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Der Bereich des Lobens und Tadelns

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 7-13)

I. Was sind Lob und Tadel?

1. Der Bereich des Lobens und Tadelns

Ziel meines ersten Kapitels ist zu erörtern, was Lob und Tadel eigentlich sind. Die Antwort des Aristoteles ist in wichtigen Hinsichten anders als wir erwarten würden, vor allem weil er Lob und Tadel nicht in Verbindung mit der Moral und der moralischen Beurteilung sieht. Zwar wird für Aristoteles der Anwendungsbereich von Lob und Tadel in der praktischen Philosophie erörtert — d.h. in der Philosophie, die sich mit dem Charakter, den Handlungen und den Affekten der Menschen beschäftigt —, keineswegs aber in dem besonderen Bereich der praktischen Philosophie, den wir

„Moral“ nennen. In Bereich der Moral diskutieren wir über Pflichte und moralische Gründe, die unser Handeln in bestimmten Fällen beschränkt und in anderen leitet, jedoch unabhängig von unserem Wollen und unseren eigenen Interessen sind1. Anders als die aristotelische ethische 1 Vgl. Anscombe (1958); Long (2001), S. 30; Williams (1981), S. 250-251: „It is worth bringing together several features of Greek ethical thought which mark it off in may ways from current concerns and from the moral inheritance of the Christian world. It has, and needs, no God: though references to God or gods occur in these writers, they play no important role. It takes as central and primary questions of character, and of how moral considerations are grounded in human nature: it asks what life is rational for the individual to live. It makes no use of a blank categorical imperative. In fact ― though we have used the word 'moral' quite often for the sake of convenience ― this system of ideas basically lacks the concept of morality altogether, in the sense of a class of reasons or demands which are vitally different from other kinds of reason or demand." [...] Relatedly, there is not a rift between a world of public 'moral rules' and of private personal ideals: the questions of how one's relations to others are to be regulated, both in the context of society at large and more privately, are not detached from questions about the kind of life it is worth living, and of what is worth having or caring for.“ (Kursiven im Original). Bereits Pichard hat den Unterschied zwischen der aristotelischen Ethik und der modernen Moralphilosophie richtig begriffen vgl.

Konzeption bewegen sich die meisten gegenwärtigen Betrachtungen und Strömungen bezüglich Lob und Tadel hauptsächlich, wenn nicht sogar ausschließlich, im Bereich der Moral. Es lohnt sich, zumindest kurz die Ursachen für diesen Unterschied zu besprechen.

Vor allem in der angelsächsischen Literatur sind Lob und Tadel etwa seit dem vergangenen Jahrhundert eine Nebenfrage innerhalb der Debatte über Determinismus und moralische Verantwortung2. Dieser Nebenfrage messen verschiedene Autoren mehr oder weniger Bedeutung zu; sie bleibt aber an die Diskussion über moralische Verantwortung und wichtiger noch an der Diskussion über Determinismus und Indeterminismus gebunden3. Besonders die Behandlung des Tadels ist meistens auf die Behandlung Pichard (1912), besonders S. 31-34. Irwin (1986) hat die Position von Williams als falsch kritisiert. Er behauptet, man darf mit Recht Aristoteles eine erkennbare Konzeption der moralischen Pflicht zuschreiben (a fairly recognizable concept of

„moral obligation“), vgl. Irwin (1986), S. 130. Auch Annas (1992) hat die Position von Williams als unbegründet kritisiert. In ihrer Kritik erwähnt sie aber leider weder den Aufsatz von Anscombe noch den von Phicard. Gauthier-Jolif vertreten vielleicht am Besten die These über die moralische Pflicht bei Aristoteles. Anhand einer Analyse des Substantives „to\ de/on“, des Verbes „dei=n“ und des Substantives „to\ kalo/n“ kommen sie zu dem Schluss, dass bei Aristoteles die Begriffe der moralischen Pflicht und der moralische Verpflichtung („le devoir“ und

„l᾽obligatoire“) bereits artikuliert sind. Sie verstehen „to\ de/on“ als die moralische Plicht („le devoir“) und „to\ kalo/n“ als das moralische Gute („le bien moral“). Siehe Aristoteles / Gauthier-Jolif (1970 bzw. 2002), II-2, S. 568-575.

Sie behaupten sogar (siehe S. 571), dass den Begriff der moralischen Pflicht zentral für Aristoteles ist: „Aristote a mis au centre même de sa morale l᾽idée distincte de «devoir» moral.“ In letzten Jahren hat Kraut die Position von Anscombe grundsätzlich verteidigt. Kraut hat allerdings auch eine von Anscombe formulierte und später von Williams artikulierte These kritisiert, die besagt, dass es zuträglich für die gegenwärtigen ethischen Diskussionen wäre, auf Begriffe wie der der moralischen Pflicht, der moralischen Schlechtigkeit und des moralischen Zwang zu verzichten. Vgl. Kraut (2006) besonders S. 163.

2 Ein entscheidender Impuls für diese Debatte war der Essay von William James „The Dilemma of Determinism“. Allerdings bezieht sich James in seinem Essay nicht auf die Lob und Tadel Problematik. Siehe James (1884).

3 Siehe z.B. Nowell-Smith (1948), S. 45: „If there is no freedom, there is no moral responsibility; for it would not be right to praise and blame a man for something that he could not help doing.“ Siehe auch Campbell (1951), MacIntyre (1957), Smart (1961) besonders S. 303-306. Das Behandeln des Tadels ausschließlich als eine Nebenfrage des Determinismus Problem wurde von Holborow richtig kritisiert, vgl. Holborow (1971), S. 85.

des moralischen Tadels begrenzt und versteht den moralischen Tadel als die wichtigste Art des Tadels, das Lob dagegen hat weniger Aufmerksamkeit befunden4.

Auch in der Debatte über die Grundlagen der Moral geht Ernst Tugendhat so weit, dass er das Begriffspaar „Lob und Tadel“ konzeptuell trennt. Für ihn laufen die Begriffe von Lob und Tadel nicht parallel, etwa wie die Begriffe „gut“ und „schlecht“, sondern gehören zu verschiedenen Bereichen. Der Tadel gehöre ausschließlich zur Moral, das Lob nicht: Er definiert den Tadel als eine von Entrüstung begleitete Reaktion auf eine unmoralische Handlung. Der Tadel orientiere sich immer an moralischen Kategorien. Jemanden zu tadeln heißt, jemanden in moralischem Sinn zu tadeln5.

Eine derartige Überbetonung der Wichtigkeit des Tadels und die entsprechende Vernachlässigung des Lobes als ein zweitrangiges

4 Beardsley (1957, 1969 und 1970), Kenner (1967), S. 239, Squires (1968), Sher (2002, 2006), Arpaly - Schroeder (1999), Arpaly (2003, 2006). Beardsley (1957), S. 306 behauptet z.B., dass eine Handlung gegen eine moralische Regel stoßen muss, um tadelnswert zu sein sie erklärt aber nicht, ob jede Handlung, die der Moral konform ist, auch deswegen lobenswert ist. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht ist Cohen (1977). Er analysiert die Bedeutung von „Tadel“ (blame) und kommt zu dem Schluss, dass der moralische Tadel zwar eine besondere Art keineswegs aber die wichtigste Art des Tadels ist, deswegen ist die Moral nicht notwendigerweise das entscheidende Kriterium, um eine Handlung oder eine Person zu tadeln. Siehe Cohen (1977), S. 165-66. Auch Rountree (2001) in seinem Aufsatz über das epideiktische Genus findet kein Verständnis für Aristoteles Vorliebe für die Lobrede und seine entsprechende Vernachlässigung der Tadelrede.

5 Tugendhat E. (1993) S. 37. Wie Tugendhat argumentiert auch Holborow (1971) S. 89 für die konzeptuelle Trennung von Lob (praise) und Tadel (blame). Er behauptet, dass das Gegenteil des Tadels nicht das Lob sondern das Gewähren von Anerkennung (give credit) ist. Auch Smart (1961) S. 303 unterscheidet zwischen einer Bedeutung vom „Lob“, die das Gegenwort von „Tadel“ bildet und einer Bedeutung von „Lob“, die kein Gegenwort von „Tadel“ ist und er gibt Beispiele: „But when we praise a girl for her good looks this does not mean that we should have blamed her if her looks had been bad. When we praise one footballer for his brilliant run, we do not blame his unfortunate team mate who fumbled a pass.“ Für eine ähnliche Vorstellung siehe Brandt (1958), S. 8 Fn. 5.

Brandt behauptet, dass das Tadeln oft nicht eine Handlung, sondern einen mentalen Zustand bezeichnet.

Phänomen ist symptomatisch für eine Sorge, die sowohl der Debatte über die Grundlage der Moral als auch die über den Determinismus und die Freiheit prägt: In beiden Debatten geht es nämlich um die Bewahrung der Moral als einem System von Pflichten und Rechten, die von allen Menschen beachtet werden müssen. Der Tadel ist eine von verschiedenen Sanktionen, vermittels deren man die Missachtung der moralischen Pflichten bestraft. Das Lob spielt innerhalb dieser moralischen Konzeptionen keine relevante Rolle.

Wie Tugendhat beschäftigt sich Daniel Robinson in seinem Buch über Lob und Tadel mit dem Problem der Grundlage der Moral. Als Verfechter einer objektivistischen Moral kommt er allerdings zu anderen Konklusionen als Tugendhat. Interessant an Robinsons Überlegung ist außerdem, dass er auch das Problem des Determinismus und der Freiwilligkeit analysiert. Robinsons Darstellung zeigt die zahlreichen Berührungspunkte zwischen diesen zwei wichtigen Themen6.

Ich bin überzeugt, dass die aristotelische Betrachtung bezüglich Lob und Tadel dank ihrer Originalität und Kohärenz diese zwei laufenden Diskussionen bereichern könnte. In der Philosophie des Aristoteles haben weder die moralische Verantwortung noch die moralischen Gründe einen Platz, zwei zentrale Begriffe für diese eng verbündeten Debatten. Für Aristoteles findet die Überlegung der praktischen Philosophie über den menschlichen Charakter, das menschliche Handeln und das menschliche Fühlen, außerhalb der Moral statt. Die Frage nach der Institution der Moral, nach ihrer Reichweite, ihren Grundlagen und ihrer Rechtfertigung, die so typisch von der modernen und gegenwärtigen Philosophie seit Kant ist, ist Aristoteles absolut fremd. Es ist deshalb ein Anachronismus, wenn wir über Moral bei Aristoteles — oder bei Platon — reden, zumindest solange wir unter Moral ein System von Pflichten und Rechten, Sanktionen und Belohnungen mit Anspruch auf universelle Gültigkeit 6 Robinson (2002) besonders Kapitel II und III.

verstehen. In dieser Hinsicht stimme ich völlig mit der Meinung von E.

Anscombe, B. Williams und A. MacIntyre überein7.

Die immer noch laufende Auseinandersetzung über den Unterschied zwischen antiker Ethik — gemeint sind in erster Linie die Ethiken des Sokrates, Platon und Aristoteles — und modernen Formen oder Systemen der Moral ist sehr komplex und enorm interessant. Meine Zusammenfassung hier wird ihrem Reichtum natürlich nicht gerecht. Es scheint jedoch klar, dass die Grundfrage der antiken Ethik nicht mit den Grundfragen der modernen moralischen Systeme übereinstimmt8. So lautet die Frage, die die Untersuchungen der antiken Ethik leitet, nicht etwa „was soll oder muss ich tun?“, mit ihren zahlreichen Variationen, wie

„Wofür bin, ich verantwortlich?“, „Worin liegt meine Pflicht?“, „Welche Handlung ist moralisch in Ordnung?“ oder „Warum muss ich moralisch leben?“. Vielmehr fragt die antike Ethik, welche Lebensweise mehr Glück verspricht bzw. wie ich als Mensch glücklich werden kann, und dies unabhängig von gängigen Konventionen oder theologischen Vorstellungen9.

Das Glück ist das Hauptziel der antiken Ethik. Die Grundfrage nach dem Glück ist eine Frage der Klugheit und nicht der Moral: Eine Lebensweise ist demgemäß nur zu empfehlen, wenn sie uns zum persönlichen Glück führt, ungeachtet der herrschenden Moral und der gültigen Gesetze, d.h.

ungeachtet der formellen und informellen Normativität. Freilich gibt es Lebensweisen und Handlungen, die für die antike Ethik empfehlenswert sind und gleichwohl mit unseren herrschenden gegenwärtigen moralischen Vorstellungen harmonieren. Im nächsten Kapitel werden wir

7 Anscombe (1958), Williams (1986) Kapiteln 1 und 10, und A. MacIntyre (1981) Kapitel 4.

8 Vgl. Gill (2004) S. 1-11 und Gill (2005) S. 16-40 für einen historischen Überblick der Debatte bezüglich der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der antiken Ethik und der modernen Moralphilosophie.

9 Vgl. Long (2001), dessen Überlegung stark auf Williams aufbaut.

z.B. sehen, dass jede schöne Handlung dem entspricht, was die meisten gegenwärtigen moralischen Konzeptionen „moralische Handlung“ nennen.

Und trotzdem entsprechen viele moralischen Handlungen nicht dem, was Aristoteles unter schönen Handlungen versteht. Und was eine schöne Handlung ausmacht, ist nicht, dass sie der Moral bzw. einer moralischen Konzeption konform ist.

Aristoteles macht sich also als Erbe der sokratischen Tradition keine Gedanken über die Moral. Die Moral liefert deshalb für Aristoteles keine Handlungsgründe. Wenn Lob und Tadel eine bestimmte Überzeugungskraft besitzen, entsteht diese Kraft nicht aus der Moral. Für Tugendhat besteht etwa die Motivationskraft des Tadels gerade darin, dass der Getadelte als moralisch schlecht bezeichnet wird, und diese Bezeichnung für die Identität des Getadelten und für die Verfolgung seiner eigenen Interessen schädlich ist. Aristoteles scheint mir aber eine derartige Erklärung auszuschließen. Vielmehr situiert Aristoteles Lob und Tadel in einer direkten Beziehung mit Konzepten, die für ihn doch nicht-moralische Handlungsgründe liefern. Um die Motivationskraft von Lob und Tadel zu verstehen, müssen wir deshalb diese Konzepte analysieren.

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