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Übermaß und Mangel

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 135-140)

III. Was ist tadelnswert?

1. Das Schlechtsein

1.2. Übermaß und Mangel

In EE II definiert Aristoteles das charakterliche Gutsein als eine besondere Art des Mittleren274: In allem, was ein Fortdauerndes (to\ sunexe/j) und ein Trennbares (to\ diaireto/n) ist, finden wir immer Übermaß (h( u(perbolh/), Mangel (h( e)/lleipsij) und Mittleres (to\ me/son).

Und diese drei Aspekte können wir in Bezug auf einander oder in Bezug tw=n au)tw=n gi/nontai, a)lla\ kai\ ai( e)ne/rgeiai e)n toi=j au)toi=j e)/sontai: „Doch nicht nur sind die Ursprünge und Ursachen ihres Entstehens, Wachsens und Vergehens dieselben, sondern auch ihre Betätigungen finden in demselben Bereich statt.“ Übers.: Aristoteles/Wolf (2006). Dies bedeutet, dass Entstehung, Entwicklung, Bewahrung und Zerstörung einer Fähigkeit sich auf die gleichen Tätigkeiten beziehen. So werden z.B. die Entstehung, die Bewahrung und die Zerstörung der Gesundheit durch das Essen und Trinken befördert bzw.

beschädigt; so wird auch die Entstehung und Zerstörung der Gerechtigkeit in der Seele durch das Handeln mit anderen jeweils befördert oder beschädigt.

Selbstverständlich impliziert dies, dass die Tätigkeiten, die zerstören oder bewahren, die Tätigkeiten derselben Fähigkeit sind. Dazu siehe auch EN 1105a13-16, ähnlich in EE 1222a17-22.

273 Wir dürfen den Unterschied zwischen den technischen oder künstlerischen Dispositionen und den seelischen Dispositionen nicht aus dem Auge verlieren.

Dieser Unterschied ist von Bedeutung für die richtige Zuteilung von Lob und Tadel. Man muss jede künstlerische oder technische Disposition durch Belehrung und Übung langsam erwerben. Und demgemäß darf nicht jeder Mensch aufgrund seiner Unwissenheit bei einer spezifischen technischen Disziplin getadelt werden. Jemand, der keine Medizinausbildung absolviert hat, darf nicht als

„schlechter Arzt“ getadelt werden.

274 Die folgende Überlegung bezieht sich primär auf EE 1220b21-35, aber auch auf EE 1220a22-26.

auf uns bestimmen275. In allen Angelegenheiten ist das Mittlere in Bezug auf uns das Beste (e)n pa=si de\ to\ me/son to\ pro\j h(ma=j be/ltiston)276.

In der referierten Passage erklärt Aristoteles nicht, was er mit der Präzisierung über das Mittlere in Bezug auf uns eigentlich meint. Mir scheint die Ansicht naheliegend, dass er hier lediglich eine Umformulierung der Distinktion zwischen „allein genommen gut“ und „gut für uns“ vornimmt. Wir wissen z.B., dass alle Menschen sowohl Ernährung als auch körperliche Bewegung brauchen, um gesund zu bleiben. Sich richtig zu ernähren heißt, weder mehr noch weniger als nötig zu essen.

Und dasselbe gilt für die körperliche Bewegung. Jeder Mensch muss jedoch selbst herausfinden, woran im Einzelfall das Mittlere in Bezug auf die Ernährung und die körperliche Bewegung für ihn liegt. Aus der optimalen körperlichen Betätigung und der optimalen Ernährung ergibt sich das Wohlbefinden des Körpers (eu)eci/a)277. Aus dem abstrakten Wissen über das Übermaß, den Mangel und das Mittlere lassen sich keine persönliche Diät und kein persönliches Trainingsprogramm ausrichten.

Jeder muss wissen, was für ihn persönlich nötig ist.

Das Mittlere in Bezug auf uns als das Beste zu wählen, wird sowohl vom Wissen (h( e)pisth/mh) als auch von der Überlegung (o( lo/goj)

275 Vgl. EE 1220b21-22.

276 Vgl. EE 1220b27-28.

277 Vgl. EE 1220a22-25. u(pokei/sqw dh\ prw=ton h( belti/sth dia/qesij u(po\ tw=n belti/stwn gi/gnesqai, kai\ pra/ttesqai a)/rista peri\ e(/kaston a)po\ th=j e(ka/stou a)reth=j, oi(=on po/noi te a)/ristoi kai\ trofh\ a)f w(=n gi/netai eu)eci/a, kai\ a)po\ th=j eu)eci/aj ponou=sin a)/rista. Für den entsprechenden Gedanken in EN siehe EN 1106a33-b4, wo Aristoteles behauptet, dass das Extrem und der Mangel beim Essen, Trinken und der Gleichen nicht für alle die gleiche Quantität habe. Nahrung für zehn Minen sei für einen Athleten unzureichend, für einen Anfänger im Sport dagegen mehr als nötig.

eingefordert278. Das Mittlere für uns bringt jede menschliche Disposition in

pleiw=n) und dem Zuwenig (to\ e)la/ttwn), die zu vermeiden ist281. Das Gutsein ist ein mittlerer Punkt (meso/thj) zwischen zwei schlechten Extremen, die er jeweils als eine besondere Art von Übermaß (h( u(perbolh/) und Mangel (h( e)/lleiyij) versteht. Sowohl das Übermaß als auch der Mangel zerstören das charakterliche Gutsein und sind deshalb schlecht, ja, sie sind Formen des Schlechtseins (kaki/ai)282.

278 Vgl. EE 1220b28.

279 Vgl. EE 1220b29.

280 Vgl. EE 1220b34-35: w(/st a)na/gkh th\n h)qikh\n a)reth\n peri\

me/s a)/tta ei)=nai kai\ meso/thta tina/ . Siehe auch EE 1227b5-10, wo Aristoteles wiederholt, dass das charakterliche Gutsein eine „vorsätzliche mittlere Disposition in Bezug auf uns und betreffend die Lüste und die Schmerzen“ ist:

th\n a)reth\n ei)=nai th\n h)qikh\n e(/cin proairetikh\n meso/thtoj th=j pro\j h(ma=j e)n h(de/si kai\ luphroi=j [...] EE 1227b8-9.

281 Vgl. EN 1104a17-18.

282 prw=ton ou)=n tou=to qewrhte/on, o(/ti ta\ toiau=ta pe/fuken u(p

e)ndei/aj kai\ u(perbolh=j fqei/resqai, dei= ga\r u(pe\r tw=n a)fanw=n toi=j faneroi=j marturi/oij xrh=sqai w(/sper e)pi\ th=j i)sxu/oj kai\ th=j u(giei/aj o(rw=men: EN 1104a11-14. „Zuerst also muss man dieses betrachten, dass die so beschaffenen Dinge ihrer Natur nach durch Mangel und auch durch Übermaß zerstört werden, (denn ist es nötig, für das Unsichtbare das Sichtbare als Zeugnis zu verwenden) so wie wir im Bereich der körperlichen Kraft und der Gesundheit sehen.“ Es ist nicht offensichtlich, was mit den Worten „ta\ toiau=ta“, „die so beschaffenen Dinge“, gemeint ist. Aus dem Kontext aber kann man erschließen, dass „die so beschaffenen Dinge“ die körperlichen und charakterlichen Formen des Gutseins sind. Denn Aristoteles erklärt durch die körperliche Kraft und die Gesundheit — zwei Formen des körperlichen Gutseins die sichtbar sind —, zwei andere Formen des

Aristoteles illustriert die Art von Angemessenheit des charakterlichen Gutseins durch einen Vergleich mit der körperlichen Kraft und der Gesundheit. Die körperliche Kraft wird sowohl durch exzessives als auch durch mangelndes Training zerstört; die Gesundheit sowohl durch übermäßiges als auch durch mangelhaftes Trinken und Essen283. Ähnliches geschieht bei den charakterlichen Formen des Gutseins, wie der Tapferkeit (a)ndrei/a), der Besonnenheit (swfrosu/nh) und allen Übrigen. Wer vor allem flieht, da er alles fürchtet und keiner Sache standhält, wird feige (deilo/j). Wer dagegen nichts fürchtet und sich jeder Gefahr aussetzt, wird tollkühn (qrasu/j). Bezüglich der Besonnenheit — der guten Disposition, die uns erlaubt, richtig mit den körperlichen Lüsten und Schmerzen umzugehen —, wird derjenige, der jede körperliche Lust verfolgt, zügellos (a)ko/lastoj), wer dagegen sich jeder körperlichen Lust enthält, wird unempfindlich (a)nai/sqhtoj)284. Die schlechten Extreme zerstören die gute Disposition:

„Die Besonnenheit und die Tapferkeit werden also durch das Übermaß und den Mangel zerstört; durch das Mittlere aber werden sie bewährt.“285

Sowohl im Fall der körperlichen Formen des Gutseins — körperlicher Kraft und Gesundheit — als auch im Fall der Tapferkeit und der Besonnenheit charakterlichen Gutseins: die Besonnenheit und die Tapferkeit, die nicht sichtbar sind. Deshalb übersetzt z.B. Aristoteles/Wolf (2006) das „ta\ toiau=ta“ mit

„Dispositionen“, womit die guten Dispositionen gemeint sind. Der Kommentar von Aristotle/Burnet (1900) S. 80 zu dieser Stelle geht auch in diese Richtung: „ta\

toiau=ta“ : „things like goodness“. There is no need to seek a definite reference for the pronoun. Aristotle is here employing the dialactical method of ske/yij e)k tw=n o(moi/wn. (Prüfen aus dem Ähnlichen).“

283 Vgl. EN 1104a14-18.

284 Vgl. EN 1104a20-25.

285 fqei/retai dh\ swfrosu/nh kai\ h( a)ndrei/a u(po\ th=j u(perbolh=j kai\ th=j e)llei/yewj, u(po\ de\ th=j meso/thtoj sw/|zetai. EN 1104a25-27.

machen also die Extreme das Gutsein zunichte.

Auf längere Sicht gesehen zerstören die schlechten Extreme auch die jeweilige Disposition (e)/cij), zu der eine bestimmte Form des Gutseins gehört: Exzessives oder mangelhaftes Training bewirkt nicht lediglich eine Minderung der physischen Kraft. Gerade weil sie Extreme sind, bringen sie letztendlich den Körper in einen atrophierten Zustand. Zwar wird ein Mensch durch exzessives oder mangelhaftes Essen und Trinken zunächst nur weniger gesund, auf Dauer aber verliert er die Gesundheit und das Leben. Ähnliches geschieht bei den Extremen der Tapferkeit und der Besonnenheit. Bei der Tapferkeit verliert der, der alles fürchtet, letztendlich die Disposition zwischen Furchtbarem und Nicht-Furchtbarem zu unterscheiden, und damit die Fähigkeit, auf verschiedene Gefahren unterschiedlich zu reagieren. Im Fall der Besonnenheit verliert der, der alle körperlichen Lüste ohne Unterschied verfolgt und dadurch zügellos wird, die Disposition vermittels einer Überlegung zwischen verschiedenen körperlichen und nicht-körperlichen Lüsten zu unterscheiden. Letztendlich wird er nur noch körperliche Lüste anstreben.

Das charakterliche Schlechtsein zerstört also Dispositionen der menschlichen Natur, die unentbehrlich für den richtigen Umgang mit den verschiedenen guten Dingen sind, insbesondere für das gute Leben.

Deshalb muss man das Schlechtsein vermeiden.

Über das Gutsein und seine Relation zu den zwei schlechten Extremen müssen wir beachten, dass das Gutsein selbst ein Extrem ist: Es ist nämlich der beste mögliche Zustand einer menschlichen Disposition286. Deswegen impliziert nicht jede Abweichung des Gutseins gleich ein Schlechtsein. Nicht jede Abweichung vom rechten Maß oder einer Norm 286 Vgl. EN 1107a6-8 sowie EN 1108b11-15.

fällt in eines der Extreme bzw. in einen Exzess oder einen Mangel. Ein Mensch, der die Besonnenheit nicht besitzt, ist nicht gleich ein Zügelloser;

und ein Mensch, der nicht tapfer ist, ist nicht deswegen feige oder tollkühn.

Zwischen dem richtigen Maß des Gutseins und seinen jeweiligen Extremen gibt es zahlreiche Dispositionen, die weder mit dem Gutsein noch mit dem Schlechtsein völlig übereinstimmen, jedoch jeweils eher zum guten oder zum schlechten Extrem neigen287. Zwar sind vor allem die schlechten Extreme tadelnswert, trotzdem werden wir später in diesem Kapitel finden, dass es auch Dispositionen gibt, die zwischen den schlechten und guten Extremen angesiedelt sind, und trotzdem unter bestimmten Bedingungen den Tadel sehr wohl verdienen288. Diese

„Zwischendispositionen“ werden wir später in diesem Kapitel betrachten.

Jetzt kommen wir zum zweiten wichtigen Begriff im konzeptuellen Netz des Tadels: dem Hässlichen.

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