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Das vorsätzliche Handeln

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 195-0)

IV. Richtig loben und tadeln

1. Die Formen der Freiwilligkeit

1.2. Das vorsätzliche Handeln

a) Was ist der Vorsatz?

Aristoteles zufolge ist der Vorsatz das wichtigste Kriterium für die Erteilung vom Lob oder Tadel. Wenn wir entdecken wollen, wie der Charakter einer Person beschaffen ist bzw. ob sie das Gut- oder das Schlechtsein verinnerlicht hat, müssen wir vor allem auf ihre Vorsätze achten. Denn sowohl gute als auch schlechte Menschen handeln bei wichtigen Gelegenheiten meistens vorsätzlich421. Daher müssen wir beim Loben und Tadeln eher auf den Vorsatz als auf die Leistungen oder Taten der Person achten:

„Ferner: bei unserem Lob und Tadel achten wir in der Regel eher auf den den Vorsatz als auf die Leistungen.“422.

419 Vgl. EE. 1226b29-36, besonders 30-31.

420 Vgl. EE 1228a9-18.

421 Vgl. EE 1228a1-5.

422 e)/ti pa/ntaj e)painou=men kai\ ye/gomen ei)j th\n proai/resin

Um die enge Beziehung des Vorsatzes mit dem Charakter zu verstehen, müssen wir zunächst wissen, was eigentlich ein Vorsatz ist. Angesichts zweier Stellen in EE II423, die ich im vorherigen Abschnitt kommentiert habe, scheint es, dass der Vorsatz weder etwas mit der Vernunft noch mit dem Handeln aus dem Thymos noch mit dem sinnlichen Begehren zu tun hat. Zudem scheint es, dass der Vorsatz mit keiner Form des Strebens (o)/recij) identisch ist und daher keine Motivation für das Handeln bilden kann. Ich werde zunächst diese beide Probleme behandeln und anschließend auf die Verbindung zwischen dem Vorsatz und dem Charakter zurückkommen.

Wie wir sahen, zählt Aristoteles drei verschiedene Formen der Freiwilligkeit auf: das Handeln gemäß dem Streben (kat o)/recin), das Handeln gemäß dem Vorsatz (kata\ proai/resin) und das Handeln gemäß dem diskursiven Denken (kata\ dia/noian)424. Diese Unterteilung legt nahe, dass das vorsätzliche Handeln weder am diskursiven Denken ― und daher am Überlegen ― noch am Streben teilnimmt.

Hinzu kommt, dass es bei der Dreiteilung des Strebens in Streben aufgrund eines vernünftigen Wunschs, Streben aufgrund des Thymos und Streben aufgrund eines sinnlichen Begehrens angeblich keinen Platz für den Vorsatz gibt425. Denn der vernünftige Wunsch gehört offensichtlich zum diskursiven Denken, und der Thymos und das sinnliche Begehren sind die zwei übrigen Formen des Strebens, die unfähig zum Überlegen ble/pontej ma=llon h)\ ei)j ta\ e)/rga: EE 1228a11-13.

423 Vgl. EE 1223a23-27; EE 1224a4-7.

424 [to\ e(kou/sion FG] triw=n dh\ tou/twn e(/n ti do/ceien <a)\n>

ei)=nai, h)/toi kat o)/recin h)\ kata\ proai/resin h)\ kata\ dia/noian, to\ me\n e(kou/sion kata\ tou/twn ti, to\ d a)kou/sion para\ tou/twn ti. EE 1223a23-26.

425 a)lla\ mh\n h( o)/recij ei)j tri/a diairei=tai, ei)j bou/lhsin kai\ qumo\n kai\ e)piqumi/an. EE 1223a23-27.

sind. Diese angebliche Abgrenzung des Vorsatzes gegenüber der Überlegung sowie gegenüber dem Streben im Allgemeinen wird später in EE II sogar bekräftigt:

„Wenn nun aber das Willentliche [i.e. das Freiwillige FG] notwendig eines von folgenden drei Dingen sein muß: entweder etwas im Bereich der Strebung (h)\ kat o)/recin) oder der Entscheidung [i.e.

dem Vorsatz: h)\ kata\ proai/resin FG] oder des Denkens [i.e.

der Überlegung: h)\ kata\ dia/noian FG], und wenn es das erste und das zweite nicht sein kann, so bleibt nur übrig, daß das Willentliche [i.e. das Freiwillige FG] in einem Handeln erscheine, das von einem irgendwie gearteten Durchdenken (der Situation) bestimmt wird.“426

Wie in EE 1223a23-27 zählt Aristoteles hier wieder die Formen der Freiwilligkeit auf. Und wieder identifiziert er den Vorsatz weder mit dem Streben noch mit dem diskursiven Denken bzw. mit der Überlegung.

Aristoteles behauptet sogar, dass weder das Streben (gemeint sind der Thymos und das sinnliche Begehren) noch der Vorsatz teil am diskursiven Denken haben, sondern nur der vernünftige Wunsch. Aber was ist dann der Vorsatz, wenn er weder eine Operation des Denkens noch eine Strebung ist?

Mit dieser Frage beschäftigt sich Aristoteles ausdrücklich auch in EE II 9-10. Er akzeptiert, dass der Vorsatz weder mit einer Meinung noch mit einem vernünftigen Wunsch gleichzusetzen ist. Und trotzdem enthält der Vorsatz sowohl eine Meinung als auch einen vernünftigen Wunsch427.

426 ei) de\ a)na/gkh me\n h)=n triw=n tou/twn e(/n ti ei)=nai to\

e(kou/sion, h)\ kat o)/recin h)\ kata\ proai/resin h)\ kata\ dia/noian, tou/twn de\ ta\ du/o mh\ e)sti/, lei/petai e)n tw=| dianoou/meno/n pwj pra/ttein ei)=nai to\ e(kou/sion. EE 1224a4-7. Übers.:

Aristoteles/Dirlmeier (1984), S. 33

427 e)peidh\ ou)=n ou)/te do/ca ou)/te bou/lhsi/j e)sti proai/resi/j e)stin w(j e(ka/teron, ou)d a)/mfw e)cai/fnhj ga\r proairei=tai me\n ou)qei/j, dokei= de\ pra/ttein kai\ bou/lontai : w(j e)c a)mfoi=n a)/ra: ?? a)/mfw ga\r u(pa/rxei tw=| proairoume/n% tau=ta. EE 1226b3-5.

Wie sich aus dem griechischen „proai/resij“ herauslesen lässt, das aus „pro/“ (für) und „ai(/resij“ (die Wahl, die Entscheidung für etwas) zusammengesetzt ist, impliziert ein „Vorsatz“, eine „proai/resij“, dass man sich für etwas anstelle von etwas Anderem entscheidet bzw. etwas Bestimmtes vor etwas Anderem vorzieht. Damit diese Diskriminierung überhaupt stattfinden kann, muss die Person zuvorderst eine praktische Betrachtung bzw. eine auf das Handeln bezogene Überlegung (boulh/) vollbringen. Deswegen enthält der Vorsatz eine aus einer Überlegung geschaffene Meinung:

„In gewisser Weise enthüllet dies allein schon der Name. Denn die Entscheidung [i.e. der Vorsatz: proai/resij FG] ist eine Wahl (ai(/resij), aber nicht in einfachem Sinn, sondern indem man dem einen vor dem anderen den Vorzug gibt. Dies aber ist nicht möglich ohne Überprüfung (ske/yij) und Rat [i.e. Überlegung: boulh/].

Daher entsteht die Entscheidung aus einer Meinung beratenden Charakter (dio\ e)k do/chj bouleutikh=j e)stin h( proai/resij.)“428.

Auch in der EN sagt Aristoteles in Bezug auf den griechischen Namen des Vorsatzes, dass zum Vorsatz das Überlegen und das praktische Denken gehören429. Wer einen Vorsatz fasst, muss als Erstes überlegen, welche Möglichkeiten tatsächlich vor ihm liegen bzw. was durch sein Handeln erreicht werden kann. Danach muss er die verschiedenen Möglichkeiten im Hinblick auf ein vorgegebenes Ziel erwägen und diese Möglichkeiten miteinander vergleichen. Und schließlich muss er sich für die beste oder zuträglichste Möglichkeit entscheiden430.

Wir sehen also, dass das Fassen eines Vorsatzes sehr wohl eine Tätigkeit des diskursiven Denkens bzw. des praktischen Überlegens ist. Damit ist 428 EE 1226b6-9. Übers.: Aristoteles/Dirlmeier (1984), S. 40.

429 h( ga\r proai/resij meta\ lo/gou kai\ dianoi/aj.

u(poshmai/nein d e)/oike kai\ tou)/noma w(j o)\n pro\ e(te/rwn ai(reto/n. EN. 1112a15-18.

430 Für die Genese des Vorsatzes vgl. EE 1226b9-17.

das erste Problem hinsichtlich des Vorsatzes gelöst. Kommen wir nun zum zweiten Problem.

So wie der Vorsatz ein besonderer Fall des praktischen Überlegens ist, so ist er auch ein besonderer Fall des Strebens, und zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits ist er ein Streben, das immer von einer vernünftigen Meinung begleiten wird. Andererseits ist er ein Streben, dessen Ursprung in einer praktischen Überlegung zu finden ist. Dies wird von Aristoteles in EE II 10 erklärt:

„Was aber die Entscheidung [i.e. den Vorsatz: proai/resij]

betrifft, so ist klar, daß sie weder Wunsch (bou/lhsij) noch Meinung (do/ca) in einfachem Wortsinn ist, sondern Meinung und Strebung (o)/recij) zusammen, wenn sie aus vollzogener Beratung heraus eins geworden sind “431.

Diese begleitende Meinung ist allerdings keine gewöhnliche Meinung432. Denn eine gewöhnliche Meinung betrifft sowohl das Ewige und Unveränderbare wie das Unmögliche oder das, was an uns liegt. Und sie wird als wahr oder falsch bewertet. Im Gegensatz dazu betrifft die Meinung des Vorsatzes lediglich das für uns Mögliche, und sie wird im Hinblick auf unseres Wohl als gute oder schlechte Meinung qualifiziert433. Der Vorsatz und seine begleitende Meinung verdienen gelobt zu werden, wenn sie das Nötige oder Richtige in einer spezifischen Situation getroffen haben. Dagegen verdient eine gewöhnliche Meinung gelobt zu werden, wenn sie die Wahrheit trifft434.

431 EE. 1227a3-5. Übers.: Aristoteles/Dirlmeier (1984), S. 41.

432 Für die folgende Analyse stütze ich mich auf EN 1111b30-1112a7. Dort erörtert Aristoteles, warum ein Vorsatz und eine Meinung nicht dasselbe sind.

Wie wir aber gesehen haben, ist ein Vorsatz immer von einer Meinung begleitet.

Demzufolge unterscheide ich in dieser Analyse zwischen einer gewöhnlichen Meinung und einer Meinung, die einen Vorsatz begleitet.

433 Vgl. EN 1111b30-1112a4.

434 kai\ h( me\n proai/resij e)painei=tai tw=| ei)=nai ou(= dei=

ma=llon h)\ tw=| o)rqw=j, h( de\ do/ca tw=| w(j a)lhqw=j. EN 1112a5-7.

Dass der Vorsatz ein aus einer praktischen Überlegung entstammendes Streben ist, wird sowohl in EE435als auch in EN436 mit Hinweis auf den Ursprung oder das Prinzip des Vorsatzes (a)rxh/) behauptet. Weil der Vorsatz ein Streben aus einer praktischen Überlegung ist, ist er auch ein vernünftiger Wunsch (bou/lhesij). Allerdings unterscheidet sich der Vorsatz von den übrigen vernünftigen Wünschen in drei Punkten:

Erstens betrifft der Vorsatz immer das für uns Mögliche. Während die übrigen vernünftigen Wünsche sowohl das Mögliche als auch das Unmögliche betreffen. Denn wir wünschen oft Dinge, obwohl wir die Erfüllung dieser Wünsche für unmöglich halten. So etwa, wenn jemand sich die Unsterblichkeit wünscht oder die Herrschaft über alle Menschen437. Dagegen fassen wir in der Regel keine Vorsätze, derartige unmögliche Dinge betreffen438.

Vorsätze über unmögliche Dinge zu fassen, ist für Aristoteles sogar ein Indiz von Dummheit439 oder von Wahnsinn440.

Außerdem beziehen sich die wichtigsten vernünftigen Wünsche

435 Vgl. EE. 1226b16-20 besonders: le/gw de\ bouleutikh/n, h(=j a)rxh\

kai\ ai)ti/a bou/leusi/j e)sti, kai\ o)re/getai dia\ to\

bouleu/sasqai.

436 EN 1113a9-12: o)/ntoj de\ tou= proairetou= bouleutou=

o)rektou= tw=n e)f h(mi=n, kai\ h( proai/resij a)\n ei)/h bouleutikh\ o)/recij tw=n e)f h(mi=n: e)k tou= bouleu/sasqai ga\r kri/nantej o)rego/meqa kata\ th\n bou/leusin. Siehe auch EN 1139a22-27.

437 Vgl. EE 1225b32-34. Beide Beispiele sind von Aristoteles.

438 Vgl. EE 1225b34-37. Die gleiche Idee kommt in EN 1111b19-26 zur Sprache.

Siehe auch An. 433a27-30, wo gesagt wird, dass das Streben sich immer nach dem „prakto\n a)gaqo/n“ richtet, i.e. nach etwas Gutem und durch unser Handeln Erreichbarem.

439 Vgl. EN 1111b20-22.

440 Vgl. EN 1112a19-22. Dort wird behauptet, wir interessierten uns für die praktischen Gedanken, die sich Menschen mit gesundem Verstand machen, nicht für die Gedanken der Dummen oder der Wahnsinnigen.

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 195-0)