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Die Motive des Handelns

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 13-19)

I. Was sind Lob und Tadel?

2. Die Motive des Handelns

Aristoteles erkennt in der EN drei positive Motive des menschlichen Handelns an, jeweils mit den entsprechenden negativen Motiven:

„Nach drei Dingen richtet sich also das Wählen und nach drei das Vermeiden: Das Schöne, das Nützliche und das Lustvolle; und ihren jeweiligen Gegensätzen, das Hässliche, das Schädlichen und das Schmerzvolle, über alle diese Dinge also ist der gute Mensch jemand, der richtig entscheidet, der schlechte Mensch aber jemand, der falsch entscheidet, am meisten gilt dies im Hinblick auf die Lust.“10

Aus jeweils einer positiven und einer negativen Motivation bildet Aristoteles also drei konzeptuelle Paare: Das Schöne und das Hässliche, das Nützliche und das Schädliche, und das Lust- und das Schmerzvolle.

Um wirksam zu sein, müssen das Lob und der Tadel sich auf diese drei konzeptuellen Paare beziehen, entweder auf alle sechs oder auf einige von ihnen. Infolge dieser Idee könnten wir das Lob als eine sprachliche Handlung definieren, die etwas als gut — weil schön oder nützlich oder lustvoll — bezeichnet. Analog könnten wir den Tadel als eine sprachliche Handlung definieren, die etwas als schlecht — weil hässlich oder schädlich oder schmerzvoll — qualifiziert. Diese vorläufigen Definitionen werde ich überprüfen und verfeinern, um erstens herauszufinden, was genau die erwähnten konzeptuellen Paare für Aristoteles bedeuten, zweitens, wie genau das Lob und der Tadel sich auf diese Paare beziehen.

Für die Beantwortung beider Fragen reicht jedoch eine Analyse der EN nicht aus. Zwar werden in der EN verschiedene Lebensweisen erwähnt,

10 triw=n ga\r o)/ntwn tw=n ei)j ta\j ai(re/seij kai\ triw=n tw=n ei)j ta\j fuga/j, kalou= sumfe/rontoj h(de/oj, kai\ ?triw=n? tw=n e)nanti/wn, ai)sxrou= blaberou= luphrou=, peri\ tau=ta me\n pa/nta o( a)gaqo\j katorqwtiko/j e)stin o( de\ kako\j a(marthtiko/j, ma/lista de\ peri\ th\n h(donh/n: EN. 1104b30-32. Ich erlaube mir hier das originale Zitat anzuführen, weil es für meine ganze Arbeit zentral ist. Wenn nicht anders vermerkt, stammen alle Übersetzungen aus dem Griechischen von mir.

die jeweils nach der Lust, dem Nutzen oder dem Schönen streben11. Es wird auch ihre Zuträglichkeit für das eigene Glück diskutiert: Das Leben nach der Lust wird kritisch analysiert12; das Leben nach dem Nutzen wird durch das Streben nach dem Reichtum exemplifiziert13, und das Leben nach dem Schönen wird durch das Streben nach der Ehre, nach dem ethischen Gutsein illustriert14. Trotzdem werden die drei konzeptuellen Paare nirgendwo ausführlich thematisiert. Die ausführlichste Behandlung dieser konzeptuellen Paare findet sich weder in EE noch in EN, sondern in der Rhetorik (Rhet.). In diesem Werk wird jedes konzeptuelle Paar jeweils im Rahmen einer Redegattung diskutiert:

Das Nützliche und das Schädliche werden in Bezug auf die beratend-deliberative Rede expliziert15; das Schöne und das Hässliche in Bezug auf die epideiktische Rede16; und das Lust- und Schmerzvolle in Bezug auf die gerichtliche Rede17. Auf diese Korrespondenz wird leider, so weit mir bekannt ist, weder in der Forschung über die aristotelischen Ethiken noch in der über Rhetorik aufmerksam gemacht18. Gerade in Bezug auf das Thema Lob und Tadel ist es jedoch interessant zu betrachten, warum

11 Vgl. EN I 3.

12 Vgl. EN VII 12-15 und EN X 1-5.

13 Vgl. EN I 3, 1096a5-7.

14 Vgl. EN 1095b22-31.

15 Vgl. Rhet I 6.

16 Vgl. Rhet I 9.

17 Vgl. Rhet I 10-11.

18 Viele Kommentatoren betonen die Verbindung zwischen Aristoteles ethischen Schriften und seiner Rhetorik, jedoch übersehen sie die Korrespondenz zwischen den drei konzeptuellen Paaren und den drei Geni der Rethorik. Siehe z.B.

Grimaldi (1958), Garver (1986,1996), Irwin (1986), S. 135, Nichols (1987), Oksenberg Rorty (1992), Rigotti (1995), S. 247-48, Hauser (1995) viii-xi, Halliwell (1994), Cooper (1999) Kapitel 18, S. 397, Oates (1974). Oates übersieht diese Korrespondenz mit verherrlichen Konsequenzen. Er wirft Aristoteles vor, in seiner Rhetorik eine „Doppelmoral“ anzuwenden, — siehe Oates (1974) S. 109 — und empört sich sogar, weil Aristoteles in seiner Rhetorik die Lust als ein wirkungsvolles Überredungsmittel bestimmt. Siehe Oates (1974), S. 112.

Aristoteles ausgerechnet in der Rhet. und nicht in den ethischen Werken diese drei konzeptuellen Paare am gründlichsten behandelt hat.

Wie schon gesagt wurde, beschäftigen sich die ethischen Werke mit der Frage nach dem Glück bzw. nach dem gelungenen Leben. Die EE beginnt mit der Behauptung, das Glück (eu)daimoni/a) sei das Schönste, Beste und Lustvollste überhaupt, und fragt gleich danach, worin denn das gute Leben bestehe und wie man es erwerben könne19. Als eine Suche nach dem höchsten menschlichen Gut hat Aristoteles auch die EN gestaltet.

Dieses höchste Gut ist entweder das Glück oder steht in einer engen Beziehung zum Glück20. Diese zwei Aussagen zeigen, dass für das Erkenntnisziel der ethischen Werke das Interesse an der begrifflichen Konstellation der drei Paare nur marginal ist. Die drei Paare sind in diesen Werken nur insofern relevant, als sie zum Glück führend sind. Deswegen wird das Paar des Nützlichen und Schädlichen von den ethischen Überlegungen prinzipiell ausgeschlossen, da alles, was nützlich ist, lediglich instrumentell gut ist, d.h. lediglich als Mittel zu einem anderen Zweck gut ist. Das Glück ist aber nicht instrumentell gut, sondern als solches gut. Und die Dinge, die mit größter Wahrscheinlichkeit zum Glück führen — wie Ehre, politische Macht, Weisheit und Lust — sind nicht nur instrumentell gut — wie der Reichtum —, sondern sowohl instrumentell als auch als solche gut. Wenn Aristoteles sich daher am Anfang der EE fragt, welches Leben als glücklich zu qualifizieren sei, nennt er als mögliche Antworten das Leben gemäß der praktischen Weisheit, das Leben gemäß dem charakterlichen Gutsein und das Leben gemäß der Lust. Diese drei 19 Vgl. EE 1214a7-10.

20 Vgl. EN. I. Kenny sieht einen bedeutenden Unterschied zwischen dem Ausgangspunkt der EE und dem der EN bzw. zwischen der Eröffnungsfrage in EE nach dem menschlichen Glück und der Eröffnungsfrage in EN nach dem höchsten menschlichen Gut, vgl. Kenny (1992) S. 4-15. Deswegen, wenn Aristoteles sich am Anfang der EE fragt, welches Leben als glücklich zu qualifizieren sei, nennt er als mögliche Antworten das Leben nach der praktischen Weisheit, das Leben nach dem charakterlichen Gutsein und das Leben nach der Lust. Diese drei Arten von Leben sind sowohl als solche als auch ihrer Konsequenzen wegen gut. Vgl. EE. 1213b30-33.

Arten von Leben sind sowohl als solche als auch ihrer Konsequenzen wegen gut21. Ähnlich werden am Anfang der EN das politische, das theoretische bzw. philosophische und das Leben nach der körperlichen Lust als Lebensweisen genannt, in denen mit größerer Wahrscheinlichkeit das Glück und das höchste menschliche Gut zu finden sind. Das Leben gemäß dem Reichtum wird dagegen ohne weiteres ausgeschlossen22. Im Kontrast mit den ethischen Werken ist es das ausgesprochene Ziel der Rhet. herauszufinden, wie eine Überzeugung in der Hörerschaft zu erzeugen ist23. Für dieses Ziel ist eine detaillierte Behandlung des begrifflichen Netzes zentral. Denn es geschieht im Hinblick auf diese drei begrifflichen Paare, dass die Überzeugung geschaffen wird. In diesem Sinne definiert z.B. Grimaldi die Rhetorik:

„Rhetoric in Aristotle’s definition (1355b25-26; see also b 10 ff.) is called a dúnamis, faculty or power , to apprehend the „possibly suasive“ (sic) within any subject, i.e.,those elements within any given subject which are likely to bring about in an audience the state of mind which is open to the speaker’s proposition.“24.

Das Schöne und das Schändliche, das Nützliche und das Schädliche und das Lustvolle und das Schmerzvolle sind eben die Elemente, die die Überzeugung in der Hörerschaft erzeugen. Um zu überzeugen, reicht es deshalb für den Rhetoriker aus, auf diese Elemente hinzuweisen. Er muss die vermeintliche oder tatsächliche Verbindung zwischen diesen Elementen und dem eigenen Glück nicht beweisen. Diese Idee steht in Übereinstimmung mit der vorläufigen Definition von Lob und Tadel, die ich gegeben habe: Etwas zu loben bedeutet grundsätzlich, es als gut zu bezeichnen. Dann lobt der Rhetoriker etwas mit Recht, wenn er zeigt,

21 Vgl. EE. 1213b30-33.

22 Vgl. EN. 1095b14-24.

23 Vgl. Rhet. 1391b8-18, Rhet. 1355a14-26, Rhet. 1355b8-14, Rhet. 1356a15ff.;

Rhet. 1377b21, Rhet. 1402b31ff, Rhet.1355a4ff, 1355b26ff; Vgl. auch Grimaldi (1958) S. 373-374 und Rorty (1992) S.63.

24 Grimaldi (1958) S. 375. Fn. 11.

dass es entweder schön oder nützlich oder lustvoll ist25. In entsprechender Weise tadelt er etwas mit Recht, wenn er zeigt, dass es hässlich oder schädlich oder schmerzvoll ist.

Allerdings bezieht Aristoteles gerade in Rhet. das Lob und den Tadel ausdrücklich und ausschließlich auf das Schöne resp. das Hässliche und nicht auf die anderen zwei begrifflichen Paare. Dies bedeutet aber, dass die vorgeschlagenen Definitionen von Lob und Tadel falsch oder zumindest ungenau sind. Es scheint, dass für Aristoteles nicht alles, was gut ist, deswegen auch Lob verdient. Und nicht alles, was schlecht ist, deswegen auch getadelt werden muss. Um die Grundintuitionen der vorgeschlagenen Definitionen von Lob und Tadel dennoch zu bewahren — alles Gute verdient das Lob, alles Schlechte den Tadel —, wäre die einzige Alternative zu behaupten, dass weder das Nützliche und Lustvolle gut noch das Schädliche und Schmerzvolle schlecht sind. Dies ist aber offensichtlich absurd: Wenn die Menschen aufgrund des Nutzens oder der Lust handeln, verfolgen sie selbstverständlich etwas Gutes für sie selbst.

Und wenn sie versuchen, etwas Schädliches oder Schmerzvolles zu vermeiden, fliehen sie auch offensichtlich vor etwas Schlechtem für sie selbst26.

Wir brauchen also eine andere, genauere Definition von Lob und Tadel.

Die Analyse der epideiktischen Redegattung, wie sie in Rhet. vorgeführt wird, scheint mir der beste Ausgangspunkt auf dem Weg zu einer besseren Definition von Lob und Tadel. Denn für diese Redegattung sind, 25 Die Frage, wie diese drei Attribute mit dem „Gut“ zusammenhängen, bespreche ich in das zweite Kapitel.

26 Vgl. EN 1104b30-32., auch Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 447: „nach welchen Dingen man strebt (o)rego/menoi) und was für Dinge man zu vermeiden (feu/gontes) sucht“ (Rhet. 1368b28-29): Gemeint ist eine positive und eine negative Form des Strebens.“ Siehe auch Rhet 1369a3-4: „keiner nämlich will etwas, wenn er nicht meint, dass es gut sei“. Übers.:

Aristoteles/Rapp (2002) B1. S. 51-52. Vgl. auch Rapps Kommentar dazu:

Aristoteles/Rapp (2002) B2. S. 450, wo er EE II 7, 1223b f. in seiner Übersetzung zitiert: „keiner aber will (bou/letai), was er für ein Übel hält“.

wie gesagt, sowohl das Lob und der Tadel als auch das Schöne und das Hässliche wesentlich. Um die Einzigartigkeit der epideiktischen Rede besser zu begreifen, empfiehlt es sich als eine kluge Strategie auch hier, die epideiktische Rede im Zusammenhang mit den übrigen Redegattungen — der beratend bzw. der deliberativen Rede und der gerichtlichen Rede — zu betrachten. Diese Strategie wird uns auch helfen zu verstehen, weshalb Aristoteles das Nützliche und das Lustvolle auf der einen Seite, sowie das Schädliche und das Schmerzvolle auf der anderen Seite von Lob und Tadel ausschließt. Zunächst werde ich die Elemente der deliberativen und der gerichtlichen Redegattungen vorstellen und besprechen. Sobald diese Elemente expliziert worden sind, wird es für uns einfacher sein, die Eigentümlichkeit der epideiktischen Redegattung zu begreifen und daraus eine bessere Definition des Lobes und Tadels zu erarbeiten.

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 13-19)