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Schöne Handlungen

Im Dokument Lob und Tadel bei Aristoteles (Seite 72-79)

II. Was ist lobenswert?

2. Über das Schöne (to\ kalo/n)

2.2. Schöne Handlungen

Für Aristoteles ist Achills Entscheidung den Tod von Patroklus zu rächen, das Paradebeispiel einer schönen Handlung. So wird Achills Fall in Rhet.

kommentiert:

„Und ebenso beachten die Lobenden und Tadelnden nicht, ob man etwas Nützliches oder Schädliches getan hat, sondern machen es oftmals zum Anlass für ein Lob, wenn man unter Vernachlässigung des für einen selbst Nützlichen etwas, was schön ist, getan hat, wie sie zum Beispiel Achill dafür loben, dass er dem Gefährten Patroklos geholfen hat, obwohl er wusste, dass er dann selbst sterben muss, und es an ihm lag, weiterzuleben. Für ihn also war ein solcher Tod schöner, das Leben aber nützlich.“108.

Vier Aspekte dieser Tat machen sie zu etwas Schönem:

(1) Achill wusste sehr wohl, dass eine solche Vergeltung sein Todesurteil bedeuten würde. Aristoteles verwendet das Partizip „ei)dw/j‟, das die Gleichzeitigkeit des Handelns und des Wissens über die Konsequenzen

108 Rhet. 1359a3-5 Übers.: Aristoteles/Rapp (2002) B1.

des Handelns betont: „Achilles, über die Konsequenzen seiner Handlung wohl wissend, half Patroklus.“109. Sowohl die Freiwilligkeit als auch das Handeln gemäß einer praktischen Überlegung scheinen Eigenschaften des schönen und lobenswerten Handelns zu sein.

(2) Achills Tat war zugunsten Patroklus. Er „half“ Patroklus mit seiner Tat.

Rapp kommentiert hier, Aristoteles spreche möglicherweise von „helfen“, weil er herausstellen möchte, Achill habe etwas zum Vorteil von Patroklos getan110. Wichtig ist auf jeden Fall zu bemerken, dass die schönen Handlungen immer gut für die anderen sind, und dass mit den anderen generell die eigenen Mitbürger gemeint sind — dem Hektor hat Achill selbstverständlich keine „Hilfe“ geleistet. Die schönen Handlungen bringen ihre guten Konsequenzen also immer für die Mitbürger bzw. die Polis.

(3) Achills Tat konnte keiner der übrigen griechischen Helden vollbringen.

Nur ihm ist es gelungen, den besten Trojaner, Hektor, umzubringen.

Solche Tat zeigt das Eigene oder das Einzigartige (i)/dia) von Achill, sie zeugt von seiner Überlegenheit gegenüber den übrigen Helden. Achills Tat ist offensichtlich groß, bedeutend und geradezu entscheidend für den Krieg gegen die Trojaner. Daher ist seine Tat im höchsten Maß lobenswert111.

(4) Die Tat des Achills präsentiert auf besondere dramatische Weise die Opposition zwischen dem Schönen (to\ kalo/n) und dem Nützlichen (to\

sumfe/ron). Aristoteles benutzt dieses Beispiel um zu illustrieren, dass die Lobenden aufgrund des Schönen Lob erteilen, und andere Kriterien wie das Nützliche beiseitelassen. Aristoteles betont, dass für Achill: „ein 109 Vgl. Rhet. 1359a3-5.

110Vgl. Rapp (2002) Bd 2. S. 260.

111Vgl. dazu Rhet. II 22, 1396b10-18.

solcher Tod schöner (ka/llion) war [als das Leben zu behalten], das Leben aber nützlich (sumfe/ron).“112.

Es ist kein Zufall, dass Aristoteles Achills Entscheidung für die Rache als Beispiel einer schönen und lobenswerten Handlung nennt. Vielmehr steht seine Auffassung des Falles Achills in einem beachtenswerten Einklang einerseits mit der sokratischen bzw. platonischen Meinung über Achill, so wie sie in der Apologie geäußert wird; und andererseits mit Aristoteles’

Beschreibung des wahren Selbstliebenden (fi/lauton) in EN IX, 8. Ich werde beide Verbindungen kurz besprechen. Sie werden uns helfen, die Konturen des Schönen besser nachzuzeichnen.

Sokrates kommt in Platons Apologie auf die Figur Achills zu sprechen, nachdem er die Frage formuliert hat, ob es sich lohne, ein philosophisches Leben zu leben, wenn dieses Leben einen gewaltsamen und vorzeitigen Tod verursachen könnte. Sokrates vergleicht seine eigene Hingabe an die philosophische Praxis — auch wenn diese Praxis lebensbedrohlich wird — mit Achills Rache für Patroklus, die auch den gewaltsamen Tod des Achill verursachte113. Achills Rache und Sokrates’ Hingabe an die Philosophie weisen dieselben Charakteristiken, die das Schöne ausmachen, auf:

Zum einen riskiert auch Sokrates durch seine Handlungen sein eigenes Leben. Zum anderen handelt Sokrates wie Achill zugunsten seiner Mitbürger. Deshalb beschreibt sich Sokrates als ein „göttliches Geschenk“

(qeou= do/sij) für Athen114. Hinzu kommt dass, wie Achill unter den Helden, so ist auch Sokrates in der Polis einzigartig und eine seltsame Erscheinung. Die Rolle des Sokrates in Athen kann kein anderer

112tou/t% de\ o( me\n toiou=toj qa/natoj ka/llion, to\ de\ zh=n sumfe/ron. Rhet. 1359a5.

113 Vgl. Apol. 28b6-d4. Dies hat u.a. Long (2001), S. 31 bemerkt.

114 Vgl. Apol. 30d6-e1.

übernehmen115, genau wie keiner Achill ersetzen kann. Und letztens gewährt auch Sokrates dem Schönen, d.i. der philosophischen Praxis und nicht dem für ihn Nützlichen (das Leben ohne Philosophie) den Vorzug116. Kommen wir nun zur Beschreibung des Selbstliebenden in EN.

In EN IX 8, bei der Analyse zweier entgegengesetzter Arten von Selbstliebe, erwähnt Aristoteles wieder den Begriff des Schönen.

Zunächst unterscheidet er zwischen einer verbreiteten und einer aus der Überlegung entstehenden Konzeption der Selbstliebe. Für diese neue Konzeption der Selbstliebe ist die Haltung gegenüber dem Schönen zentral. Aristoteles zufolge nennen die meisten Menschen denjenigen ein

„Selbstliebenden“, der immer den größten Teil an Reichtum, Ehrungen und an körperlichen Lüsten haben will117. Wer so handelt, wird zu Recht kritisiert (o)neidi/cetai)118. Gegen diese tadelnswerte Konzeption der Selbstliebe schlägt Aristoteles eine andere vor. Nämlich diejenige Selbstliebe, die immer nach dem Schönen strebt. Wer sich in diesem Sinn selbst liebt, verdient das Lob:

„Denn wenn jemand sich immer eifrig bemühen würde, selbst am meisten von allem gerechte oder besonnene Handlungen oder welche Handlungen auch immer zu tun, die gemäß der Formen des Gutseins sind; und wenn er überhaupt und immer für sich das Schöne zu behalten versuchte, würde niemand ihn „selbstliebend“ nennen und niemand würde ihn tadeln (ye/cei). Ein derartiger Mensch scheint aber am meisten ein Selbstliebender zu sein. Denn sicherlich nimmt er für sich die schönsten Dinge und die größten Güter […].“119.

115 Vgl. Apol. 30e1-5.

116 Vgl. Apol. 28d5-9.

117 Vgl. EN 1168b15-17.

118 Vgl. EN 1168b22-23.

119 ga/r tij a)ei\ spouda/zoi ta\ di/kaia pra/ttein au)to\j ma/lista pa/ntwn h)\ ta\ sw/frona h)\ o(poiaou=n a)/lla tw=n kata\ ta\j a)reta/j, kai\ o(/lwj a)ei\ to\ kalo\n e(autw=| peripoioi=to, ou)dei\j e)rei= tou=ton fi/lauton ou)de\ ye/cei. do/ceie d a)\n o( toiou=toj ma=llon ei)=nai fi/lautoj: a)pone/mei gou=n e(autw=| ta\ ka/llista kai\ ma/list a)gaqa/, [...] EN 1168b25-30.

Ein Selbstliebender, so Aristoteles weiter, strebt nach dem Schönen (to\

kalo/n) und nicht nach dem „vermeintlichen Nützlichen“ (tou=

dokou=ntoj sumfe/rein), also nachdem, was die meisten Menschen für nützlich halten120. Aristoteles betont hier wie in Rhet. den Kontrast zwischen schön und nützlich. Dazu noch bringt der Selbstliebenden, wie Achill und Sokrates, seinen Mitbürgern Gutes121. Die Wirkung des Selbstliebenden in der Polis, so wie sie von Aristoteles beschrieben wird, erinnert auch stark an Achills und Sokrates’ Wirkung:

„Bezüglich des guten Menschen (hier spoudai=oj) trifft es auch zu, dass er vieles um der Freunde willen und um seines Heimatlands willen tut. Und wenn es nötig sein sollte, ist er auch bereit zu sterben.

Denn er wird Reichtümer und Ehrungen und die ganzen umkämpften Güter (ta\ perima/xhta a)gaqa/) preisgeben, solange er dadurch für sich das Schöne verschafft. Er wird eine kurze Zeit intensiver Freude einer langen Zeit mäßiger Freude vorziehen, ebenso ein Jahr schönes Leben vielen Jahren eines beliebigen Lebens und eine schöne große Tat vielen unbedeutenden Taten.“122.

Angesichts dieser Beschreibung des wahren Selbstliebenden tun wir Aristoteles kein Unrecht, wenn wir annehmen, dass für ihn sowohl Achills als auch Sokrates’ Handeln das Schöne und daher das Lobenswerte im höheren Grad exemplifizieren.

120 Vgl. EN 1169a3-8.

121Vgl. EN 1169a11-15.

122 EN 1169a18-25. a)lhqe\j de\ peri\ tou= spoudai/ou kai\ to\ tw=n fi/lwn e(/neka polla\ pra/ttein kai\ th=j patri/doj, ka)\n de/$

u(perapoqnh/skein: proh/setai ga\r kai\ xrh/mata kai\ tima\j kai\ o(/lwj ta\ perima/xhta a)gaqa/, peripoiou/menoj e(autw=| to\

kalo/n: o)li/gon ga\r xro/non h(sqh=nai sfo/dra ma=llon e(/loit a)\n h)\ polu\n h)re/ma, kai\ biw=sai kalw=j e)niauto\n h)\ po/ll e)/th tuxo/ntwj, kai\ mi/an pra=cin kalh\n kai\ mega/lhn h)\ polla\j kai\

mikra/j.

Kehren wir nun zu Rhet. I 9 zurück, wo Aristoteles eine Liste von Eigenschaften der schönen Dinge präsentiert123. Viele dieser Eigenschaften sind bei den Taten von Achill oder Sokrates zu finden.

Schön sind u.a.:

— Die Taten aufgrund der a)reth/ (gemeint ist, aufgrund des seelischen Gutseins), z.B. gerechte Taten124.

— Zeichen des Gutseins, wie bestimmte Affekte (pa/qh). So zeigt der Affekt des Zorns angesichts der Ungerechtigkeit etwa, dass man gerecht ist125.

— Handlungen, bei denen die Person, um den anderen ein großes Gutes zu erweisen, ihr Leben auf dem Spiel setzen muss oder gar sterben muss.

Solche Handlungen bringen Ehre, aber keine Vergütung, keinen wirtschaftlichen Gewinn (ta\ a)=qla). Der wirtschaftliche Gewinn gehört zu den nützlichen Dingen, nicht aber zu den schönen Dingen126.

— Überragende bzw. außergewöhnliche (ta\ u(pa/rxonta) und denkwürdige (mnhmoneuta/) Handlungen. Außergewöhnliche und denkwürdige Handlungen sind Umschreibungen für große Handlungen127.

123Vgl. Rhet. 1366b25-1367a33.

124Vgl. Rhet. 1366b25-26.

125Vgl. Rhet. 1366b26-31.

126Vgl. Rhet. 1367a1-3 und 1367a25-26.

127Vgl. Rhet. 1367a24-25.

— Taten, die kein anderer Mensch durchführen könnte. Solche Taten zeugen von der einzigartigen Größe eines Menschen. Sie bleiben leichter in Erinnerung der Menschen und sind „schöner“ (ta\ mo/n% u(pa/rxonta kalli/w) als Handlungen, die jeder durchführen kann128.

— Handlungen oder Errungenschaften, die wählenswert (ai(reta/) und fruchtlos (a/)(karpa) sind. Diese offenbaren „das Überragendsein“ des Gutseins (u(peroxh\n a)reth=j dhloi=). Denn sie entblößen den Abstand zwischen denjenigen, die das Gutsein haben und denjenigen, die es nicht besitzen. Zu solchen Handlungen zählen sich u.a. der Sieg bzw.

der Erfolg im Krieg oder irgendeinem Wettkampf und die Ehre129.

Wenn wir an Achill, Sokrates oder an den wahren Selbstliebenden, denken, und wenn wir die Eigenschaften der schönen Handlungen im Auge behalten, wird es offensichtlich, warum die schönen Handlungen im Allgemeinen lobenswert sind: sie sind gut für die anderen und überragend und schwierig. Sie sind es auch deswegen, weil sie implizieren um der anderer willen auf Reichtümer, Ehrungen und andere gute Dinge zu verzichten oder sogar das eigene Leben für die anderen zu riskieren.

Offensichtlich haben wir gute Gründe um das Schöne bzw. die schönen Handlungen zu loben130. Es ist jedoch keineswegs evident, welche Gründe wir haben, selbst nach dem Schönen zu streben, da es ja angeblich gar 128Vgl. Rhet. 1367a26-27.

129Vgl. Rhet. 1367a23-24.

130 Auch in Rhet. II 11, 1388b10-22 behauptet Aristoteles, die Formen des Gutseins werden geehrt, da sie Ursprung von Wohltaten für die Gemeinde sind.

Dies wird von Irwin (1986), S. 128 richtig erkannt: „It is easy to see why the community should praise actions and capacities that promote the public interest;

and such a conception of virtue explains why we should think virtue fine [mit „fine“

übersetzt Irwin „to\ kalo/n“] and praiseworthy.“ Leider geht aber Irwin nicht weiter in seiner Analyse. Er erklärt nicht, warum in unserem eigenen Interesse liegt, uns zu bemühen um schwierige, bedeutende und seltene Handlungen zu unternehmen, nur weil es gut für die Gemeinde ist.

keinen persönlichen Vorteil bringt. Es ist auch nicht eindeutig, welche Rolle die intellektuellen Formen des Gutseins bei der Realisierung schöner Handlungen spielen könnten. Um beide Fragen zu beantworten, müssen wir mehr über das Schöne wissen. Vor allem müssen wir wissen, worauf genau sich das Schöne vom Nützlichen und vom Angenehmen unterscheidet. Dies wird uns auch helfen zu bestimmen, warum eigentlich das Schöne wählenswert, ja sogar wählenswerter als das Nützliche und das Angenehme ist.

2.3. Die Distinktion a(plw=j / tini/ : warum das Schöne

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