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Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-b3: erster

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 67-72)

II. Was ist lobenswert?

2. Über das Schöne (to\ kalo/n)

2.1. Die Definition des Schönen in Rhet. I 9, 1366a33-b3: erster

erster Annäherungsversuch

Das Schöne behandelt Aristoteles am ausführlichsten in der Diskussion über die epideiktische Redegattung in Rhet. I 9. Wie ich in erstem Kapitel argumentierte, gehört es zu jeder Redegattung sich jeweils auf ein begriffliches Paar der Motivationen des Handels zu beziehen. Aristoteles bietet in Rhet. I 9 eine für uns sehr abstruse Definition des Schönen.

Bemerkenswert an der Definition ist, dass sie den Begriff des Lobenswerten enthält. Im Anschluss an die Definition bespricht Aristoteles das Gutsein. Im gleichen Gedankengang finden wir also die drei zentralen Begriffe dieses Kapitels — das Schöne, das Lobenswerte und das Gutsein. Es ist für uns deshalb nötig, die aristotelische Gedankenfolge in extenso zu zitieren:

„Schön ist also das, was wegen seiner selbst wählenswert (ai(reto/n) und deswegen lobenswert (e)paineto/n) ist; oder (h)\) das, was gut ist (a)gaqo/n) und deswegen angenehm (h(du/) ist; und zwar ist es angenehm, weil es gut (a)gaqo/n) ist. Wenn also dies das Schöne ist, dann ist notwendigerweise das Gutsein schön. Denn das Gutsein ist nämlich gut, indem es lobenswert ist. Das Gutsein aber ist, wie es scheint, die Fähigkeit, gute Dinge zu beschaffen und zu bewahren, sowie eine Fähigkeit, viele und große Wohltaten zu erweisen, und zwar alle Arten von Wohltaten bei jeder Gelegenheit.

Die Teile des Gutseins sind Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit, Großgeartetheit, Großgesinntheit, Freigebigkeit, praktische Weisheit, Weisheit. Notwendigerweise sind also die größten Formen des Gutseins diejenigen, die den anderen in höchstem Maße nützlich sind, wenn das Gutsein sehr wohl eine Fähigkeit ist, Wohltaten zu erweisen. Deswegen ehrt man am meisten (ma/lista timw=sin) die Gerechtigkeit und die Tapferkeit.“102

102 kalo\n me\n ou)=n e)stin o(\ a)\n di au(to\ ai(reto\n o)\n e)paineto\n h)=|, h)\ o(\ a)\n a)gaqo\n o)\n h(du\ h)=|, o(/ti a)gaqo/n: ei) de\ tou=to/ e)sti to\

kalo/n, a)na/gkh th\n a)reth\n kalo\n ei)=nai: a)gaqo\n ga\r o)\n e)paineto/n e)stin. a)reth\ d e)sti\ me\n du/namij w(j dokei=

poristikh\ a)gaqw=n kai\ fulaktikh/, kai\ du/namij eu)ergetikh\

pollw=n kai\ mega/lwn, kai\ pa/ntwn peri\ pa/nta: me/rh de\

a)reth=j dikaiosu/nh, a)ndrei/a, swfrosu/nh, megalopre/peia,

Wieder lohnt es sich, die Struktur den Paragrafen zu skizzieren:

— Aristoteles bietet zunächst zwei Definitionen des Schönen. Diese zwei Definitionen ergänzen sich gegenseitig, da sie jeweils einen wichtigen Aspekt des Schönen betonen. Das „h)\“ im Satz ist also kein ausschließendes, sondern ein einschließendes „oder“. Mit dieser Definition wird nahegelegt, dass sich das Schöne auf zwei verschiedene Arten verstehen lässt. Die beiden Arten sind jedoch schwer vereinbar103. megaloyuxi/a, e)leuqerio/thj, fro/nhsij, sofi/a. a)na/gkh de\

megi/staj ei)=nai a)reta\j ta\j toi=j a)/lloij xrhsimwta/taj, ei)/per e)sti\n h( a)reth\ du/namij eu)ergetikh/, <kai\> dia\ tou=to tou\j dikai/ouj kai\ a)ndrei/ouj ma/lista timw=sin:Rhet. I 9, 1366a33-b3.

103 In seiner Analyse über das Schöne bezieht sich auch Irwin (1986), S. 127 auf diese Passage. Er untersucht jedoch lediglich den ersten Aspekt dieser doppeldeutige Definition des Schönen nämlich das Schöne als wählenswert und deswegen lobenswert. Und er lässt außer seiner Betrachtung das Schöne als etwas Angenehmes. Deshalb findet er keine Schwierigkeiten, das Schöne gemäß der Rhet. zu verstehen, wie Irwin (1986), S. 128 selbst behauptet: „The Rhetoric offers a simple and intelligible conception of the fine, the praiseworthy and the virtues, and of their connexion.“ Ähnlich erwähnen sowohl Rogers als auch Cooper diese doppelte Definition des Schönen in ihrem jeweiligen Aufsatz über das Schöne, jedoch erklären sie den Sinn der Definition nicht. Rogers erwähnt die Definition nur im Vorübergehen als Teil ihrer Analyse des Lobenswerten und dies, obwohl ihr Aufsatz hauptsächlich um das Schöne, nicht um das Lobenswerte handelt, vgl. Rogers (1993) S. 363. Seinerseits zitiert Cooper die doppelte Definition: „In the Rhetoric (1.9.1366a33-34) he [Aristoteles] proposes two alternative definitions of the noble: it is either whatever, being chosen because of itself, is praised or praiseworthy (epaineton), or else whatever is good, and pleasant because it is good“. Cooper (1999) Kapitel 11, S. 271.

Nachher aber bespricht er lediglich den ersten Aspekt der Definition. Ähnlich wie Rogers und Irwin konzentriert sich Cooper auf die Beziehung des Schönen mit dem Lobenswerten. Der Grund für das Übersehen des zweiten Teiles der Definition ist vielleicht, dass für Cooper das Schöne nicht zu den guten Dingen gehört. Früher in seinem Aufsatz behauptet er, dass von den drei wählenswerten Dingen, die in EN 110430-31 erwähnt sind, weder das Schöne (to kalo/n) noch das Angenehme (to\ h(edo/n) unter den guten Dingen zu zahlen sind, gut sei vielmehr nur das Zuträgliche (to\ sumfe/ron). Das Schöne, das Angenehme und das Zuträgliche seien in Coopers Auslegung für Aristoteles allerdings unterschiedliche Sorten von Wert (types of value), Vgl. Cooper (1999) Kapitel 11, S. 265-266. Der Begriff des Wertes wird freilich von Cooper und nicht von Aristoteles eingeführt. Ob Cooper das Schöne eigentlich für etwas Gutes hält oder nicht, bleibt leider angesichts einer späteren Behauptung im selben Aufsatz unklar. Denn Cooper sagt, dass der vernünftige Wunsch, der nach dem Schönen strebt, strebt doch zum etwas Guten: „Part of the thought contained in the

— Zweitens behauptet Aristoteles, dass das Gutsein notwendigerweise schön sein muss und dass das Gutsein gut und lobenswert ist. Diese Behauptungen stehen im Zentrum meiner Untersuchung: Sie behaupten eine Beziehung zwischen Schön- und Gutsein. Außerdem qualifizieren sie sowohl das Schöne als auch das Gutsein als lobenswert.

— Drittens bietet Aristoteles eine zweifache Definition des Gutseins: Das Gutsein ist zum einen eine Fähigkeit, gute Dinge zu beschaffen und zu bewahren. Zum anderen ist es eine Fähigkeit, den anderen große Wohltaten zu erweisen.

— Viertens zählt Aristoteles „Teile“ des Gutseins auf. Gemeint sind verschiedene Formen des Gutseins.

— Fünftens behauptet Aristoteles, die größten Formen des Gutseins seien diejenigen, die den anderen am meisten nützlich sind. Denn gerade diese Formen des Gutseins erweisen den anderen die bedeutendsten Wohltaten. Seine Behauptung bekräftigt Aristoteles mit der Tapferkeit und der Gerechtigkeit als Beispiele: Beide seien von den Menschen am meisten geehrt. Aristoteles legt uns nahe zu schließen, dass Tapferkeit und Gerechtigkeit am meisten geehrt werden, weil aus ihnen die größten Wohltaten für die Menschen entstehen.

Gemäß dem obigen Zitat über das Schöne ist die erste Aussage, dass das Schöne als solches oder wegen seiner selbst wählenswert (ai(reto/n) ist. Diese Eigenschaft des „Wählenswertseins“ macht das Schöne auch reasoned desire will be the recognition that a virtuous disposition of the non-rational desires, and action on that disposition, being kalon, is a good thing, and a fundamental good at that.“ Siehe Cooper (1999) Kapitel 11, S. 278.

lobenswert (e)paineto/n). Andererseits ist das Schöne angenehm (h(du/), weil es gut ist (a)gaqo/n). Diese zweite Aussage über das Schöne scheint mir am wenigsten Sinn zu machen. Was bedeutet es über etwas zu sagen, dass es angenehm ist, weil es gut ist? Um beide Aussagen zu verstehen, empfehle ich zunächst den Begriff des Gutseins näher zu klären. Dem Zitat zufolge gehört das Gutsein offensichtlich zu den schönen Dingen.

In Bezug auf das Gutsein ist mit Hinblick auf das Zitat zunächst bemerkenswert, dass Aristoteles als „Teile“ des Gutseins ausschließlich charakterliche und intellektuelle Formen erwähnt. Die körperlichen Formen werden nicht berücksichtigt, obwohl sie in Rhet. genannt werden104. In Übereinstimmung mit den Eigenschaften des Gutseins, die ich vorher erwähnt habe, ist dem Zitat zufolge das Gutsein eine Fähigkeit, die sich ständig im Handeln aktualisiert. Dadurch verdient das Gutsein einen besonderen Status gegenüber den einzelnen guten Handlungen: Obwohl das Gutsein nur durch die Handlungen gezeigt wird, und nur wegen der Handlungen gelobt wird, ist das Gutsein eigentlich lobenswerter als jede isolierte Handlung. Denn das Gutsein ist die Bedingung jeder guten Handlung.

Zugleich betont Aristoteles, dass aus dem Gutsein „viele und große Wohltaten“ für die anderen entstehen (eu)ergetikh\ pollw=n kai\

mega/lwn). Hierbei ist die Größe der Wohltaten wichtig. Nicht jede beliebige gute Handlung zeugt von Gutsein. Anders gesagt, nicht jede gerechte Handlung weist auf die Gerechtigkeit hin. Nur hervorragende bzw. „große“, gerechte Handlungen lassen uns mit Recht vermuten, dass jemand ein Gerechter ist. Diese Idee habe ich schon im ersten Kapitel formuliert: Gute Handlungen sind nicht immer lobenswerte Handlungen.

Die lobenswerten Handlungen müssen selbstverständlich gemäß dem 104 Vgl. Rhet. 1360b21-22 und 1361a1-6.

Gutsein sein, sie müssen aber auch von einer gewissen Größe oder Bedeutung sein105. Zuletzt finden wir in diesem Zitat aus der Rhet. zwei neue Elemente bezüglich des Gutseins:

Erstens wird das Gutsein als eine Fähigkeit definiert, um „gute Dinge zu beschaffen und zu bewahren“106. Dies impliziert, dass das Gutsein nicht nur fremdes Gutes bewirkt, sondern auch Gutes zu demjenigen bringt, der gemäß dem Gutsein handelt. Dies würde erklären, warum das Gutsein wählenswert ist bzw. woran „das Wählenswerte“ (to\ ai(reto/n) des Gutseins liegt.

Zweitens ist das Gutsein eine Fähigkeit Wohltaten zu erweisen: Die Handlungen gemäß dem Gutsein, die lobenswert sind, sind zugunsten anderer107. Diese Bedingung erklärt, warum die Formen des körperlichen Gutseins nicht lobenswert sind: Aus dem körperlichen Gutsein entstehen nicht notwendigerweise große Wohltaten für die anderen. Mit seiner Kraft kann ein starker Athlet andere Menschen verletzen. Mit seiner Tapferkeit verletzt der Tapfere keinen anderen Menschen willkürlich bzw. ohne Grund. Die Bedingung verdeutlicht auch, warum die anderen Menschen das Gutsein loben und ihre Mitmenschen dazu auffordern, gemäß dem Gutsein zu leben: Es liegt in ihrem Eigeninteresse, dass die großen Wohltaten, die aus dem seelischen Gutsein entstehen, sich vermehren. Es liegt etwa in ihrem Interesse etwa, dass die Menschen gerecht und tapfer werden.

105 Vgl. Rhet. III 16, 1416b16-19.

106 Vgl. Rhet. 1366a36-37.

107Vgl. Rhet. 1366a37-39.

Zusammengefasst ist das seelische Gutsein einerseits schön und lobenswert, weil es seinem Inhaber hilft, gute Dinge zu erwerben und zu bewahren, und andererseits, weil aus ihm zahlreiche und bedeutende Wohltaten zugunsten der übrigen Mitbürger entstehen.

Allerdings ist es noch nicht eindeutig, warum intellektuelle Formen des Gutseins wie praktische Weisheit (fro/nhesij) oder Weisheit (sofi/a) gut für die anderen, schön und lobenswert sind. Auch wissen wir noch nicht, wie eigentlich die Definition des Schönen zu verstehen ist. Als zweiten Schritt zum Verständnis der Definition des Schönen wird uns helfen, einige Beispiele schöner Handlungen zu analysieren.

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 67-72)