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Das Gutsein ist nützlich und schön

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 114-120)

II. Was ist lobenswert?

2. Über das Schöne (to\ kalo/n)

2.4 Das Gutsein ist nützlich und schön

Unter den zahlreichen menschlichen Gütern verdient das Gutsein eine vorrangige Stellung, weil es schön ist und dazu noch nützlich. Die Besonderheit des Gutseins als etwas Schönes wird in EN am deutlichsten bezeichnet213. Aristoteles behauptet nämlich, allein der gute Mensch sei imstande, zwischen den wahren guten Dingen und den scheinbar guten Dingen richtig zu unterscheiden (kri/nei o)rqw=j)214. Es sei eine Eigenschaft des guten Menschen, so Aristoteles weiter, in richtiger Weise zwischen den zahlreichen Objekten der jeweiligen Dispositionen zu unterscheiden und den schönen Dingen den Vorzug zu gewähren, als ob er über eine Regel (kanw/n, Lat. „norma“) oder Maß (me/tron) bezüglich des Vergleiches der Objekte verfügen wurde.215. Ein guter Mensch würde in diesem Sinn etwa einen grandiosen militärischen Sieg nicht verpassen, um an einem herrlichen Festmahl teilzunehmen216.

Im Gegenteil zum guten Menschen, so Aristoteles weiter, hielten die meisten das für gut, was unmittelbar körperliche Lust verspricht und für schlecht und zu vermeiden das, was unmittelbar Schmerz impliziert. Es sei deswegen die spezifische Hervorbringung (e)/rgon) des guten Menschen, sowohl bei den Affekten als auch bei den Handlungen immer das Angemessene zu treffen217:

213 Die Neigung des Menschen nach dem Schönen und die nach dem Angenehmen werde ich im Kapitel IV und V behandelt.

214 Vgl. EN 1113a2930. So verlangt etwa das sinnliche Begehren nach der sexuellen Lust, der Intellekt dagegen sucht das Wissen (meine Beispiele).

215 Vgl. EN 1113a31-33. Die gleiche Idee kommt in EN 1176a15-23, wo er wieder über die a)reth/ als ein me/tron spricht. Siehe auch EN 1176b24-26.

216 Mein Beispiel.

217 Vgl. EN 1109a20-24. Siehe auch die Definition des seelischen Gutseins in EN 1106b24-27: „Das Gutsein hat mit Affekten und Handlungen zu tun, bei

Bei den Affekten bedeute dies, sie in der richtigen Intensität, für eine angemessene Zeit, in der passenden Situation, auf die richtige Weise und aus den richtigen Gründen zu empfinden. In ähnlicher Weise bedeutet dies für die Handlungen, dass die guten Menschen die richtigen Ziele aus den richtigen Motivationen, auf die richtige Weise und im richtigen Moment verfolgen218. Es sei z.B. einfach sich zu ärgern oder Geld auszugeben;

dagegen sei es gar nicht einfach den Affekt des Zorns richtig zu empfinden oder Geld richtig auszugeben, i.e. entsprechend den oben genannten Bedingungen von Ziel, Situation, Zeit, Art und Weise und Intensität. Handeln und empfinden gemäß dem Gutsein sei extrem schwierig, daher sind die Handlungen und Affekte des guten Menschen gut, selten, lobenswert und schön (dio/per to\ eu)= kai\ spa/nion kai\ e)paineto\n kai\ kalo/n.)219. Ähnlich äußert Aristoteles sich in der Rhet.: „Das Seltenere verdient mehr Lob, da es schöner ist.“220

Hinzu kommt noch, dass der gute Mensch um des Schönen willen oft Schmerzen erleiden und sogar sterben muss221. Wie wir im Fall des Achills sahen, wählt der gute Mensch eher ein kurzes, dafür aber von denen das Übermaß wie auch der Mangel eine Verfehlung darstellt, das Mittlere dagegen gelobt wird und das Richtige trifft. Dies beides aber [Gegenstand von Lob und richtig zu sein] sind Kennzeichen des Gutseins. Das Gutsein ist also eine Art von Mitte (meso/thj), das sie auf das Mittlere (me/sou) zielt.“ . Eine ähnliche Definition des Gutseins kommt in EE 1222a6-12.

218 Vgl. EN 1109a28-29 und 110914-16. Die gleiche Idee finden wir in EN 1110a29-b1: „Es ist allerdings manchmal schwierig zu beurteilen (diakri=nai), was man um welcher Dinge willen wählen und was um welcher Dinge willen ertragen muss; und noch schwieriger ist es, an unseren Urteilen festzuhalten.“ Das Erste ist eine Leistung des Intellekts, das Zweite eine des Charakters.

219 EN 1109a26-30.

220 Rhet. 1365a4-7.

221 Vgl. EN 1117a32-b16. Siehe auch EN 1169a18-20.: „Auf den Guten trifft es auch zu, dass er vieles um der Freunde und um seines Landes willen tut und, wenn nötig, sogar für sie stirbt.“ Übers.: Aristoteles/Wolf (2006).

bedeutenden Taten geprägtes Leben als ein langes unbedeutendes Leben222. Denn für den guten Menschen ist nicht jede Art von Leben wertvoll223. Das Überleben ist nicht das höchste Ziel des guten Menschen.

Und es ist manchmal besser zu sterben, als ein schändliches Leben weiter zu führen:

„Zu einigen Handlungen aber darf man sich vielleicht nicht zwingen lassen, sondern sollte vielmehr, nachdem man das Schlimmste erlitten hat, den Tod auf sich nehmen.“224.

Das Gutsein ist also schön, weil es uns in der Lage versetzt, Handlungen durchzuführen, die gut, selten, bedeutend und schwierig sind. Durch diese schönen Handlungen gewinnt unser Leben an Größe und Bedeutung.

Durch diese schönen Handlungen wird unser Leben wertvoll.

Der gute Mensch wählt in jeder Situation das Schöne und immer, wenn es dazu kommt, etwas Lobenswertes zu tun, hat er mehr Anteil am Schönen, indem er die schönsten Taten hervorbringt225: So übernimmt Achill im Krieg gegen die Troer die größte Last des Kampfes, wie er selbst behauptet226, weil es zum Besten gehört die schönsten Handlungen durchzuführen.

Beim Gutsein finden wir allerdings zugleich einen instrumentellen Aspekt:

Durch das Gutsein ist der Mensch imstande, bei jeder Wahl das Beste für sich herauszuholen: Der seriöse Mensch (spoudai=oj) leitet sein Leben

222 Vgl. EN 1169a22-26.

223 Vgl. E. 1124b6-9.

224 EN 1110a26-27. Übers. Aristoteles/Wolf (2006). Vergleiche auch den, nach Aristoteles Worten, „gelobten Ausspruch des Anaxandrides“: „Schön ist zu sterben, bevor man etwas getan hat, was des Todes würdig ist.“ Rhet. 1412b17-18. Übers.: Aristoteles/Rapp (2002) B1.

225 Vgl. EN 1169a31-1169b1.

226 Vgl. Homer, Ilias I. 165-166.

gemäß dem „lo/goj“, d.h. gemäß der Überlegung227. Er lässt sich von der Vernunft (nou=j) überzeugen und die Vernunft wählt immer das Beste für ihn (pa=j ga\r nou=j ai(rei=tai to\ be/ltiston e(autw=|)228. Das Beste für die Menschen ist das Schöne. Und schön sind die Handlungen gemäß des Gutseins.

Dass der gute Mensch bzw. die guten Menschen immer das Beste und Schönste für sich wählen, wiederholt Aristoteles mehrmals in EN IX 8: Der gute Mensch wählt die schönsten und größten bzw. bedeutendsten Güter (ta\ kallista kai\ ma/list ) a)gaqa/)229; er wählt unter den guten Dingen die Bedeutendsten ( me/gista tw=n a)gaqw=n)230; die guten Menschen wählen das Schönste für sie selbst ( ai(rou=ntai dh\ me/ga kalo\n e(autoi=j )231; der gute Mensch teilt sich durch sein Handlen das größere Gut zu ( to\ dh\ mei=zon a)gaqo\n e(autw=|

a)pone/mei)232.

Darüber hinaus wird der gute Mensch dank der schönen Handlungen von seinen Mitbürgern gelobt, denn seine Handlungen tragen zum gelungenen Zusammenleben bei:

„Diejenigen nun, die sich in besonderem Maß um schöne Handlungen bemühen, werden von allen akzeptiert und gelobt (a)pode/xontai kai\ e)painou=sin). Wenn aber alle um das Schöne wetteifern und sich anstrengen würden, die schönsten Dinge zu tun, dann wäre für die Gemeinschaft alles so, wie es sein soll, und für jeden Einzelnen wären die größten der Güter vorhanden, wenn das Gutsein doch ein so beschaffenes Gut ist.“233.

227 Vgl. EN 1169a5. Ich folge Aristoteles/Wolf (2006) in der Übersetzung von

lo/goj“ mit „Überlegung“ und von „nou=j“ mit „Vernunft“.

228 Vgl. EN 1169a16-18.

229 Vgl. EN 1168b29-30.

230 Vgl. EN 1169a10-11.

231 Vgl. EN 1169a26.

232 Vgl. EN 1169a28-29.

233 Vgl. EN 1169a6-11.

Das Gutsein können wir also in einer Art Mittel-Zweck Beziehung stellen:

Das Gutsein ist „nützlich“ um schöne Handlungen. Das Gutsein ist ein Instrument um Gutes und Großes in der Gesellschaft zu bewirken. Das Gutsein ist deshalb nützlich in der hier besprochenen ersten Bedeutung (Mittel-Zweck Beziehung).

Sobald wir das Gutsein als ein Werkzeug des Wählens in Bezug auf das Handeln verstehen, wird die Rolle des intellektuellen Gutseins offensichtlich. Zur Erinnerung: Am Anfang dieses Kapitels wurde gesagt, dass sowohl die charakterlichen Formen des Gutseins als auch die intellektuellen Formen des Gutseins immer das Lob verdienen, weil sie sowohl allein genommen als auch für den, der sie hat, immer gut sind. Es war dann aber nicht evident, welche Rolle denn die intellektuellen Formen des Gutseins für das eigene Interesse bzw. für das gelungene Leben spielen könnten. Die Antwort haben wir inzwischen entdeckt: Das richtige Unterscheiden zwischen „größeren“ und „kleineren“ menschlichen Gütern ist eine eminent intellektuelle Leistung.

Wer nach dem Gutsein handelt bzw. wer schön handelt, agiert in jeder Situation auf angemessene Weise, d.h. auf eine Weise, die für eine spezifische gegebene Situation am geeignetsten ist. Das Finden dieses Angemessenen (meso/thj) ist indes eine intellektuelle Aufgabe.

Deswegen behauptet Aristoteles, die Klugheit oder „praktische Weisheit“

(fro/nhsij) sei für jede charakterliche Form des Gutseins unentbehrlich234.

234 „Das Gutsein ist also eine Disposition, die sich in Vorsätzen äußert (e(/cij proairetikh/), wobei sie in einer Mitte liegt, und zwar der Mitte in Bezug auf uns, die bestimmt wird durch die Überlegung (w(risme/nh| lo/gw|), das heißt so, wie der Kluge sie bestimmen würde (fro/nimoj o(ri/seien).“ EN 116b36-1107a2. Eine ähnliche Überlegung befindet sich in EE 1220b21-35. Auch hier wird durch das Wissen (e)pisth/mh) und die Vernunft (lo/goj) „das Mittlere“

bzw. „das Beste“ in Bezug auf uns (to\ pro\j h(ma=j) bestimmt. Siehe auch EN

Die Tapferkeit, die Gerechtigkeit, die Besonnenheit usw. sind völlig auf die Klugheit angewiesen, um bestimmen zu können, wo genau das jeweils angemessene Handeln gemäß der Tapferkeit, der Gerechtigkeit, der Besonnenheit usw. liegt. Dank der Klugheit ist der Tapfere etwa imstande richtig einzuschätzen, ob vor ihm eine Gefahr lauert und ob er dieser Gefahr standhalten darf oder eher von ihr weglaufen muss. Durch die Klugheit erwägt der gute Mensch, welche die angemessene Reaktion ― d.h. die Reaktion gemäß dem Gutsein — auf eine problematische Lage ist. Die Klugheit gewährt dem guten Menschen die oben genannte Regel oder das Maß, um schwierige Situation richtig zu evaluieren und auf sie optimal zu reagieren235.

Ohne das Instrument der Klugheit ist es unmöglich die allein genommenen guten Dinge gut, d.h. als dem eigenen Glück förderlich, zu benutzen.

Deshalb wird in EE festgestellt, dass demjenigen, der ohne praktische Weisheit ist, dem „a)/frwn“, die allein genommen guten Dingen nichts nützt, genau so wenig wie dem Ungerechten und dem Unbesonnenen236.

Wir sehen also, dass das Gutsein nützlich in drei der vier vorgestellten 1140b4-6: „Es bleibt also, das sie [die Klugheit] eine mit Überlegung verbundene wahre Disposition des Handelns ist, die sich auf das bezieht, was für den Menschen gut oder schlecht ist“. Übers.: Aristoteles/Wolf (2006). So wie EN 1140b20-21: „So ist also die Klugheit notwendigerweise eine mit Überlegung verbundene Disposition des Handelns in Bezug auf die menschlichen Güter“.

Siehe auch die Definition von Loening (1903) S. 41: „Unter der fro/nhsij versteht unser Philosoph diejenige dauernde, zuständliche Geistesverfassung (e(/cij), kraft deren der Mensch die Fertigkeit besitzt, das wahrhaft Gute bezüglich des menschlichen Handelns im allgemeinen, wie das zu seiner Realisierung im Einzelfall Dienliche richtig zu erkennen und vermittelst dieser Erkenntnis in guten Handlungen auch tatsächlich zur Ausführung zu bringen.“

235 Diese praktische Klugheit (fro/nhsij) ist wiederum der Weisheit (sofi/a) subordiniert. Siehe dazu u.a. EN 1144b1-1145a11, EN 1144a20-b28.;

EN 1144b1-1145a11 und EN 1110a29-b1. Auch Aristotle/Burnet (1900) S. 283, 285, 287.

236 Vgl. EE 1248b26-34.

Bedeutungen von „nützlich“ ist. Das Gutsein ist erstens instrumentell nützlich, und zwar zum Zweck des schönen Handelns; zweitens ist es auch dem eigenen Glück förderlich. Drittens ist das Gutsein nützlich für die eigenen Interessen, solange diese Interessen sich am Schönen ausrichten und nicht am Angenehmen oder Nützlichen im dritten Sinn (nützlich für das Überleben)237.

Nach diesem Exkurs über das Gute allein genommen und das Gute für jemanden, und nachdem wir erkannt haben, warum eigentlich das Gutsein schön, wählenswert, nützlich und lobenswert ist, sind wir nur in der Lage, einen erneuten Annäherungsversuch an das Verständnis der Definition des Schönen mit größeren Erfolgsaussichten zu unternehmen.

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 114-120)