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Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-34: zweiter

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 120-127)

II. Was ist lobenswert?

2. Über das Schöne (to\ kalo/n)

2.5 Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-34: zweiter

zweiter Annäherungsversuch

Die bereits zitierte Definition des Schönen in Rhet. I 9 lautet:

„Schön ist also das, was wegen seiner selbst wählenswert (a)ireto/n) und deswegen lobenswert (e)paineto/n) ist; oder (h)\) das, was gut ist (a)gaqo/n) und deswegen angenehm (h(du/) ist; und zwar ist es angenehm, weil es gut (a)gaqo/n) ist.“238

237 Wie vorher bemerkt habe, Aristoteles spricht über das Nützliche mit vier unterschiedlichen Bedeutungsnuancen: Erstens ist es nützlich, was für einen bestimmten Zweck dienlich ist, wie der Hammer für die Befestigung eines Nagels an einer Mauer; zweitens ist es nützlich, was dem eigenen Glück förderlich ist, wie das Gutsein; drittens ist es nützlich, was notwendig für das eigene Überleben ist, wie das Essen; und viertens ist es nützlich, was den eigenen Interessen förderlich ist, wie die Beziehung mit einer mächtigen Person. Aller diesen Bedeutungen gemeinsam ist, dass das Nützliche immer förderlich für etwas ist.

Die Unterschiede ergeben sich aus den verschiedenen Zielen, auf die sich der Nutzen jeweils bezieht.

238 kalo\n me\n ou)=n e)stin o(\ a)\n di au(to\ ai(reto\n o)\n e)paineto\n h)=|, h)\ o(\ a)\n a)gaqo\n o)\n h(du\ h)=|, o(/ti a)gaqo/n. Rhet. 1366a33-34. Eine ähnliche Idee äußert Aristoteles früher in Rhet. 1364b27-28:to\ ga\r kalo/n e)stin h)/toi to\ h(du\ h)\ to\ kaq au(to\ ai(reto/n. „Denn das Schöne ist gewiss entweder das Angenehme oder das als solches wählenswert.“

Wie schon gesagt, besteht die Definition aus zwei Teilen. Als Erstes wird es behauptet, das Schöne sei wegen seiner selbst wählenswert und aus diesem Grund sei das Schöne lobenswert. Was dies bedeutet, scheint mir nach der Analyse des Unterschieds „a(plw=j / tini/“ und des Begriffs des Gutseins verständlicher zu sein: Das Schöne ist wählenswert und zugleich wählenswerter als das Nützliche und das körperliche Angenehme, weil es sowohl allein genommen als auch für jede Person in jeder Situation immer gut ist. Es ist gut gerade im Hinblick auf das glückliche Leben.

Das Lobenswerte par excellence ist das seelische Gutsein, weil daraus ständig schöne Handlungen entstehen. Die schönen Handlungen sind schwierig zu realisieren und sie implizieren oft, dass der Handelnde Schmerzen erträgt und sein Leben riskiert239. Darüber hinaus bewirken sie immer etwas Gutes und Bedeutendes für unsere Mitmenschen, daher haben die anderen gute Gründe die schönen Handlungen zu loben und sie zu fördern, denn die schönen Handlungen sind vermehrungsbedürftig240. Außerdem ist der Mensch dank des Gutseins in der Lage, richtig mit den nützlichen und den angenehmen Dingen umzugehen, d.h. er ist in der Lage, die verschiedenen guten Dinge zugunsten seines eigenen Glücks einzusetzen241. Aufgrund dieser Macht des Gutseins ist das seelische Gutsein wählenswerter als alle übrigen nützlichen und angenehmen Güter242.

239 Rogers bemerkt zu Recht, dass die schönen Handlungen schwierig, gemäß dem Gutsein, bedeutend und selten sind. Vgl. Rogers (1993) S. 359,361,

240 Dies hat Kraus trefflich auf den Punkt gebracht „Die Regeln, nach denen die Menschen seit altersher zu verfahren pflegen, haben trotz ihrer reflexions - und planlosen Entstehung zum großen Teil auch bei Lohn, Lob und Ehrenbezeigung eine nützliche Tendenz; es wird nur ein solches Verhalten geehrt und gelobt, das nützlich und schwierig, darum selten und vermehrungsbedürftig ist; was wohl nützlich ist, aber von jedermann ohne Mühe, ja sogar mit Genuß vollbracht wird, wird nicht prämiert.“ Kraus (1905) S. 31.

241 Vgl. EN 1124a26-28 und 30-31.

242 Wie wir sahen, sind weder das Nützliche noch das Angenehme immer wählenswert: Das Nützliche ist nie sowohl allein genommen als auch für jemanden unabhängig von der Situation gut. Seinerseits ist das Angenehme oder

Der zweite Teil der Definition bestimmt das Schöne als etwas Gutes und Angenehmes. Das Schöne ist gerade deswegen angenehm, weil es gut ist. Was bedeutet es, dass etwas angenehm ist, weil es gut ist? Auf diese Frage findet man bei Aristoteles auch nach der langen Betrachtung über die Distinktion „a(plw=j / tini/“ und des Wählenswertseins des Gutseins keine eindeutige Antwort. Einen vielversprechenden Ausweg aus dieser Schwierigkeit bietet der Vergleich zwischen dem Gutsein und der physischen Lust im Allgemeinen.

Die physische Lust ist die Befriedigung eines bestimmten physischen Verlangens und deswegen ist sie immer allein genommen gut. Wenn wir also fragen, warum denn die Lust gut ist, lautet die Antwort: weil sie ein bestimmtes Verlangen des Körpers befriedigt. Anders stellt sich die Lage in Bezug auf das Gutsein, denn das Gutsein ist mindestens unter drei verschiedenen Perspektiven gut.

Zunächst ist das Gutsein gut, weil es die optimale Verfassung einer menschlichen Fähigkeit bildet. Der Mensch hat etwa die Fähigkeit, auf Gefahren zu reagieren. Der Tapfere hat diese Fähigkeit auf ihre optimale Verfassung gebracht und daher ist er imstande, auf alle Gefahren richtig, d.h. auf die optimale Art und Weise, zu reagieren.

Das Gutsein ist auch aufgrund seiner Hervorbringungen gut: Aus dem Lustvolle nur allein genommen gut, aber nicht gut für jeden in jeder Situation. Die wichtigsten physischen Lüste — die Lust nach Essen, Trinken, Schlafen oder sexueller Betätigung — sind immer mit den ihnen entsprechenden Schmerzen, Verlangen oder Unbehagen gekoppelt: ohne Verlangen empfindet man keine Lust. Dazu erlauben die physischen Lüste auch ein Übermaß. Und wenn wir die physischen Lüste im Übermaß genießen, hört der Genuss allmählich auf und die ursprünglich lustvollen Tätigkeiten werden sogar schmerzhaft. So etwa, wenn man mehr als nötig isst, empfindet man eventuell keine Lust mehr auf Essen, schädigt seine Gesundheit und kann sehr wohl Schmerzen wegen des Übermaßes erleiden.

Gutsein entstehen die schönen Handlungen. Durch die schönen Handlungen vervollkommnen wir wiederum unsere wichtigsten menschlichen Fähigkeiten. Für Aristoteles ist das unbehinderte Betätigen einer Disposition notwendigerweise lustvoll243. So sind etwa das unbehinderte Hören, das unbehinderte Sehen usw. lustvoll. Und je höher oder besser eine Fähigkeit ist, desto größer wird die Lust sein, die aus ihrem Tätigsein entsteht. Das Schöne zu tun, bzw. schöne Handlungen zu realisieren, impliziert die simultane Betätigung einer oder mehrerer unserer höheren Dispositionen, wie Tapferkeit, Gerechtigkeit und praktische Weisheit. Diese Betätigung verursacht eine besondere Art von Lust, die sich wesentlich von der körperlichen Lust unterscheidet244. Letztendlich besteht das glückliche Leben aus der unbehinderten Betätigung einer oder mehrerer unserer besseren Dispositionen für einen beträchtlichen Zeitabschnitt unseres Lebens.

Zuletzt ist das Gutsein gut, weil es Gutes im Zusammenleben bewirkt.

Wir können die aristotelische Aussage, „das Gutsein ist angenehm, weil es gut ist“, mit diesen drei Punkte verknüpfen: Das Gutsein ist angenehm, weil es die optimale Verfassung der menschlichen Seele ist. Es ist weiter angenehm, weil der gute Mensch Lust empfindet, wenn er schön handelt und schließlich ist das Gutsein angenehm, weil der gute Mensch sich freut, wenn er Gutes in seiner Polis bewirkt.

243 „Vielleicht ist es sogar notwendig, dass, wenn es wirklich für jede Disposition unbehinderte Tätigkeiten (e)ne/rgeiai a)nempo/distoi) gibt — mag nun das Glück in der Betätigung aller oder einer bestimmten Disposition bestehen —, diese Tätigkeit, sofern sie unbehindert ist, die wählenswerte ist. Diese Tätigkeit aber ist Lust.“ EN 1153b9-12. Übers. Aristoteles/Wolf (2006).

244 „Wie nun oft gesagt wurde, sind diejenigen Dinge ehrenswert (ti/mia) und angenehm (h(de/a), die für den Guten (spoudai=oj) so sind. Denn für jeden ist diejenige Betätigung am wählenswertesten (ai(retwta/th e)ne/rgeia), die aus seiner eigenen Disposition hervorgeht, für den guten Menschen also die Betätigung, gemäß dem Gutsein (kata\ th\n a)reth/n)“. EN 1176b24-27. Vgl.

auch EN X 4-6 und EN 1153b9-12.

Angesichts dieser Erklärung gewinnt der Kontrast zwischen dem Angenehmen und dem Gutsein bzw. dem Schönen an Kontur. Das Angenehme ist gut, weil es ein physisches Verlangen befriedigt. Dagegen ist das Gutsein angenehm, weil es unter den drei genannten Perspektiven gut ist und nicht, weil das Gutsein irgendein physisches Verlangen erfüllt.

Das Schöne und das Angenehme sind deshalb auf jeweils verschiedene Weise und unter verschiedenen Perspektiven gut. Das schöne Handeln könnte zwar im Fall des guten Menschen von Lust, sogar von physischer Lust, begleitet sein, jedoch ist das schöne Handeln nicht aufgrund dieser begleitenden Lust gut.

Es fehlt noch eine Erklärung, warum das Schöne so einen Namen trägt.

Was diese Art von Schönheit mit der gewöhnlichen physischen Schönheit gemeinsam hat, dass die Anwendung einer solchen Bezeichnung gerechtfertigt? Zwei Erwägungen sind für diese Frage relevant.

Zum einen ist die seelische Schönheit wie die körperliche Schönheit angenehm zu „sehen“, besser gesagt, angenehm zu begreifen245: Die guten Menschen freuen sich bzw. genießen nicht nur, wenn sie schöne Taten selbst durchführen, sondern auch, wenn sie schöne Taten sehen.

Sie erkennen sich selbst in den fremden schönen Handlungen und dies ist angenehm246.

245 Eine schöne Handlung zu erkennen verlangt einen komplexen Er-kenntnisprozess, bei dem die Wahrnehmung nur den Anfang bildet. Ein solcher komplexer Prozess ist in fast jeder seiner Phasen für fehlerhafte Einschätzungen offen; aufgrund dieser fehlerhaften Einschätzungen verteilt man unbegründet bzw. unangemessen Lob und Tadel. Vgl. EN 1176a8-24.

246 Die Idee wird zumindest von Aristoteles suggeriert: o( maka/rioj dh\

fi/lwn toiou/twn deh/setai, ei)/per qewrei=n proairei=tai pra/ceij e)pieikei=j kai\ oi)kei/aj, toiau=tai d ai( tou= a)gaqou=

fi/lou o)/ntoj. EN 1170a2-5.

Zum anderen sind schöne Taten dadurch charakterisiert, dass sie die Größe bzw. die Kraft des seelischen Gutseins sichtbar machen. Wie die physische Schönheit die beste mögliche Verfassung des Körpers zeigt, so offenbaren die schönen Taten die menschliche Natur in ihrem bestmöglichen Zustand, nämlich im Zustand des Gutseins.

Aus diesen Gründen darf man „to\ kalo/n“ nicht als „das sittlich Gute“

oder „das moralische Gute“ verstehen247. Zumindest nicht, wenn man unter „Moral“ eine christliche Konzeption versteht, oder eine Konzeption von christlicher Prägung248. Denn einerseits ist bei diesem Verständnis

247 Gauthier-Jolif haben auch ausführlich für das Verstehen des Schönen als das moralische Gute argumentiert. Sie verstehen das Wort „to\ de/on“ als „die moralische Pflicht“ (le devoir) und entsprechend verstehen das Schöne (to\

kalo/n) als das moralische Gute (la bonté morale), vgl. Aristote/Gauthier-Jolif (1968 resp. 2002) II, 2 S. 569-575. Gerade diese Art von Interpretation hat Kraut (2006) kritisiert, er hat indes die Argumentation von Gauthier-Jolif nicht zur Kenntnis genommen.

248 Irwin (2004) verfolgt die Entwicklung und die Veränderungen des Begriffes des Schönen (to\ kalo/n) von Aristoteles bis Suarez. Seiner Meinung nach ist in dieser Entwicklung die stoische Interpretation des Schönen besonders relevant für die spätere christliche Konzeption des Schönen bzw. des „honestum“.

Albertus, Thomas von Aquin und auch Suarez sollen den Begriff des „honestum“

anhand des stoischen Einflusses verstanden und weiterentwickelt haben. Infolge der Zusammenfassung auf die letzte Seite des Aufsatzes (vgl. S. 46) meint Irwin, dass den aristotelischen Begriff des Schönen (to\ kalo/n) Ursprung des Begriffes der Moral in modernen Englisch des siebzehnten Jahrhunderts ist.

Diese These wird leider lediglich in der Zusammenfassung erwähnt, nicht aber im Aufsatz erläutert. Irwin selbst gibt zu, dass die vermeintlich „aristotelische“

Konzeption des Schönen, die sowohl Albertus als auch Thomas von Aquin haben, eigentlich extrem von der stoischen Interpretation beeinflusst wurde (vgl S. 46). Darüber hinaus haben wir keinen Grund, um anzunehmen, dass die stoische Interpretation dem aristotelischen Verständnis des Schönen entspricht.

Andererseits ist bei diesem Verständnis der Moral immer geboten, gemäß der Moral zu handeln. Es macht aber keinen Sinn zu sagen, Achill war moralisch dazu verpflichtet, den Tod des Patroklus zu rächen. Schöne Handlungen sind nicht moralisch geboten, und je schöner sie sind, desto weniger haben sie mit irgendeiner Pflicht zu tun249.

Außerdem ist die Erscheinung vor den anderen wesentlich für die schönen Handlungen. Man will ja bei der Vollbringung schöner Taten beobachtet werden, denn nur so können die anderen guten Menschen das eigene Gutsein begreifen und das eigene Gutsein durch die gewährte Ehre bestätigen250. Für eine christliche Moral ist solche Erscheinung unnötig.

Vielmehr ist es für die bedeutendsten moralischen Handlungen charakteristisch im Verborgen zu bleiben. Die Erscheinung könnte gegebenenfalls sogar schädlich sein, indem sie die richtige Absicht der guten Handlung unterminiert. Man kann nämlich gut handeln, um Ehre zu 249 Am Anfang seines Aufsatzes über das Schöne in den aristotelischen Ethiken identifiziert Owens (1981) das Schöne mit dem moralischen Guten ohne jegliche Begründung, vgl. Owens (1981) S. 261. Aus dieser Identifizierung sollten nach Owens vier wichtige Fragen sich ergeben. Erstens, wie man „to\ kalo/n“ auf Englisch übersetzen soll; zweitens, was das Schöne ist; drittens, woran die Motivationskraft des Schönen liegt; und viertens, warum das Schöne zu tun,

„obligatorisch“ ist (Vgl. S. 264). Für die Übersetzung von „to\ kalo/n“ empfiehlt er, „das Richtige“ zu benutzen. Wie er selbst allerdings zugibt, ist diese Übersetzung nicht imstande, die aristotelische Verbindung zwischen dem Schönen zu tun und dem eigenen Glück zu erreichen ans Licht zu bringen, vgl. S.

268. Das Schöne wird also von Owens als „das Richtige zu tun“ definiert (Vgl. S.

269-271). Für diese Definition beruft er sich auf keine bedeutende Stelle über das Schöne in den ethischen Schriften und auch nicht auf die von mir analysierte Definition in Rhet. Deshalb lässt er außer der Definition des Schönen wichtige Aspekte wie das Schwierig- und das Hervorragendsein der schönen Handlungen.

Darüber hinaus übersieht Owens, dass, gemäß seiner Vorstellung, die Frage nach der Motivationskraft des Schönen bereits bei der Feststellung der obligatorische Charakter des Schönen beantworten ist: Wir sind nämlich verpflichtet, das Schöne zu tun. Anders meint Owens, dass man das Schöne um

„des Schönen willen tut“: „The kalo/n itself offers, or rather is, the motive for its own performance“ (S. 271-272. Kursiven im Original). Es bleibt jedoch unklar, was dies bedeutet. Ähnlich bleibt der obligatorische Charakter des Schönen (die vierte Frage) ungeklärt: „How then is this intrinsic obligatory character of moral goodness to be understodd? How is its force to be explained? It obliges in the face even of death. The answer is not spelled out in the Ethics.“ (Vgl. s. 274.) 250 Dazu siehe EN 1095b23-29 und EN 1124a4-7.

gewinnen und sie zu genießen, und nicht, um Gott zu gefallen bzw. dem Nächsten zu dienen.

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