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Die Prinzipien des menschlichen Handelns

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 186-195)

IV. Richtig loben und tadeln

1. Die Formen der Freiwilligkeit

1.1. Die Prinzipien des menschlichen Handelns

Aristoteles beginnt die Besprechung der Freiwilligkeit in EN III 1 mit der folgenden Überlegung:

„Das Gutsein betrifft also sowohl die Affekte als auch die Handlungen und bezüglich der freiwilligen Handlungen entstehen Lob und Tadel.

Bezüglich der unfreiwilligen Handlungen entsteht aber Nachsicht, manchmal sogar Mitleid. Es ist deshalb nötig für diejenigen, die über das Gutsein nachdenken, zwischen dem Freiwilligen und dem etwas über den Charakter der Person verraten und Handlungen, die in keinen Zusammenhang mit dem Charakter stehen und daher keinen Ansatzpunkt für Lob oder Tadel zulassen391.

390 th=j a)reth=j dh\ peri\ pa/qh te kai\ pra/ceij ou)/shj, kai\ e)pi\

me\n toi=j e(kousi/oij e)pai/nwn kai\ yo/gwn ginome/nwn, e)pi\ de\

toi=j a)kousi/oij suggnw/mhj, e)ni/ote de\ kai\ e)le/ou, to\

e(kou/sion kai\ to\ a)kou/sion a)nagkai=on i)/swj diori/sai toi=j peri\ a)reth=j e)piskopou=si, xrh/simon de\ kai\ toi=j nomoqetou=si pro/j te ta\j tima\j kai\ ta\j kola/seij. EN 1109b30-35. Vgl. die ähnliche Überlegung in EE 1223a9-20, wo Aristoteles betont, dass, wenn die Ursache einer Handlung die Gewalt, der Zufall oder die Natur ist, die Handlung weder tadelns- noch lobenswert ist.

391 Für die Bedeutung von „e(kousi/on“ bzw. „e(kw/n“ siehe Moline (1989). Die philologische Analyse von Moline, die Broadie ohne direkten Hinweis teilweise wiederholt (siehe Aristotle/Rowe-Broadie (2002) S. 327), ist interessant. Moline versucht nämlich, die Bedeutung von „e(kw/n“ bzw. „e(kou/sion“ und „a)/kwn bzw. „a)kou/sion“ vor allem durch ihre philologische Geschichte zu erklären. So interessant dieser Versuch ist, ist er letztendlich irreführend und unzureichend, denn das Ziel von EN III ist gerade die Bedeutung dieser Begriffe neu zu definieren. Für das Verständnis dieser Wörter ist deshalb die aristotelische Argumentation mit den Beispielen relevanter als die philologische Analyse.

Selbstverständlich sind ausschließlich freiwillige Handlungen in den Kategorien von Lob und Tadel zu beurteilen. Nur sie gewähren uns vertrauenswürdige Auskunft über den Charakter einer Person. Wie aber eine freiwillige von einer unfreiwilligen Handlung sich unterscheidet, muss noch geklärt werden.

Um das freiwillige Handeln zu erläutern, analysiert Aristoteles in EN III zunächst das unfreiwillige Handeln. Eine Handlung scheint unfreiwillig zu sein, wenn sie entweder aufgrund von Gewalt (bi/a) oder aufgrund von Unwissenheit (di ) a)/gnoian) getan wird.

Eine Handlung ist unfreiwillig aufgrund von Gewalt, wenn einerseits das Prinzip bzw. der Ursprung des Handelns außerhalb der Person (h( a)rxh/

e)/xwqen) liegt. Und wenn die Person nichts zum Geschehen beiträgt (mhde\n sumba/llw), und zwar weder als Handelnde (o( pra/ttwn) noch als Leidende (o( pa/sxwn). So wie wenn jemand von einem starken Wind oder von kräftigen Menschen ohne selbst etwas beizutragen irgendwo hergebracht wird392.

Eine der Bedeutungen des Begriffes Prinzip (a)rxh/) ist „Ursprung der Bewegung“. Im bereits erwähnten Fall des heftigen Winds ist der Ursprung der Bewegung außerhalb der Person. Sie wird vom Wind getragen, daher ist ihre Bewegung unfreiwillig. Wenn dagegen der Ursprung der Bewegung in der Person liegt, wenn sie und nicht der Wind ihre Körperteile bewegt, ist die Handlung freiwillig393. Hinsichtlich solcher Fälle sagt Aristoteles auch, dass das Handeln oder das Nicht-Handeln an der Person liege ( e)p ) au)tw=| )394. So viel über die Gewalt.

392 Vgl. EN 1110a1-4. Siehe auch EN 1110b1-3 und EN 1110b15-17.

393 Vgl. EN 1110a15-17 und EE 1222a18-29: Der Mensch ist ein Ursprung oder Prinzip von bestimmten Bewegungen, und die Handlungen sind Bewegung.

Siehe auch EE 1224b7-11.

394 Vgl. EN 1110a 17-18. Siehe auch EN 1111a22-29.

Aufgrund von Unwissenheit ist eine Handlung unfreiwillig, wenn die Person das für die Handlung relevante Wissen nicht besitzt und dieser Mangel keine Konsequenz ihres schlechten Charakters ist395. Der Betrunkene oder der Zornige verfügen etwa oft nicht über das Wissen, das für ihre Handlungen relevant ist. Dieser Mangel ist jedoch durch einen charakterlichen Fehler zu erklären396. Wenn der Mangel dagegen Konsequenz des begrenzten menschlichen Erkenntnisvermögens ist, ist die Handlung unfreiwillig und nicht tadelnswert397. Aristoteles erklärt ziemlich ausführlich, worin das für die Handlung relevante Wissen besteht und bietet sogar Beispiele für die verschiedenen Arten von Unwissenheit, die eine Handlung unfreiwillig machen können398.

Im Gegensatz der Eigenschaften der unfreiwilligen Handlung ist eine Handlung als freiwillig zu qualifizieren, wenn sie drei Bedingungen erfüllt:

Erstens muss das Prinzip des Handelns in der Person liegen und nicht außerhalb von ihr liegen. Zweitens muss die Person etwas zum Geschehen beitragen, sei es auf aktive, sei es auf passive Weise. Und drittens muss die Person über das für die Handlung relevante Wissen verfügen. Von diesen drei Bedingungen ist das Prinzip am wichtigsten.

Der Hinweis auf das Prinzip (a)rxh/) ist auch in der EE eine Konstante in der Diskussion über das Freiwillige und das Unfreiwillige399. Um das Freiwillige zu beschreiben (i.e. die Handlungen oder Hervorbringungen, die zum Freiwilligen gehören), bedient sich Aristoteles hier ähnlicher Formulierungen wie in der EN. Das Freiwillige wird auch in EE als das, was an den Menschen liegt ( o(\ e)f au(toi=j e)sti toi=j

395 Vgl. EN 1110b31-32. Siehe auch EE 1225a36-1225b16.

396 Vgl. EN 1110b25-27.

397 Vgl. EN 1110b33-1111a3.

398 Vgl. EN 1111a3-6, und EN 1111a18-19. Für die Beispiele siehe EN 1111a8-15. Siehe auch EE 1224a36-1225b16.

399 Die folgende Erklärung bezieht sich auf EE 1223a1-27.

a)nqrw/poij ) beschrieben400. Freiwillig sind also Handlungen, von denen der Mensch das Prinzip und der Herr ist ( a)rxh\ kai\ ku/rioj)401.

Wie in der EN behauptet Aristoteles auch in der EE, dass das Gutsein und das Schlechtsein sich auf die Hervorbringungen einer Person beziehen402. Hierbei sind Hervorbringungen nicht auf die Handlungen bezogen, sondern auch auf die Begierden und die Affekte. Darüber hinaus sind wir nur bei denjenigen Hervorbringungen oder Vorkommnissen zum Loben oder zum Tadel bereit, die wir verursacht haben. Wenn wir nicht die Ursache eines Vorkommnisses sind, sondern die Natur, der Zwang bzw.

die Notwendigkeit oder der Zufall, sind wir nicht zu tadeln. Und wir sind auch nicht zu tadeln, wenn jemand anderes Ursache ist und nicht wir.

Freiwillig ist also jede Hervorbringung, deren Prinzip oder Ursache in uns bzw. im Menschen lieg.

Allerdings scheint es, Aristoteles zufolge403, dass wir auf dreifache Weise freiwillig handeln können: zum einen, wenn wir gemäß einem eigenen Streben (kat o)/recin) handeln; zum anderen, wenn wir vorsätzlich handeln (kata\ proai/resin); und letztens, wenn wir gemäß dem diskursiven Denken (kata\ dia/noian) handeln.

Beim Streben (h( o)/recij) wiederum werden drei verschiedene Formen unterschieden: erstens das Streben als vernünftiger Wunsch (bou/lhsin), zweitens das Streben gemäß dem Thymos (qumo/j) und 400 Vgl. EE 1223a2-3.

401 Vgl. EE 1223a4-5.

402 Siehe dafür EE 1223a9-15, besonders EE 1223a 13-15: dh=lon o(/ti kai\

h( a)reth\ kai\ h( kaki/a peri\ tau=t e)stin w(=n au)to\j? ai)/tioj kai\

a)rxh\ pra/cewn.

403 [to\ e(kou/sion FG] triw=n dh\ tou/twn e(/n ti do/ceien <a)\n>

ei)=nai, h)/toi kat o)/recin h)\ kata\ proai/resin h)\ kata\ dia/noian, to\ me\n e(kou/sion kata\ tou/twn ti, to\ d a)kou/sion para\ tou/twn ti. a)lla\ mh\n h( o)/recij ei)j tri/a diairei=tai, ei)j bou/lhsin kai\ qumo\n kai\ e)piqumi/an:EE 1223a23-27.

drittens das Streben nach dem sinnlichen Angenehmen bzw. gemäß dem sinnlichen Begehren (e)piqumi/a).

Später in der EE wird Aristoteles seine vorgeschlagene Dreiteilung des Freiwilligen überprüfen404. Er fragt sich nämlich, ob das vernünftigen Wünschen (to\ boulo/menon) und das Freiwillige (to\ e(kou/sion) dasselbe seien bzw., ob alle freiwilligen Handlungen immer und nur auf einen vernünftigen Wunsch zurückzuführen sind. Falls nur das vernünftige Wünschen freiwillig ist, dann sind die zwei übrigen vorgeschlagenen Formen der Freiwilligkeit ― Handeln gemäß dem eigenen Streben und das vorsätzliche Handeln ― unfreiwillig405.

In seinen Überlegungen bezüglich der Formen der Freiwilligkeit empfiehlt Aristoteles das Freiwillige gegenüber dem Unfreiwilligen im Hinblick auf die Gewalt (bi/a) abzugrenzen. Denn die Gewalt und das Unfreiwillige gehören allem Anschein nach zusammen406. Und er fügt noch ein weiteres Element hinzu, nämlich die Distinktion zwischen unbeseelten und beseelten Wesen.

Die unbeseelten Wesen werden von Natur aus und gemäß ihrem eigenen inneren Drang ( kata\ th\n fu/sin kai\ th\n kaq ) au(ta\ o(rmh\n) in eine bestimmte Richtung getragen. Nur durch den Einsatz von Gewalt lassen sie sich in andere Richtung bewegen. Nur mit Gewalt können wir z.B. einen Stein nach oben gen Himmel oder das Feuer nach unten Richtung Erde bewegen407.

404 Vgl. EE 29. Die folgende Überlegung bezieht sich auf EE 1223b28-1224a30.

405 ei) de\ a)na/gkh me\n h)=n triw=n tou/twn e(/n ti ei)=nai to\

e(kou/sion, h)\ kat o)/recin h)\ kata\ proai/resin h)\ kata\ dia/noian, tou/twn de\ ta\ du/o mh\ e)sti/, lei/petai e)n tw=| dianoou/meno/n pwj pra/ttein ei)=nai to\ e(kou/sion. EE 1224a4-7.

406 Vgl. EE 1224a7-11.

407 Vgl. EE 1224a15-21. Bei unbeseelten Wesen macht, wie Aristoteles bemerkt, die Rede über Frei- und Unfreiwilligkeit keinen Sinn.

In ähnlicher Weise sprechen wir bei den beseelten Wesen von Gewalt Anwendung, wenn z.B. nicht-menschliche Tiere von irgendetwas Externem und dem eigenen Drang Entgegengesetztem bewegt werden408. Wobei zu beachten ist, dass bei den unbeseelten Wesen nur ein einfaches und einziges inneres Prinzip die Bewegung verursachen kann, bei beseelten Wesen sind die Prinzipien dagegen zahlreicher und komplexer409.

Beim Menschen gibt es also drei Prinzipien des Handelns entsprechend den drei verschiedenen Formen der Freiwilligkeit:

Das Erste ist das Handeln aus der Vernunft, sei es aus einer Überlegung, sei es gemäß einem Vorsatz oder aus einem vernünftigen Wunsch. Von dieser Art des Handelns sagt Aristoteles, dass sie „Vernunft hat“ (e)/xei lo/gon).

Das zweite Prinzip ist das Handeln gemäß dem Thymos. Das dritte Prinzip ist das Handeln aus dem sinnlichen Begehren. Diese zwei Formen der Freiwilligkeit sind unabhängig von der Überlegung. Daher haben sie keinen „lo/goj“410.

408 Vgl. EE 1224a20-23.

409 a)yu/xoij a(plh= h( a)rxh/, e)n de\ toi=j e)myu/xoij pleona/zei: ou) ga\r a)ei\ h( o)/recij kai\ o( lo/goj sumfwnei=. w(/st e)pi\ me\n tw=n a)/llwn zw/|wn a(plou=n to\ bi/aion, w(/sper e)pi\ tw=n a)yu/xwn (ou) ga\r e)/xei lo/gon kai\ o)/recin e)nanti/an, a)lla\ th=| o)re/cei zh=|): e)n d

a)nqrw/p% e)/nestin a)/mfw, kai\ e)/n tini h(liki/#, h(=| kai\ to\

pra/ttein a)podi/domen. ou) ga/r famen to\ paidi/on pra/ttein, ou)de\ to\ qhri/on, a)lla\ to\n h)/dh dia\ logismo\n pra/ttonta. EE 1224a23-30.

410 Über die Unfähigkeit des sinnlichen Begehrens an der Überlegung teilzunehmen siehe EE 1224b2. Die Beziehung des Thymos mit der Überlegung bzw. mit der Vernunft ist komplex. Ich werde diese Beziehung im Abschnitt über den Thymos in IV.1.3. b) besprechen.

Wie Aristoteles bemerkt, besteht nicht immer Harmonie zwischen einem Prinzip ohne „lo/goj“, dass er im Zitat als „o)/recij“ bezeichnet, und der Vernunft bzw. der Überlegung. Deshalb kann es vorkommen, dass jemand gemäß seiner Überlegung und trotzdem gegen seine Begierden handelt. Bei einer solchen Situation ist die Handlung freiwillig, obwohl sie gegen die eigenen Begierden stattfindet. Das ist beim so genannten Beherrschten der Fall. Es kann auch vorkommen, dass jemand gegen seine richtige Überlegung und infolge seiner übermäßigen Begierden gemäß der Lust handelt. Das ist der Fall beim Unbeherrschten. Die Handlungen des Unbeherrschten zählen daher auch als freiwillig.

Zuletzt behauptet Aristoteles411, die Kinder und die übrigen Tiere seien nicht in der Lage zu überlegen. Daher können sie im strikten Sinn nicht freiwillig handeln. Trotzdem besteht bei ihnen auch eine Pluralität von Prinzipien, denn auch die höheren Tiere und die Kinder können gemäß dem Thymos oder dem sinnlichen Begehren agieren.

Auch in der Rhet. erwähnt Aristoteles die drei Formen der Freiwilligkeit. Er fragt in Rhet. I 10 nach den Ursachen des Unrechttuns. Wonach streben diejenigen, die unrecht handeln? Und wovon fliehen sie?412. Diese Fragen bringen ihn zur Besprechung der Ursachen in der Welt413.

Zunächst unterscheidet er zwischen dem, was nicht durch uns geschieht bzw. durch unser Handeln, und dem, was durch unser Handeln geschieht.

Das, was durch Zufall, Notwendigkeit oder durch die Natur geschieht, ist unabhängig von uns 414. Aber wir sind Ursache von allem, was durch unsere Gewohnheit oder durch eine unüberlegte Strebung oder durch eine Strebung geschieht, die das Resultat einer Operation des diskursiven Denkens d.h. Resultat einer praktischen Überlegung ist:

411 Siehe oben EE 1224a23-30.

412 Vgl. Rhet. 29. Meine Analyse hier bezieht sich auf Rhet. 1368b28-1369a19.

413 Rhet. 1368b32-1369a7.

414 Vgl. Rhet. 1368b33-37.

„Alles aber, was sie von sich selbst aus tun und wofür sie selbst etwas können, tun sie einesteils aus Gewohnheit und andernteils aufgrund von Streben (di o)/recin), und zwar einesteils aufgrund von vernünftigen und andernteils aufgrund von vernunftlosem [i.e.

unreflektiertem: a)/logon FG ] Streben.“415.

Wie in der EE unterscheidet Aristoteles auch hier in der Rhet. zwischen den vernünftigen Wünschen — die man auch Strebungen aus der Überlegung oder Strebungen aufgrund einer Überlegung des diskursiven Denkens nennen kann — und den Wünschen oder Strebungen, die ohne Überlegung zustande kommen. Gemeinsam an den überlegten und den unüberlegten Strebungen ist, dass sie notwendigerweise auf etwas tatsächlich oder vermeintlich Gutes abzielen:

„Der Wunsch ist aber eine Strebung nach dem Guten (denn niemand wünscht sich etwas außer, wenn er glaubt, dass es etwas Gutes ist), allerdings sind der Zorn (o)rgh/) und das sinnliche Begehren (e)piqumi/a) unüberlegte Strebungen.“416.

Die „o)rgh/“ bzw. der Zorn ist meistens ein unüberlegter Affekt des Thymos, der oft unseren Charakter auf besonders deutliche Weise zeigt.

Mit dem Hinweis auf den Zorn zielt Aristoteles sowohl auf den Charakter als auch auf den Thymos als Ursachen von Handlungen ab. Dies wird durch die an dieses Zitat anschließenden Aufzählungen der Ursachen unseres Tuns deutlich:

„Daher tun sie alles, was sie tun, notwendigerweise aus einem von sieben Gründen, aufgrund von Zufall, von Natur aus, durch Gewalt, aus der Gewohnheit, aufgrund von Überlegung, aus dem Thymos und aus dem sinnlichen Begehren“417.

415 Rhet. 1368b37-1369a2. Übers.: Aristoteles/Rapp (2002) B1, S. 51.

416 e)/stin d h( me\n bou/lhsij a)gaqou= o)/recij ou)dei\j ga\r bou/letai a)ll h)\ o(/tan oi)hqh=| ei)=nai a)gaqo/n , a)/logoi d

o)re/ceij o)rgh\ kai\ e)piqumi/a: Rhet. 1369a2-4.

417 w(/ste pa/nta o(/sa pra/ttousin a)na/gkh pra/ttein di ai)ti/aj e(pta/, dia\ tu/xhn, dia\ fu/sin, dia\ bi/an, di e)/qoj, dia\ logismo/n, dia\ qumo/n, di e)piqumi/an. Rhet. 1369a5-7.

Der Zufall, die Natur und die Gewalt sind in Bezug auf uns und unser Handeln äußere Prinzipien. Eine Handlung, die durch diese Agenten entstanden ist, ist folglich unfreiwillig. Dagegen sind Handlungen aus der Gewohnheit freiwillig. Unser Charakter zeigt sich sowohl durch die Handlungen aus der Gewohnheit als auch durch die Strebungen und Handlungen des Thymos als auch durch die Strebungen des sinnlichen Begehrens, und sogar durch unsere praktischen Überlegungen. Das Prinzip einer Handlung liegt also in uns, wenn der Ursprung der Handlung entweder in unserer Vernunft oder in unserem Charakter liegt. Und solange das Prinzip intern ist, ist die Handlung freiwillig418.

Neben dem inneren Prinzip der Handlung habe ich zwei weitere Bedingungen des freiwilligen Handelns erwähnt: Zum einen muss die Person etwas zum Geschehen beitragen, zum anderen muss sie über das für die Handlung relevante Wissen verfügen. Es liegt nahe, dass diese zwei weiteren Bedingungen jeweils eine Art von Umformulierung der Bedingungen des inneren Prinzips sind. Denn wenn das Prinzip in uns liegt, tragen wir selbstverständlich etwas zum Geschehen bei — wir sind nämlich der Ursprung unserer Handlung und daher der Ursprung des Geschehens. Wie aber lässt sich die Bedingung des relevanten Wissens in diesem Sinn umformulieren? Bei der Beantwortung dieser Frage ist das Verständnis einer Analogie zwischen Gewalt und Unwissenheit hilfreich.

So wie die durch Gewalt erzwungenen Handlungen nichts über den Charakter der Person verraten, so geben auch die Handlungen, die aufgrund der Unwissenheit geschehen, keinen sicheren Hinweis auf die charakterliche Verfassung der Person. Handlungen aufgrund der Unwissenheit haben ihr Prinzip nicht im eigenen Charakter, sondern in einem kognitiven unvermeidbaren Fehler. Bei Handlungen aufgrund der Unwissenheit liegt es nicht an uns, den kognitiven Fehler zu beseitigen.

Es ist deshalb entscheidend, ob die Ursache der Handlung letztendlich im 418 Dies wird in EE 1224b7-15 betont.

Charakter oder in einer nicht auf den Charakter bezogenen Unwissenheit zu finden ist419.

Handeln gemäß einem vernünftigen Wunsch, einem Vorsatz, sowie Handeln gemäß einem sinnlichen Begehren und dem Thymos sind also Formen des freiwilligen Handelns. Alle diese Formen gewähren uns verlässliche Auskunft über den Charakter einer Person. Alle drei Formen können durch Lob und Tadel bewertet werden.

Jede dieser Manifestationen der Freiwilligkeit bedarf einer besonderen Erörterung. Ich beginne mit der Erörterung des Handelns gemäß des Vorsatzes, weil es Aristoteles als die bedeutendste Form der Freiwilligkeit gilt420. Danach untersuche ich das Handeln gemäß dem sinnlichen Begehren und gemäß dem Thymos.

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