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Das Lobenswerte (to\ e)paineto/n): Versuch einer Definition

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 50-63)

II. Was ist lobenswert?

1. Das Lobenswerte und das Gutsein

1.1. Das Lobenswerte (to\ e)paineto/n): Versuch einer Definition

Das Lobenswerte (to\ e)paineto/n) behandelt Aristoteles ausdrücklich in EN I 12. Das Thema in diesem Kapitel ist die eu)daimoni/a bzw. das glückliche Leben. Aristoteles eröffnet das Kapitel mit der Frage, ob das Glück zu den lobenswerten (tw=n e)painetw=n) oder viel mehr zu den ehrenwerten Dingen (tw=n timi/wn) gehöre. Das Glück sei zu ehren, antwortet er, nicht aber zu loben.

Die Frage und die Antwort überraschen den Leser, weil in der Regel bei den alten Griechen „ehren“ (tima/w) und „loben“ (e)paine/w) als Synonyme verwendet werden. Aristoteles führt hier also eine sprachliche Unterscheidung ein, die keineswegs dem Standard der griechischen Sprache entspricht80. Trotzdem befindet sich eine ähnliche Klassifizierung in EE, wo er zwischen dem Lob (e)/painoj) und dem Glücklichpreisen (eu)daimonismo/j) unterscheidet81. Die Magna Moralia enthält außerdem die Distinktion zwischen guten und lobenswerten Dingen (ta\

e)paineta/) einerseits, und guten und ehrenwerten Dingen (ta\ ti/mia) andererseits82.

Wie diese Referenzen zeigen, ist die Unterscheidung zwischen

„ehrenwert“ und „lobenswert“ ein Teil des aristotelischen Repertoires für 80 Aristoteles selbst hält sich nicht rigoros an dieser Unterscheidung. Auch er verwendet oft „loben“ und „ehren“ wie Synonyme. Dazu siehe u.a. EN I 12, 1101b13-14 und EN 1101b31-34. Vergleiche auch EN 1123b34-1124a4 mit EN 1124a24-25, wo die Ehre als die Belohnung des Gutseins bezeichnet wird. Siehe auch Rhet. I 9, 1366b5-6, wo er sagt, „die Menschen ehren (timw=sin) die Gerechten und die Tapferen am meisten.

81 Vgl. EE 1219b8-16.

82 Vgl. MM 1183b18-28.

die Ausdeutung des Lobes. Wie begründet Aristoteles aber diese Innovation? Und was sagt uns dieser Unterschied zwischen Loben und Ehren über das Lobenswerte? Aristoteles beginnt die Behandlung des Lobenswerten (to\ e)paineto/n)83 mit einer knappen und tentativen Definition:

fai/netai dh\ pa=n to\ e)paineto\n tw=| poio/n ti ei)=nai kai\ pro/j ti pw=j e)/xein e)painei=sqai.84

„Es scheint also, dass alles, was lobenswert ist, deswegen gelobt wird, weil es von einer bestimmten Beschaffenheit ist und , weil es sich auf etwas Anderes in irgendeiner Weise bezieht.“ [Meine Hervorhebung].

Mein Übersetzungsvorschlag ist nicht unproblematisch. Wolf z.B.

übersetzt die Stelle so:

„Nun scheint alles, was gelobt wird, deswegen gelobt zu werden, weil es von einer bestimmten Art ist oder [meine Hervorhebung] weil es sich auf bestimmte Weise zu etwas anderem (pros ti) verhält;“85. 83 to\ e)paineto/n ist ein substantiviertes Verbaladjektiv aus e)paine/w (loben). Es gehört zu den Verbaladjektiven auf -to/n. Daher kann es sowohl das Bewirkte (luto/n „gelöst“) als auch das Bewirkbare (luto/n i.e. „lösbar“) bezeichnen. Hier bezeichnet es das Bewirkbare bzw. das Lobenswerte.

Zurecht kritisiert Irwin (1986), S. 127, Fn. 18, Allan (1976), S. 70, weil Allan die Bedeutung von e(paineto/n nicht richtig verstanden hat. Irwin schreibt über Allan: „(1) He prejudices the issue by rendering epaineton as „commended“

rather than „commendable“ (= worthy of commendation, as haireton often indicates what is choiceworthy, not what is actually chosen).“

84 EN 1101b12-14. Leider übersieht Irwin (1986) S. 127-128 in seiner Behandlung des Lobenswerten diese Referenz von der EN. Auch Rogers (1993) und Cooper (1999) Kapitel 11 übersehen in ihrer jeweiligen Behandlung des Lobenswerten diese wichtige Stelle. Irwin will in erster Linie beweisen, dass das Lobenswerte vor allem durch das altruistische Handeln definiert wird. Daher konzentriert er sich für die Bestimmung des Lobenswertes auf Rhet. I 9 (wo er Elemente, die für seine These sprechen, findet) und erwähnt diese Passage der EN nicht. Irwins Interpretation über das Schöne als das altruistische Handeln wurde von Rogers (1993) S. 362-371, und Cooper (1999) Kapitel 11, S. 272 besonders Fn. 30 kritisiert. Allerdings behauptet Rogers (1993), dass Aristoteles mit zwei unterschiedlichen Konzeptionen des Lobenswerten jeweils in seinen Ethiken und in Rhet. arbeite und, dass Aristoteles lediglich die Konzeption in den Ethiken für richtig halte, vgl. Rogers (1993) S. 369. Dies Schluss ist unbegründet.

Denn die Definition des Lobenswerten, die ich gerade analysiere, bewährt sich sowohl für die Ethiken als auch für die Beispiele der schönen Handlungen in Rhet.

85 EN 1101b12-14 übers. Wolf: Aristoteles /Wolf (2006) S. 68. Auch

Gauthier-[Meine Hervorhebung].

Nach Wolfs Vorschlag würde Aristoteles zwei Charakteristiken erwähnen, die je für sich allein genommen genügen würden, um das Lobenswerte zu definieren: Etwas ist lobenswert, weil es von einer bestimmten Art ist oder, weil es sich in irgendeiner Weise zu etwas Anderem verhält. Ich glaube nicht, dass diese Interpretation den Sinn der Zeile trifft. Bevor ich die Gründe für diese Überzeugung präsentiere, hilft es zwei Übersetzungsvorschläge zu erwähnen, die für meine Übersetzung sprechen. Ch. Rowe z.B. übersetzt die Zeile so:

„Everything praised appears to be praised for being of a certain quality and being disposed in a certain way towards something;“86

Ähnlich wie Rowe gibt Didots Ausgabe den Satz wieder:

„Videtur igitur id omne, quod laudabile est, ob eam causam esse laudabile, quod sit cujusdam modi, et ad aliud quodam modo referatur.“87

Auch nach diesen Übersetzungsvorschlägen muss das Lobenswerte also zwei Kriterien erfüllen: Es muss erstens von einer gewissen Eigenschaft sein und zweitens muss es sich auf eine gewisse Art und Weise auf etwas Anderes beziehen.

Schwerer als diese Übersetzungsvorschläge wiegt für meine Interpretation jedoch die weitere Überlegung von Aristoteles über das Lobenswerte in erwähnter Stelle. Demnächst zitiere ich deshalb den kompletten Paragrafen. Der ist allerdings nicht ganz leicht zu verstehen. Nach dem Jolif übersetzt mehr im Sinn von Wolf: „Donc, il saute aux yeux que, lorsque nous louons quelque'un; nous le louons de posséder telle ou telle qualité, ou telle ou telle aptitude par rapport à ceci ou cela.“ [Hervorhebung im Original]

Aristoteles/Gauthier-Jolif (1968 resp. 2002) I, 2. S. 27. Jedoch findet man im kritischen Apparat von Bywater keine Erwähnung in Bezug auf die Zeile 1101b13, wo Wolf sowie Gauthier „kai/“ mit „oder“ bzw. mit „ou“ übersetzt.

86 Aristotle/Rowe-Broadie (2002). Meine Kursiven.

87 Aristoteles: Opera omnia. (1859 resp. 1998) Didot Hrsg. Band 2. EN 1101b12-14. Meine Kursiven.

Zitat erläutere ich, wie m.E. diese Überlegung über das Lobenswerte zu verstehen ist, und warum Wolfs Übersetzung eigentlich unhaltbar ist. Die Überlegung lautet also:

„Nun scheint alles, was gelobt wird, deswegen gelobt zu werden, weil es von einer bestimmten Art ist, und [„oder“ bei Wolf] weil es sich auf bestimmte Weise zu etwas anderem (pro/j ti) verhält; denn wir loben den Gerechten, den Tapferen und allgemein den Guten (to\n a)gaqo/n) und das Gutsein (th\n a)reth/n) aufgrund der Handlungen (ta\j pra/ceij) und Hervorbringungen (ta\ e)/rga);

und wir loben den Starken, den Läufer und unter den Anderen loben wir jeden Einzelnen, der von einer gewissen Beschaffenheit ist (tw=|

poio/n tina pefuke/nai) und der sich auf eine bestimmte Weise (tw=| poio/n) auf etwas Gutes (pwj pro\j a)gaqo/n ti ) und Bedeutendes [bzw. Seriöses] (spoudai=on) bezieht.“88.

Die Struktur des Abschnitts (EN 1110b12-18) ist folgende:

— Einführung einer tentativen Definition durch den Ausdruck

„fai/netai“. Ein Wort, das häufig von Aristoteles gebraucht wird, wenn er die geltende Meinung über ein Thema wiedergeben will89. Das Wort

„fai/netai“ liegt nahe, dass die vorgeschlagene Definition lediglich eine tentative und keine endgültige Definition ist. Einige Elemente dieser Definition sind unumstritten. Jedoch wird sich im Verlauf der Analyse des Lobenswerten zeigen, dass einige Aussagen in dem zitierten Abschnitt nicht zu Überlegungen passen, die Aristoteles an anderer Stelle anstellt.

88 EN 1101b12-18. Der komplette Abschnitt auf Griechisch lautet: fai/netai dh\ pa=n to\ e)paineto\n tw=| poio/n ti ei)=nai kai\ pro/j ti pw=j e)/xein e)painei=sqai: to\n ga\r di/kaion kai\ to\n a)ndrei=on kai\ o(/lwj to\n a)gaqo/n te kai\ th\n a)reth\n e)painou=men dia\ ta\j pra/ceij kai\ ta\ e)/rga, kai\ to\n i)sxuro\n de\ kai\ to\n dromiko\n kai\ tw=n a)/llwn e(/kaston tw=| poio/n tina pefuke/nai kai\

e)/xein pwj pro\j a)gaqo/n ti kai\ spoudai=on.

89 Barnes (1980) S. 491. Anm. 1. „[…] Unlike ‘seem’ in English, ‘fai/nesqai in Greek may be either (a’) non-veridical (‘He seems to be alive (but maybe he isn’t)’), or (b’) veridical (‘He is evidently guilty’). This distinction coincides, by and large, with the syntactical distinction between fai/nesqai + infinitive and fai/nesqai + participle.“

— Feststellung zweier entscheidender Eigenschaften des Lobenswerten bzw. zweier Eigenschaften derjenigen Dinge, die lobenswert sind. Die erste besteht darin, von einer gewissen Beschaffenheit zu sein. Die zweite darin, dass das Lobenswerte in einer bestimmten Relation zu etwas Anderem steht, und zwar zu etwas Gutem. Diese zwei Eigenschaften will ich untersuchen.

— Beispiele von Instanzen, die wir als lobenswert einschätzen: der Gerechte, der Tapfere, der Gute und das Gutsein.

— Zwei weitere Beispiele von Menschen, die wir normalerweise für lobenswert halten: der Starke und der Läufer.

— Wiederholung der zwei entscheidenden Eigenschaften als Eigenschaften eins zu lobenden Einzelnen.

Die Wiederholung der zwei Eigenschaften des Lobenswerten in EN 1101b13 und in EN 1101b17-18 betont, dass das Lobenswerte zwei Bedingungen erfüllen muss, und nicht die eine oder die andere90: Es muss einerseits von einer bestimmten Beschaffenheit sein — tw=| poio/n ti ei)=nai resp. tw=| poio/n tina pefuke/nai —, und andererseits muss es sich auf etwas Gutes und Bedeutendes auf eine bestimmte Weise beziehen — pro/j ti pw=j resp. pwj pro\j a)gaqo/n ti kai\

spoudai=on.

90 Richtig übersetzt Wolf die zweite Formulierung der Eigenschaften in EN 1101b17-18 mit „und“ nicht mit „oder“: „[…] und wir loben den Starken, den Läufer usw., weil er von einer bestimmten Art ist und sich auf bestimmte Weise zu etwas Gutem (agathos) und Hervorragendem (spoudaios) verhält.“ Meine Hervorhebung.

Was bedeuten diese beide Eigenschaften, die das Lobenswerte ausmachen?

Aristoteles nennt Beispiele von Gegenständen des Lobes, die diese Eigenschaften besitzen: Wir loben gewöhnlich den Gerechten, den Tapferen, den Guten , den Starken den Läufer und das Gutsein. Er nennt also fünf Personen und ein abstrakter Gegenstand. Alle diese sind sowohl von einer bestimmten Beschaffenheit als auch Ursprung von guten Handlungen und Leistungen. Die guten Handlungen und Leistungen sind Instanzen des Guten und Bedeutenden (a)gaqo\n kai\ spoudai=on), worauf das Lobenswerte sich beziehen muss.

Die zweite formale Bedingung des Lobenswerten — sich auf etwas Gutes und Bedeutendes zu beziehen — gewinnt auf diese Weise einen konkreten Inhalt: Der Gerechte führt gerechte Handlungen durch, und aufgrund dieser Handlungen verdient er das Lob; der Läufer schafft auch gute und bedeutende Leistungen und wird dank solcher Leistungen gelobt. Ähnliches gilt für die übrigen Beispiele. Was ist aber mit der bestimmten Beschaffenheit gemeint? Abgesehen von den Fällen des guten Menschen und des Gutseins (a)reth/) — die eine besondere Problematik aufweisen, auf die ich noch zurückkommen werde —, sind die anderen Beispiele nützlich, um die Bedeutung der Beschaffenheit (poio/n) zu erklären.

Der Gerechte, der Tapfere, der starke Athlet und der Läufer sind ständig in der Lage, ihre jeweils eigene Art von guten Handlungen oder Leistungen zu realisieren. Und ihre jeweiligen guten Handlungen und Leistungen sind das Resultat ihrer jeweiligen Beschaffenheit. In Bezug auf den Läufer und den starken Athleten besteht diese Beschaffenheit in einer guten körperlichen Verfassung, die sie durch kontinuierliches Trainieren

erworben haben. Es handelt sich um eine Beschaffenheit, weil der Starke seine Kraft auch außerhalb des Wettkampfes behält, genau wie der gute Läufer ein überragender Läufer bleibt, auch wenn er schläft. Die Fähigkeit des Läufers erschöpft sich nicht in einem Rennen, sie ist nicht die Leistung des schnellen Laufens. Sie ist vielmehr die Voraussetzung für diese Leistung — sie ist die Leistungsfähigkeit.

Eine gute Verfassung des Körpers wird von dem Sportler durch seriöses und diszipliniertes andauerndes und schwieriges Training, plus Belehrung und Diät, erworben bzw. entwickelt. Auf diesen schwierigen Prozess weist das Adjektiv „spoudai=oj“ („bedeutend“, „schwierig“, „seriös“) hin91. Denn eine solche Verfassung des Körpers auszubauen ist keine leichte Aufgabe. Und nicht jeder, der sich dafür eifrig bemüht, schafft es tatsächlich, sie zu entwickeln. Zwar werden die Athleten aufgrund ihrer Leistungen und nicht allein aufgrund ihrer Beschaffenheiten gelobt, jedoch wären solche hervorragenden Leistungen unmöglich, wenn sie nicht die richtige körperliche Verfassung als Voraussetzung hätten und bewahren würden.

Wie der Läufer und der starke Athlet haben auch der Gerechte und der Tapfere eine gute Verfassung entwickelt. Nur ist diese eine Verfassung der Seele, nicht eine des Körpers. Wie der Läufer hat auch der Tapfere durch kontinuierliches Üben seine Seele in eine bestimmte Beschaffenheit gebracht. Dank dieser Beschaffenheit hält der Tapfere während des Angriffs den feindlichen Truppen stand. Selbstverständlich bleibt der Tapfere auch dann tapfer, wenn er vor keiner Gefahr steht. Genau wie der Gerechte gerecht bleibt, auch wenn er nicht bei der Ausübung der politischen Macht im Gericht oder bei der Gesetzgebung ist.

91 Vgl. Pape (1954b) S. 925

Aristoteles nennt jede Beschaffenheit, die uns zu einer guten Handlung oder Leistung disponiert, „a)reth/“. Wie Stemmer überzeugend gezeigt hat, ist „Gutsein“ die beste Übersetzung für „a)reth“/92. Der Läufer, der starke Athlet, der Gerechte und der Tapfere haben jeweils eine Art von Gutsein, die sich bei der Durchführung von Handlungen und Leistungen einstellt. Dies erklärt, warum das Gutsein im Allgemeinen lobenswert ist.

Eine Definition von Gutsein bietet Aristoteles in EE:

„Über das Gutsein (a)reth/) wird angenommen, dass es die beste Verfassung (dia/qesij) oder Disposition (e(/cij) oder Fähigkeit (du/namij) bei jedem einzelnen Bereich ist, bei dem es einen bestimmten Gebrauch oder eine spezifische Hervorbringung gibt.“93.

Dass die „a)reth/“ eine Disposition und eine Verfassung ist, wird meistens akzeptiert. Dagegen wird immer wieder diskutiert, ob sie auch eine „du/namij“ ist. Die „a)reth/“ mit einer „du/namij“ in Verbindung zu bringen scheint besonders problematisch, weil Aristoteles die „a)reth/‟

92 Dazu Stemmer (1988) S. 1352: „Die Bedeutung des Wortes (a)reth/) dessen Etymologie ungeklärt ist, bestimmt sich durch seine Funktion als abstraktes Nomen zum (logisch) attributiv verwandten a)gaqo/j wie z.B. dikaiosu/nh (Gerechtigkeit) zu di/kaioj (gerecht) und sofi/a (Weisheit) zu sofo/j (weise). Deshalb kann man von dem, was ein gutes X ist, auch sagen, es habe die für ein X typische a)reth/. Von einem Menschen zu sagen, er habe a)reth/, bedeutet mithin nichts anderes als, daß er gut ist. Das Griechische kennt kein von a)gaqo/j (gut) sprachlich abgeleitetes abstraktes Nomen, es müsste a)gaqwsu/nh und a)gaqo/thj oder a)gaqi/a lauten […]. In diese Lücke ist a)reth/ eingerückt. Auch das Deutsche kennt kein von <gut> abgeleitetes Abstraktum […]. Deshalb kann man sich, will man über die Eigenschaft, die guten Dingen gemeinsam ist, sprechen, nur mit dem substantivierten Infinitiv

<das Gutsein> behelfen . <Gutsein> steht im Deutschen genau, wo im Griechischen a)reth/ steht.“ Ähnlich wie Stemmer gibt Burnet „a)reth/“ mit dem Wort „goodness“ wieder. Siehe Aristotle/Burnet (1900) S. 62 ff.

93 EE 1218b37-1219a1. tau=ta dh\ ou(/twj u(pokei/sqw kai\ peri\

a)reth=j, o(/ti e)sti\n h( belti/sth dia/qesij h)\ e(/cij h)\ du/namij e(ka/stwn, o(/swn e)sti/ tij xrh=sij h)\ e)/rgon.

in der EN von der „du/namij‟ abgrenzt. Dort behauptet er nämlich, die

„a)reth/‟ entstehe nicht von Natur aus, sondern werde sie durch Gewöhnung und/oder Belehrung erworben; dagegen entstehe eine

„du/namij‟ aus der Natur, unabhängig von jeglicher Gewöhnung und von unseren Handlungen94.

Ich denke, man darf durchaus die „a)reth/‟ als Fähigkeitdefinieren, es ist aber nötig, zwischen natürlichen und erworbenen Fähigkeiten (du/nameij) zu unterscheiden: In De Anima erklärt Aristoteles durch das Beispiel des Grammatikers, dass es verschiedene Arten von Fähigkeiten gibt. Jeder gesunde Mensch ist etwa in der Lage, das Wissen der Grammatik zu erwerben. Dies ist eine natürliche „du/namij‟ und keine

„a)reth/‟. Jeder normale Mensch und ein Grammatiker würden diese Fähigkeit gemeinsam haben, jedoch nicht auf dieselbe Art und Weise. Der normale Mensch hat nur die Fähigkeit in ihrer primitivsten Form, als eine natürliche Fähigkeit seines Körpers. Während der Grammatiker dieselbe natürliche Fähigkeit bis zur Vollendung gebracht hat. Deshalb ist der Grammatiker imstande, an die Grammatik zu denken, wann immer er das will. Die vollendete Fähigkeit nennt Aristoteles „a)reth/‟, sie ist aber zugleich eine Art von Fähigkeit (du/namij)95.

94 Vgl. EN 1106a2-112. Über diese Diskussion siehe z.B. Dirlmeiers Anmerkung zu EE 1218b37-1219a6, vgl. Aristoteles/Dirlmeier (1984) S. 221-222.

95 Vgl. An II 417a21-31. In dieser Absicht über die „a)reth/“ als besondere Art von „du/namij“ folge ich Viviana Cessi. Sie kommentiert den erwähnten Abschnitt mit den folgenden Worten: „du/namij heißt deshalb zum ersten die Möglichkeit, ein Wissen zu erwerben, zum zweiten, schon im Besitz eines Wissen zu sein. Der Übergang von der ersten zur zweiten Stufe bedarf einer Lernzeit. Wenn man hingegen ein Wissen schon besitzt, kann man es zu jeder Zeit aktualisieren (qewrei=n), wenn nichts daran hindert. Allein der Mensch, der sein Wissen aktualisiert, ist der Vollendung nach (e)ntele/xeia) wissend. Die anderen beide (der Lernfähige und der das Wissen Besitzende) sind es nur potenziell, obschon in verschiedener Weise.“ Cessi (1987) S. 61.

Der Unterschied zwischen natürlichen und erworbenen Fähigkeiten ist für das Erteilen des Lobes sehr wichtig: Aufgrund seiner grammatischen Kenntnisse verdient der Grammatiker das Lob, nicht aber der gewöhnliche Mensch. Um sein grammatisches Wissen zu erwerben, musste der Grammatiker sich einem intellektuellen Training unterziehen — einem seriösen, schwierigen und langwierigen Training (alles, was das Adjektiv das Adjektiv „spoudai=oj“ umfasst). Während der gewöhnliche Mensch in Bezug auf die Grammatik lediglich das kann, was wir von den meisten normalen Menschen erwarten dürfen. Dafür musste er kein besonderes Training absolvieren. Im Hinblick auf die Grammatik verdient deshalb der gewöhnliche Mensch kein Lob, da er nichts Nennenswertes geleistet hat.

Genau wie er kein Lob verdient, nur weil er laufen kann. Dagegen besitzen der gute Läufer, der starke Athlet, der Gerechte und der Tapfere jeweils eine spezifische Form des Gutseins. Der Läufer und der Starke besitzen jeweils eine Form des körperlichen Gutseins, der Gerechte und der Tapfere jeweils eine Form des seelischen Gutseins. Alle diese Formen des Gutseins sind schwer zu erwerben, und wir finden sie nur selten unter den Menschen. Menschen mit solchen guten, aber seltenen Fähigkeiten werden in der Regel gelobt.

Ich will nun zwei Bemerkungen in Hinblick auf diese verschiedenen Formen des Gutseins machen. Sie betreffen den Unterschied zwischen den körperlichen und den seelischen Formen des Gutseins.

1. Dank der verschiedenen guten Beschaffenheiten können einige Menschen Leistungen — bei körperlichen Formen des Gutseins — oder Handlungen — bei seelischen Formen — hervorbringen, die für Menschen ohne die jeweilige Form des Gutseins unmöglich sind. Solche Leistungen und Handlungen sind hervorragend und schwierig. Allerdings sind das Hervorragendsein und das Schwierigsein des körperlichen Gutseins von anderer Art als dieselben Attribute bezogen auf das seelische Gutsein: Für

das körperliche Gutsein zeigen sich diese Eigenschaften z.B. darin, dass der Läufer beträchtlich schneller als ein normaler Mensch läuft. Zwar können alle gesunden Menschen laufen, aber die Geschwindigkeit eines Athleten übertrifft die Geschwindigkeit der anderen Menschen, die das Gutsein des Laufens nicht besitzen. Es besteht also ein quantitativer Unterschied zwischen Läufern und Nicht-Läufern.

Dieser quantitative Unterschied existiert bei dem seelischen Gutsein nicht.

Denn es ist nicht so, dass alle Menschen gerecht handeln können, nur der Gerechte gerechter handelt als die anderen. Es ist viel mehr so, dass der Gerechte selbst in denjenigen schwierigen Situationen gerecht handelt, bei denen die meisten auf die Gerechtigkeit völlig verzichten. Der Gerechte ist in der Lage vorteilhafte, aber ungerechte Handlungen zu vermeiden, auch wenn solche Handlungen keine Strafe auf sich ziehen würden. Zugleich ist er fähig, aufgrund der Gerechtigkeit Widrigkeiten zu ertragen, wie Schmerz, Verachtung oder Armut.

Beim seelischen Gutsein zeigen sich das Hervorragend- und das Schwierigsein also dadurch, dass die anderen Menschen diese Handlungen nicht einmal durchführen können. Beim körperlichen Gutsein zeigt sich der Unterschied zu den übrigen Menschen hingegen dadurch, dass die anderen doch ähnliche Leistungen hervorbringen können, nur von einer geringeren Quantität. Kurz gesagt: Alle gesunden Menschen können laufen, jedoch können nicht alle unter schwierigen Umständen gerecht handeln.

2. Dank ihrer jeweiligen guten Beschaffenheit sind alle diese Menschen langfristig in der Lage, ihre guten Leistungen oder Handlungen hervorzubringen. Gutes zu leisten oder gut zu handeln ist bei ihnen kein zufälliges Vorkommnis oder eine Gegebenheit mit zahlreichen günstigen Faktoren. Die guten Leistungen oder Handlungen sind vielmehr die

notwendigen Konsequenzen ihrer jeweiligen innerlichen guten Disposition

notwendigen Konsequenzen ihrer jeweiligen innerlichen guten Disposition

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