhalt der Lob- bzw. der Tadelrede. Auch die Bedeutung des Wortes „du/namij“ ist nicht eindeutig.

46 Rhet. I 3, 1358b6.

(30)

Nehmen wir zuerst die Frage nach der Rolle des Zuschauers. Der wichtigste Abschnitt für die Frage nach der Rolle des Zuschauers in der epideiktischen Rede lautet:

„Notwendigerweise ist der Zuhörer entweder ein Zuschauer oder ein Beurteiler (h)\ qewro\n ei)=nai h)\ krith/n), und zwar ein Beurteiler über vergangene oder zukünftige Dinge. Über zukünftige Dinge urteilt die Volksversammlung, über vergangene Dinge der Richter, über gegenwärtige Dinge der Zuschauer. Daher ergibt sich notwendig, dass es drei Arten von rhetorischen Reden gibt: die deliberative, die gerichtliche und die epideiktische.“47

Angesichts dieses Zitats könnte man meinen, dem Zuschauer stehe es nicht an, ein Urteil über das vom Redner Gesagte auszusprechen. Und dies im Unterschied sowohl zu dem Richter als auch zu der Volksversammlung. Es scheint, dass bei der epideiktischen Rede der Zuschauer keiner Kontroverse ausgesetzt ist und deshalb ist er nicht gezwungen, ein Urteil über die Lob- oder Tadelrede auszusprechen.

Obgleich der Zuschauer kein Richter (dikasth/j) im institutionellen Sinn ist, nichtsdestoweniger ist er doch ein Beurteiler (krith/j), wie von Aristoteles deutlich betont wird und wie Kraus richtig bemerkt hat48:

„Im weiteren Sinne des Wortes ist ihr [der Aristotelischen Rhetorik]

zufolge jeder Zuhörer, dessen Überzeugung in irgend einer Angelegenheit hervorgerufen werden soll, ein Richter, sowohl der dikasth/j und e)kklhsiasth/j als auch der qewro/j; im engeren Sinne werden jedoch nur die beiden ersteren so genannt; mit der Vergangenheit hat es der dikasth/j zu tun, mit dem Zukünftigen das Mitglied der Volksversammlung, hauptsächlich mit der Gegenwart der betrachtende Zuhörer der epideiktischen Rede“.49

Aristoteles behauptet, dass jede rhetorische Leistung um des Urteils bzw.

47 Rhet. 1358b1-8.

48 Vgl. Rhet. II 18, 1391b7-19.; und Kraus (1905) S. 14.

49 Kraus (1907) S. 32. Dazu noch müssen wir merken, dass jede rhetorische Leistung um des Urteils oder der Entscheidung willen durchgeführt wird. Siehe dafür Rhet. II 1, 1377b20-2. Siehe auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 255-57.

(31)

der Entscheidung willen durchgeführt wird50. Die Lob- und Tadelreden versuchen, wie die übrigen Redegattungen, den Zuschauer zu überzeugen. Wer lobt oder tadelt, verlangt von den Zuhörern oft nicht, dass sie sich zu seiner Meinung, seinem Lob oder Tadel, äußerlich bekennen; er erwartet jedoch zumindest die innerliche Zustimmung der Hörerschaft zu gewinnen. Eine rhetorische Leistung, die nicht auf die Überzeugung der Hörerschaft abzielte, hätte in der aristotelischen Systematik der Rhetorik keinen Platz. Was genau der Zuschauer beurteilen muss, ist immer noch unklar. Es fehlt auch eine Explikation, worüber genau die Lob- und Tadelrede handeln. Beide Fragen bringen uns zurück zum Problem der „du/namij“:

Aristoteles Zitat über die du/namij lautet:

„der Zuschauer entscheidet also über die Fähigkeit“ (o( de\ peri\ th=j duna/mewj o( qewro/j51).

Die Knappheit dieses Satzes wurde zum Anlass für eine jahrhundertelang währende falsche Interpretation, deren Ursprung wohl bei Cicero und bei Quintilian zu finden ist. Nach dieser Interpretation ist mit dem Wort

„du/namij“ das künstlerische Können des Redners gemeint. Die epideiktischen Reden wären lediglich Prunkreden, die zum Ziel haben, die rhetorische Fähigkeit des Redners zu zelebrieren. Das Verb

„e)pidei/knumi“ bedeutet, etwas zur Schau zu stellen. Und das, was vorgezeigt wird, muss die Redekunst des jeweiligen Redners sein52. 50 Siehe dafür Rhet. II 1, 1377b20-2. Siehe auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S.

255-57.

51 Rhet. I 3, 1358b6.

52 Für Quintilian und Cicero siehe Kraus (1905), S. 21-23. Der Grund für diese alte und fehlerhafte Deutung erklärt Kraus teilweise mit dem Hinweis auf die Knappheit des Satzes: „Die Zweideutigkeit des Wortes e)pideiktiko/n und die stenographische Kürze des Ausdrucks peri\ duna/mewoj o( qewro/j ist

(32)

Es ist das Verdienst des bereits erwähnten Prager Philosophen Oskar Kraus (1872-1942) dieser Interpretation durch zwei Schriften zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Boden entzogen zu haben. Kraus verteidigt, dass mit dem Wort „du/namij“ Aristoteles die ethische „a)reth“/ — i.e.

das charakterliche Gutsein — und die ethische kaki/a — i.e. das charakterliche Schlechtsein — meinte.

Im nächsten Kapitel werden wir sehen, was Aristoteles unter „Gutsein“

meinte, und welche verschiedene Arten des Gutseins er erkennt. Für dieses Kapitel reicht zu erklären, dass ich mit „Gutsein“ immer das Gutsein des Charakters meine. Bleiben wir eine Weile bei Kraus’ Analyse, um die wichtigsten Stationen seiner Exegese zu erwähnen. Daraus werden wir relevante Informationen für die Bestimmung von Lob und Tadel herausarbeiten53.

Aristoteles widmet das ganze neunte Kapitel von Rhet. I dem Lob und Tadel. Am Anfang des Kapitels stellt er die zentralen Begriffe für Lob und Tadel fest:

„Nach diesem lass uns über Gutsein und Schlechtsein, über das Schöne und Schändliche sprechen. Diese nämlich sind die Ziele gewiß ein Anlaß des Mißverständnisses geworden;“ Kraus (1905) S. 23. Kraus zufolge sei jedoch eine allmähliche Emanzipation der Rhetorik von der Ethik eine wichtigere Ursache der Konfusion gewesen. Diese Emanzipation hätte als bedeutendste Konsequenz, dass die a)reth/ nicht mehr als das eigentliche Objekt des Lobens betrachtet wurde. Vgl. Kraus (1905),S. 23-26. Die a)reth/

und ihre Beziehung mit dem Lob werden uns in nächstes Kapitel beschäftigen.

53 Vgl. Kraus (1905) und (1907). Kraus’ Argumentation wurde später von Mirhady (1995) S. 406 sqq. wiederholt, wie Rapp dokumentiert Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 256. Rapp selbst findet die Kritik von Kraus angemessen und die traditionelle Interpretation schlechthin falsch und unaristotelisch. Siehe Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 255-258. Trotzdem findet man immer noch Autoren, die an der falschen Interpretation gefangen bleiben, siehe z.B.

Rountree (2001), S. 295. Merkwürdigerweise zitiert Rountree (2001) S. 295 die zwei Werke von Kraus, die ich hier benutzt habe, trotzdem behauptet er im Hinblick auf den Zuschauer und seine Rolle als Hörer der epideiktischen Rede: „a spectator is concerned with the ability [of the speaker]“.

(33)

(skopoi/) für diejenigen, die loben und tadeln.“54.

Wenn diese die zentralen Begriffe für Lob und Tadel sind, was ist denn das Objekt von der Lob- und Tadelrede und was haben diese Begriffe mit der erwähnten „du/namij“ zu tun?

Die epideiktische Rede enthält keine Überlegung über diese Begriffe. Der Lob- oder Tadelredner will nicht einem Zuschauer beibringen, was diese Begriffen bedeuten. Das Schöne und das Schändliche, das Gut- (a)reth/) und das Schlechtsein (kaki/a) sind nicht der Endzweck der epideiktischen Reden, sei es der Lob- oder Tadelrede. Der Endzweck jeder diesen Reden ist, wie gesagt, die Entstehung einer Überzeugung beim Adressaten55. Wir müssen deshalb herausfinden, worauf sich die Überzeugung der Lob- und Tadelrede bezieht, um die Themen der epideiktischen Redegattung herauszufinden. Fangen wir mit der Lobrede an.

Gemäß Aristoteles gehöre es zur Lobrede, die Größe des Gutseins (a)reth/) sichtbar zu machen. Damit dies geschehe, sei es nötig, dass der Redner die Handlungen so vorführe, wie sie „beschaffen“ sind:

„Das Lob ist eine Rede, die die Größe des Gutseins sichtbar macht 54 Rhet. 1366a23-25.

55 Vgl. Rhet. I 1, 1355a2-5 und Rhet. I 2, 1355b25-27. Siehe auch Rhet. III 16, 1416b16-1417a6. Da wird es klar, dass jede Rede nicht um das Theoretisieren bestimmter Begriffe geht, sondern um zu zeigen, dass eine Handlung gerecht oder nützlich usw. ist Darüber Kraus (1905) S. 14: „Der Zuhörer soll aber nicht nur von dem überzeugt werden, was Tugend und Laster, und was kalo/n und ai)sxro/n ist; er soll über die Größe, über das Maß ein Richter sein; und dieser Umstand ist ebenfalls allen Redegattungen gemeinsam.“ Siehe auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 390. Anmerkung zu 1366a23-1366a33: „Tugend (a)reth/) und Laster (kaki/a), das Schöne (to\ kalo/n) und das Schändliche (to\ ai)sxro/n) stellen den Gegenstand der lobenden bzw. tadelnden Rede wie überhaupt den Gegenstand von Lob und Tadel dar.“

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