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Teilhabe und Nichtdiskriminierung in Bezug auf Schule

2 Schulische Inklusion – eine Begriffsklärung 1

2.2 Menschenrechtliches Verständnis

2.2.3 Teilhabe und Nichtdiskriminierung in Bezug auf Schule

Die oben genannten Menschenrechte – Teilhabe und Überwindung von Diskriminierung – geben einen ersten Rahmen vor. Jedoch fehlt es in bestehenden UN-Konventionen wie der BRK

an einer konkreteren Beschreibung davon, was diese im Hinblick auf den schulischen Kontext implizierenbzw.wasesfürdendeutschenFallbedeutet.HierfürwirdimFolgendenauf be-stehendeArbeitenausderSchultheoriezurückgegriffen.Wiebereitsobenerwähnt,isteshierbei notwendignormativeSetzungenvorzunehmen,z.B.wasrelevanteFunktionenvonSchulen sind.DieshatzurFolge,dassdashierdargestellteVerständnisnureinemöglicheInterpretation fürdasschulischeSettinginDeutschlanddarstellt.ImFolgendenwerdendie Menschenrech-te „Teilhabe“ und „Überwindung von Diskriminierung“ in Bezug auf die Einzelschulebene konkretisiert.

Konkretisierung des Teilhabebegriffs in Bezug auf den schulischen Kontext: Für die Kon-kretisierung des Teilhabebegriffs wird auf die gesellschaftlichen Funktionen von Schule nach Fend(vgl.Fend2006;sieheauchBiesta2009)zurückgegriffen:

Qualifikationsfunktion: Die Schule wird heute (…) als wesentlich für die Erzeugung eines

<Humankapitals> im Sinne der Berufsfähigkeit der jüngeren Generation gesehen (…)“ (Fend 2006, S. 52). Schule hat somit die Aufgabe bestimmte Fähigkeiten und Wissen zu vermitteln, damit Schüler_innen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Enkulturationsfunktion: „Der Erwerb von Fähigkeiten der Reflexion, der eigenständigen Urteilsbildung und der moralischen Entscheidungsfindung“ (ebd., S. 49). So hat Schule die Aufgabe bestimmte Werte und Normen zu vermitteln.

Integrationsfunktion: „Soziale Identitätsbildung, Identifikation und soziale Bindung als Grundlage für soziale Verantwortung“ (ebd., S. 53).

Allokationsfunktion: VerschiedeneFormenderSelektion,z.B.BewertungdurchNotenoder Verteilung auf Schulformen, die im schulischen Setting stattfindet, leisten einen Beitrag dazu, dass einzelne Personen auf soziale Positionen innerhalb der Gesellschaft verteilt werden.

Unter Berücksichtigung von drei Funktionen: der Qualifikations-, Enkulturations- und Inte-grationsfunktion lassen sich zwei Aspekte herausarbeiten (Erläuterung zur Allokationsfunktion

2 Weitere Aspekte, die in Bezug auf die Integrationsfunktion von Relevanz sind, wurden bei der Konkretisierung des Konzepts „Überwindung von Diskriminierung durch Erfahren von intersubjektiver Anerkennung“ mitgedacht, z. B.

Identitätsbildung.

3 Die lerntheoretische Argumentation wäre: „Aktiv an der Gestaltung des Lernens beteiligt sein ist eine wesentliche Voraussetzung für einen guten und sinnvollen Lernprozess, weil Lernen als aktiv aneignender Prozess verstanden wird“ (Bastian 2009, S. 7). Jene lerntheoretische Überlegungen werden im Rahmen der Arbeit zum Teil unter dem Ziel der „Qualifizierung“ aufgegriffen.

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→ Abschnitt 2.2.4): Ausgehend von der Qualifikationsfunktion wird Schule als ein Ort gese-hen, der zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigt, z. B. indem Schüler_innen dazu qualifiziert werden, im Anschluss an den Schulbesuch eine berufliche Ausbildung oder ein Studium zu absolvieren. Ausgehend von der Integrations2- und Enkulturationsfunktion kann Teilhabe auch als (politische) Partizipation in einer demokratischen Gesellschaft verstanden werden. Hiermit ist gemeint, dass Schüler_innen die Möglichkeit haben den schulischen Alltag und Strukturen mitzubestimmen und gestalten.

„Sie umfasst neben politischer Teilhabe auch die Übernahme von Verantwortung für das Gemeinsame durch aktive Mitgestaltung und impliziert sozialen Zusammenschluss, Kooperation und Aushand-lungsprozesse mit anderen Menschen und heterogenen Gruppen“ (Eikel 2006, S. 6).

Dahinter steht der Gedanke, dass Schüler_innen durch politische Partizipation demokratische Kompetenzen erwerben, z. B. Urteils- und Entscheidungsfähigkeit (ebd., S. 10). Ausgehend von der Integrations- und Enkulturationsfunktion wird im Rahmen dieser Arbeit in Bezug auf Partizipation primär auf eine demokratiepädagogische und nicht auf eine lerntheoretische3 Argumentation zurückgegriffen. Demnach wird das Ermöglichen von politischer Partizipation im schulischen Kontext als notwendige Voraussetzung für das Gelingen einer Demokratie gesehen(z.B.Moldenhauer2015,S.21).InBezugaufdiebestehendedemokratiepädagogische LiteraturgibteskeineinheitlichesVerständnisdavon,wodurchsichpolitischePartizipationin pädagogischenSettingskennzeichnet(vgl. DeutscheGesellschaftfürDemokratiepädagogik e.V.2014,S.14).DesWeiterenistzuberücksichtigen,dassbeiderFragenachmöglicher MitgestaltungvonSchüler_innenimschulischenAlltagGrenzenexistieren:Beispielsweisegibt es bestimmte gesetzliche Vorgaben wie die Schulpflicht, die nicht von Seiten der Schüler_innen verändert werden können (vgl. Moldenhauer 2015, S. 9). Innerhalb dieser Grenzen ist das Ermöglichen von Partizipation jedoch ein notwendiges Instrument für die Herausbildung von autonomen und selbstbestimmten Subjekten (vgl. ebd.). Aus menschenrechtlicher Perspektive ergibt sich demnach ein „subjektorientiertes und rechtebasiertes Verständnis von Partizipa-tion“ (vgl. Reitz 2015, S. 5), das auch in der Kinderrechtskonvention (KRK) (vgl. Netzwerk Menschenrechte 2017; siehe auch Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik e.V. 2014) verankert ist. Zusammenfassend lassen sich demnach zwei Verständnisse von Teilhabe ableiten:

Teilhabe als Qualifizierung von Schüler_innen sowie im Sinne politischer Partizipation.

Konkretisierung des Konzepts „Überwindung von Diskriminierung“ in Bezug auf den schulischen Kontext: Als weiteres Ziel von Inklusion wird im Rahmen dieser Arbeit die Überwindung von Diskriminierung gesehen. In diesem Zusammenhang ließe sich argumentie-ren, dass das Ermöglichen von Teilhabe ein Mittel ist, um Diskriminierung zu überwinden.

Diskriminierung kann jedoch weiter gefasst werden. So argumentiert Rudolf: „Teilhabe ist nur möglich,wennkeineDiskriminierungstattfindet“(Rudolf2017,S.15).Demnachkönnen darunterauchverletzendeÄußerungeninpersönlichenInteraktionenfallen,z.B.stereotype Zuschreibungen,diesichnegativaufdieIdentitätsbildungdesIndividuumsauswirkenkönnen

(vgl. Goffman 2002). Im Folgenden wird auf den Anerkennungsbegriff von Honneth zurück-gegriffen (vgl. Honneth 1992). Dahinter steht der Gedanke, dass die Konkretisierung eines negativ besetzten Konzepts wie Diskriminierung bei der Beschreibung davon, wie Schulkultur idealerweise gestaltet sein sollte, nur begrenzt weiterhelfen würde (für die Verwendung des Honneth’schen Anerkennungsbegriff in Bezug auf Inklusion siehe Helsper et al. 2001; Sand-ring 2013). Im Folgenden wird daher argumentiert, dass das Erfahren von Anerkennung eine Gelingensbedingung für die Überwindung von Diskriminierung darstellt.

Bei Honneth wird Anerkennung „als ein Akt der Affirmation von positiven Eigenschaften menschlicher Subjekte“ (Balzer 2014, S. 578) verstanden. Demnach ist das Erfahren von Aner-kennungfürdieEntwicklungvonSelbstachtungundSelbstwertgefühlnotwendig(Honneth 1992,S.220;sieheauchPrengel2006,S.60).DabeiwirddemAnerkennungskonzepteine Doppelrollezugewiesen:

„Einerseits scheint sie – als fehlende Anerkennung – der Grund gesellschaftlicher Ungleichheit und Marginalisierung zu sein, andererseits scheint sie zugleich – als Inbegriff der pädagogischen Strategie – auch der Weg der (Auf-)Lösung eben dieser Probleme zu sein“ (Balzer und Ricken 2010, S. 62).

In diesem Zusammenhang unterscheidet Honneth zwischen drei Anerkennungssphären: emo-tionaler Anerkennung; rechtlicher Anerkennung und der sozialen Wertschätzung (vgl. Honneth 1992; siehe auch Balzer 2014):

Emotionale Anerkennung: Darunter werden alle Beziehungen verstanden, die „aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen“ (Honneth 1992, S. 153). „Die Anerkennung [muss, ap] hier selber den Charakter affektiver Zustimmung und Ermutigung besitzen“ (ebd., S. 153).

Rechtliche Anerkennung: „Die Rechtssubjekte erkennen sich dadurch, dass sie dem glei-chen Gesetz gehorglei-chen, wechselseitig als Personen an, die in individueller Autonomie über moralische Normen vernünftig zu entscheiden vermögen“ (ebd., S. 177).

Soziale Wertschätzung: „Im Unterschied zur rechtlichen Anerkennung in ihrer modernen Gestalt, so haben wir gesehen, gilt die soziale Wertschätzung den besonderen Eigenschaften, durch die Menschen in ihren persönlichen Unterschieden charakterisiert sind“ (ebd., S. 197).

Diese muss auf „intersubjektiv verbindliche Weise zum Ausdruck“ (ebd., S. 197) gebracht werden.

Es gibt diverse Interpretationen davon, wie Honneths Anerkennungssphären auf den pädago-gischen Kontext übertragen werden können (z. B. Helsper et al. 2005; Lussi und S. Huber 2015).

EmotionaleAnerkennung: HierlässtsichnurschweraufdasVerhältniszwischenLehrkräften undSchüler_innenübertragen.HelsperverwendetdasBildeiner

„prinzipiell positiv getönten Haltung des Interesses an der Person, den Lernwegen, Lernkrisen und Bildungsprozessen der Schüler, die auf einem an der ‚Sache‘, also der Ermöglichung umfassender Bildungsprozesse, orientierten Vertrauen basiert“ (Helsper et al. 2001, S. 32).

Diese Interpretation entfernt sich jedoch sehr stark von Honneths’ Verständnis. So wäre die Haltung gegenüber Schüler_innen einseitig und es kann nicht von intersubjektiver Aner-kennung gesprochen werden. Die begrenzte Anwendbarkeit der Sphäre bestätigen indirekt auch die empirischen Studien von Lussi und Huber, wonach sich Formen der emotionalen

4 Lussi und Huber bleiben hier nah an der Definition von Honneth und verstehen unter emotionaler Anerkennung

„emotionale Zuwendungen oder Bindungen“ (Lussi und S. Huber 2015).

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Anerkennung4 im Rahmen von Peerbeziehungen beobachten lassen, aber kaum zwischen Lehrkräften und Schüler_innen (vgl. Lussi und S. Huber 2015).

Rechtliche Anerkennung: Hier geht es im pädagogischen Kontext um „gerechte Behandlung und der Zubilligung gleicher Rechte und Möglichkeiten“ (Helsper et al. 2001, S. 32).

„In welcher Form allen Schülern unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Herkunft, Glaubensüber-zeugungen etc. Möglichkeiten des gleichberechtigten Zuganges zu Lern- und Bildungsprozessen ermöglicht und gleiche Chancen der Partizipation eröffnet werden, ist für die konkrete Ausformung der Schulkultur zentral“ (ebd., S. 32).

HierlässtsichGraumannsInterpretationvon„rechtlicherAnerkennung“ergänzen:Sogeht esininklusivenSettingsdarum,dassKindererfahren,dasssieRechtehaben(Graumann 2012,S.90).HierbeibetontsiedasRechtaufSelbstbestimmung.

SozialeWertschätzung: „ÜberdieseAnerkennungsformderkonkretenPersonaufgrundihrer spezifischenLeistungen,Eigenschaften,Haltungen,ihresLebensstilsundihrer Selbstdar-stellung konstituiert sich die Wertschätzung der Person in den Augen bedeutsamer anderer“

(Helsper et al. 2001, S. 33). Dabei basieren Formen der sozialen Wertschätzung nach Lussi und Huber im schulischen Kontext insbesondere auf „der Anerkennung individueller Leistun-gen und Fähigkeiten“ (Lussi und S. Huber 2015). Sandring macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass der Fokus auf Leistungen im Kontext von Bildungsungleichheiten kritisch zu sehen ist, da die unterschiedlichen Voraussetzungen der Schüler_innen nicht berücksichtigt werden. Graumann versucht diesen Aspekt zu berücksichtigen, indem sie

„soziale Wertschätzung“ im inklusiven Setting folgendermaßen beschreibt: Es geht um die Überwindung einer Defizitorientierung sowie einer „wertschätzenden Einstellung gegenüber allenbesonderenFähigkeiten,ZugehörigkeitenundLebensentwürfen“(Graumann2012, S.92).Diesimpliziert,dassSchüler_inneneinewertschätzendeHaltungentgegengebracht wird,dieunabhängigdavonist,welcheschulischenLeistungensieerbringen.Anknüpfend anGraumannsKonkretisierungderAnerkennungssphärenfür denschulischenKontext bedeutetdasErfahrenvonintersubjektiverAnerkennungalseinZielvonInklusion,dass Schüler_innensichihrerRechtebewusstsindundihneninderInteraktionmitanderen, z. B. mit Mitschüler_innen oder Lehrkräften, eine wertschätzende Haltung entgegengebracht wird.

Daran anknüpfend ist das Konzept der „egalitären Differenz“ nach Prengel (2001) zu nennen:

„Im Gedanken der egalitären Differenz kommt Kritik an hierarchischen Strukturen auf der gesellschaftlichen wie auf der persönlichen Ebene zum Ausdruck“ (ebd., S. 94). Dabei beinhal-tet das Konzept „die Entfaltung des Verschiedenen auf der Basis gleicher Rechte“ (Prengel 2006, S. 49). Demnach ist dem Konzept inhärent, dass alle Schüler_innen gleichwertig sind und zugleich in ihrer Unterschiedlichkeit anerkannt werden.

DerHonneth‘scheAnerkennungsbegriffistjedochabzugrenzenvonanderenVerwendungen desAnerkennungsbegriffs(füreineÜbersichtsieheBalzer2014).NachBalzerundRicken er-möglichtderpositivbesetzteAnerkennungsbegriffvonHonnethzwar,dass„Erscheinungender fehlendenAnerkennungoderDemütigungs- undMissachtungserfahrungenproblematisierbar werden“(BalzerundRicken2010,S.54).JedochsehenBalzerundRickenmitVerweisauf

Emcke kritisch, dass Anerkennung in Form von kulturell codierten Zuschreibungen stattfindet, bestehende Machtstrukturen somit reproduziert werden (vgl. Balzer 2014, S. 578; siehe auch Balzer und Ricken 2010, S. 53). In diesem Fall wird Anerkennung als ein „spezifisches Struktur-moment einer jeden menschlichen Kommunikation und Praktik“ (ebd., S. 73) verstanden.

Ein weiterer Kritikpunkt am Honneth‘schen Anerkennungsbegriff ist nach Balzer und Ricken, dass dieser die Widersprüche im pädagogischen Handeln nicht sichtbar macht (vgl. ebd., S. 55).

Demnach hat Schule die Aufgabe Schüler_innen zu fördern und zu unterstützen, aber auch zu sanktionieren und zu selektieren.

„Genau diese pädagogische Ambivalenz aber wird durch eine durchgängige positive Aufladung von Anerkennung mindestens übersprungen und mit Blick auf die Praxis erheblich beschwert, laufen doch regulierende, negierende wie sanktionierende Handlungen dann allzu leicht Gefahr, als Abwertungen und Missachtungen codiert zu werden“ (ebd., S. 55).

Dieser Kritikpunkt weist auf eine Grenze hin, die generell bei dem hier verwendeten Verständnis von Inklusion besteht: So liefert dieses keine Antworten darauf, inwiefern die durch Inklusion angestrebtenZieleerreichtwerdensollenundzugleicheineweiteregesellschaftlicheFunktion vonSchule,dieAllokationsfunktion,erfülltwerdensoll(vgl.Moser2017).Hierbleibteine Leerstellebestehen.

TrotzderKritikamHonneth’schen AnerkennungsbegriffwirdimRahmenderArbeitauf diesenzurückgegriffen.GleichwohlwerdendievonBalzerundRickeneingebrachten Kri-tikpunkteberücksichtigt,wennesumdieOperationalisierungvonDifferenzlinieninden Bewertungsinstrumenten der Schulinspektionen geht.