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Institutionalisierung von Indikatoren

4 Messinstrumente aus bewertungssoziologischer Perspektive 59

4.2 Entwicklung von Bewertungsinstrumenten

4.2.3 Institutionalisierung von Indikatoren

DienähereBetrachtungvonBewertungskonstellationenhatdeutlichgemacht,welcheAspekte beiderEntwicklungvonIndikatorenprägendwirkenkönnen.DarüberhinauskannderGrad derInstitutionalisierungeineRollespielen:DieserlässtAussagendarüberzu,inwelchem Aus-maß Indikatoren in der Praxis genutzt werden, z. B. als Grundlage für politische Entscheidungen oder Veränderungen bei der evaluierten Organisation, und wie etabliert sie sind. Dabei findet die Institutionalisierung von Indikatoren – wenn sie überhaupt stattfindet – zeitlich nach der Entwicklung von Indikatoren statt. Es ist dennoch möglich, dass dieser Aspekt bereits bei der Entwicklung von Indikatoren antizipiert wird, da Instrumenteentwickler_innen ein Interesse daran haben, dass die von ihnen formulierten Indikatoren in der Praxis Anwendung finden und zeitlich stabil sind.

Forminvestitionen als Bemühung um Institutionalisierung: Wenn bestehende Klassifizie-rungen sich durchgesetzt haben, d. h. genutzt werden, werden sie – wie oben bereits dargestellt – häufig nicht mehr in Frage gestellt (vgl. Beckert und Musselin 2013, S. 7). Um in Bezug auf Indikatoren von einem hohen Grad von Institutionalisierung sprechen zu können, müssen sie

3 Im Rahmen eines Beitrags, der in 2019 erscheint, setzt sich die Autorin dieser Arbeit intensiver mit der Frage der Institutionalisierung auseinander und greift hierfür auf andere theoretische Zugänge zurück.

jedoch eine bestimmte Autorität erlangen. Dies hängt nach Rottenburg und Merry von den privaten und staatlichen Organisationen ab, die involviert sind (vgl. Rottenburg und Merry 2015b, S. 11). Darüber hinaus ist die Institutionalisierung von Indikatoren wahrscheinlich, wenn zuvor Unsicherheit darüber bestand, wie etwas zu klassifizieren ist (vgl. Thévenot 2009).

Des Weiteren kann es sein, dass Indikatoren für legitim erachtet werden, wenn unterschiedliche Akteure beim Entstehungsprozess beteiligt waren (vgl. Castel 2009). In Bezug auf die Etablie-rung von KlassifizieEtablie-rungen bzw. Indikatoren spricht Thévenot (2009) von „Forminvestitionen“:

Dabei geht um es „Investitionen in die Gültigkeit (Validität im Sinne einer Anerkennung) einer Form hinsichtlich einer bestimmten (sachlich-sozialen) Reichweite und für eine bestimmte zeitlicheDauer“(Diaz-Bone2015,S.89;sieheauchThévenot2009).

InBezugaufdieSchulinspektionenstelltsichdieFrage,inwieferndieIndikatorender Schulin-spektionenzurMessungvonSchulqualitätetabliertsind.3 HierzugibtesbislangkaumStudien, jedochgibtesverschiedeneAspekte,diedaraufschließenlassen,dassderGradan Institutiona-lisierungehergeringeinzustufenist(nähereAusführungsiehePiezunka2019):Sosprichtfür einengeringenGradanInstitutionalisierung,dassdieBundesländersichdarinunterscheiden, welche Indikatoren sie anwenden, um die Qualität von Schule zu messen. Demnach gelten die jeweiligen Indikatoren nur im eigenen Bundesland und es gibt nicht ein einheitliches Set an Indikatoren, dass deutschlandweit bzw. international angewandt wird. Ein niedriger Grad an Institutionalisierung lässt sich auch daraus ableiten, dass die Existenzberechtigung von Schulinspektionen im öffentlichen Diskurs (z. B. BLLV 2017) immer wieder in Frage gestellt wird – mit der Folge, dass die Schulinspektionen in manchen Bundesländern in den letzten Jahren abgeschafft wurden (nähere Ausführung → Kapitel 3). Auf der anderen Seite lässt sich argumentieren, dass die Indikatoren der Schulinspektionen zu einem gewissen Grad bereits institutionalisiert sind, da sie in den Fällen, die im Rahmen der Arbeit betrachtet werden, schriftlichfixiertsind,vondenjeweiligenMinisterienakzeptiertwurdenundinderPraxis Anwendungfinden.DesWeiterenkanninsofernvoneinemgewissenGradan Institutionali-sierunggesprochenwerden,alssichdiemeistenderbetrachtetenSchulinspektionenaktuell bereitsimzweitenoderdrittenInspektionszyklusbefindenundsomitargumentiertwerden könnte,dassdieIndikatorenbereitsetabliertsind.

DerGradan Institutionalisierungkannin Bezugauf dieEntwicklung vonInstrumenten zu Inklusion insofern von Relevanz sein, als dass diese nicht zu Beginn, sondern ca. 5-8 Jahre nach der Entwicklung des ersten Sets an Instrumenten eingeführt wurden. Bereits zu diesem Zeitpunkt wurde das Verfahren der Schulinspektionen im öffentlichen Diskurs in Frage gestellt bzw. die ersten Inspektionen wurden abgeschafft. Demnach kann es sein, dass die bestehenden Schulinspektionen bei der Überarbeitung der Messinstrumente bzw. der Entwicklung von Instrumenten zu Inklusion insbesondere das Interesse verfolgt haben, dass das Verfahren bzw. die Messinstrumente zukünftig für das Handeln von einzelnen Schulen und für die Bildungsadministration von höherer Relevanz sind. Dieser Aspekt wird im Rahmen der empirischen Analyse thematisiert.

ImFolgendengehtesnunumdieFrage,wiedieAuswahlanIndikatorenvonSeitender Instru-menteentwickler_innenbegründetwird.DienähereBetrachtungvon Rechtfertigungsordnun-genlässtHinweisedaraufzu,welcheRahmenbedingungendieEntwicklungvonInstrumenten geprägthatundgibtHinweisedarauf,welcheWertvorstellungeneineRollegespielthabenbzw.

welchenichtvonRelevanzwaren.

4 Diaz-Bone weist darauf hin, dass eine Vielzahl an Begrifflichkeiten für das gleiche Konzept verwendet wird, z. B.

„Werteordnung“, „Rechtfertigungsordnung, Welt (cités), Qualitätskonvention oder Polis“ (Diaz-Bone 2015, S. 140).

So betont beispielsweise der Begriff „Welt“, dass in der Koordination für die Akteure in Situationen ein praktisch geteilter Sinnhorizont zur Verfügung steht, der intersubjektiv geteilte (und objektgestütze) Interpretationen und Kognitionen ermöglicht“ (ebd., S. 140).

5 In Bezug auf die Soziologie der Konventionen betont Diaz-Bone, dass jenes Konzept von Boltanski und Thévenot

„eine der genuinen Leistungen“ (ebd., S. 135) darstellt, die die Soziologie der Konventionen maßgeblich geprägt hat.

Jedoch haben Boltanski und Thévenot damals noch nicht das Konzept der Konventionen verwendet (ebd., 135f.).

6 Als weitere Werteordnung führen unter anderem Thévenot und Boltanski noch die ökologische Konvention sowie die projektbasierte Konvention ein (für ausführliche Beschreibungen siehe ebd.).

Entwicklung von Bewertungsinstrumenten 69

Rechtfertigungsordnungen: Im Folgenden wird das Konzept der Rechtfertigungsordnungen von Boltanski und Thévenot (2007) näher dargestellt. Die beiden Autoren haben untersucht, auf welche Rechtfertigungsordnungen4 zurückgegriffen wurde, um Indikatoren, die für die statistische Berichterstattung in Frankreich genutzt werden, zu begründen (vgl. ebd.).

Die Existenz von unterschiedlichen Rechtfertigungsordnungen wird sichtbar, wenn die Ent-wickler von Indikatoren sich darüber einigen müssen, anhand welcher Werteordnungen die Wertigkeit eines Objekts festgelegt wird (Wagner 2011, S. 272; siehe auch Anagnostopoulos et al. 2016). Boltanski und Thévenot (1999) sprechen in diesem Zusammenhang von „critical moments“, weil in solchen Momenten nicht klar ist, welche Werteordnungen angewandt wer-densollen.DabeikennzeichnensichdieseMomentedadurch,dassdieAkteurereflektieren, wiesiedieWertigkeiteinesObjektsfestlegen.Umsichzurechtfertigen,benennensieexplizit Werteordnungen,dieihrerMeinungnachangewandtwerdensollten.Demnachstellendie Wer-teordnungen„<Denkmodelle>für(…)reales,alltäglichesUrteilenundHandeln“(Diaz-Bone 2015,S.139)dar.5

BoltanskiundThévenotunterscheidenhierbeizwischensechsWerteordnungen,diespäter noch ergänzt wurden6 und im Folgendem u. a. am Beispiel ”Wertigkeit einer Person“ illustriert werden:

Welt des Markts: „Als legitime Praxis gelten der freie Wettbewerb (die Konkurrenz) unter Absehung der jeweiligen Person und der individuell geldvermittelte Tausch (Geld gegen Güter) zwischen Individuen“ (ebd., S. 141). Demnach bemisst sich die Wertigkeit von Personen beispielsweise anhand „ihrer Kaufkraft (Käufer) sowie der Behauptung im Wettbewerb (Verkäufer)“ (ebd., S. 141). Als Werte benennt Diaz-Bone Egoismus und Opportunismus (vgl.ebd.,S.141).

WeltderIndustrie: „PersonenstehenhiernichtinTauschbeziehungenzueinander,sondernin

<funktionalen>Beziehungen.AndieStelledesEigeninteresses,dasinderMarktweltlegitim war,tretendieplanerischeRationalitätunddie(wissenschaftliche)OptimierungderPlanung“

(ebd., S. 142). Nach Diaz-Bone hat jene Form der Weltordnung eine „enorme Verbreitung, denn die Strategien der Planung, Standardisierung, Effizienzsteigerung und Verzifferung zur Koordination von Produktion finden sich in vielen sozialen Bereichen“ (ebd., S. 142). Die Wertigkeit eines Objekts wird demnach anhand deren Funktionalität begründet.

Welt des Hauses: „In einer häuslichen Welt richtet sich die Wertigkeit eines Menschen nach seinem Rang in einer Vertrauenshierarchie, der wiederum eine Kette persönlicher Abhängig-keiten zugrunde liegt“ (Boltanski und Thévenot 2011:58 zit. in ebd., S. 143). „Personen sind in dieser Welt durch Verwandtschaftsbeziehungen, personale Abhängigkeit, Hierarchie, Loya-lität,gemeinsameHerkunft,AbstammungenundVertrauenmiteinanderverbunden.“Hierbei bemisstsichderWertnichtanderOrientierunganStandards(WeltderIndustrie),sondern

die Einzigartigkeit von Menschen und ihre „individuelle Könnerschaft“ (Diaz-Bone 2015, S. 143) werden anerkannt. „Das Gemeinwohl besteht hier in der Stärke der Gemeinschaft (…), die sich ihrerseits um ihre Mitglieder <sorgt> und diese schützt“ (ebd., S. 144).

Welt der Meinung: „Die Wertigkeit ist das Ausmaß an Ruhm, Ehre, Anerkennung und Be-kanntheit“ (ebd., S. 144). In der Praxis bedeutete dies, dass es als legitim angesehen werden würde, die Wertigkeit einer Person oder eines Objekts auf der Grundlage seines Rufs fest-zulegen. Im Fall von Schule zeigt sich diese Werteordnung beim Schulwahlverhalten von Eltern. So ist für viele der Ruf einer Schule entscheidend dafür, ob sie ihr Kind an einer Schule anmelden oder nicht.

WeltderInnovation: „Diese Konventionbegründet dieWertigkeit vonPersonen,denen besonderekreativeFähigkeitenundLeistungenzuerkanntwerden“(ebd.,S.145),bzw.kann sichauchdieWertigkeitvonObjektenmitdemGradderInnovationbegründenlassen.

DieseRechtfertigungsordnungwirdvonDiaz-Bone(2015)alsunsicherundunberechenbar beschrieben, weil die Frage danach, ob etwas inspirierend und innovativ ist, nicht objektiv zu beantworten ist.

Welt des Staatsbürgers: „Diese Konvention hält eine Welt im Inneren zusammen, die die Solidarität und die Rechte und die Gleichheit der Menschen betont, weil sie Teil eines aufgeklärten, bürgerlichen Kollektivs sind (Parteien, Staat, Vereine, soziale Bewegungen, Initativen, etc.)“ (ebd., S. 146). „In Organisationen gibt es entsprechende Abteilungen oder Positionen (Gleichstellungsbeauftragte), die gegen Diskriminierung (hinsichtlich Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit) vorgehen und auf die Gleichbehandlung achten sollen“ (ebd., S. 147).

DieeinzelnenWerteordnungenunterscheidensichunteranderemdarin,

WorinsichdieWertigkeitäußert,z.B.beider„WeltderInnovation“istesderGradder Kreativität;

WasrelevanteInformationenzurMessungsind,z.B.isteshäufigdermonetärePreisbei der „Welt des Marktes“;

• Wovon es abhängt, dass Wert zugeschrieben wird, z. B. bei der „Welt des Hauses“ ist es der Grad an Vertrauen;

• Wie das Objekt wahrgenommen wird, z. B. bei der „Welt der Meinung“ ist das relevante Attribut eines Objekts die Bekanntheit (vgl. Boltanski und Thévenot 1999, S. 368).

Die oben beschriebenen Werteordnungen wurden aus sozialphilosophischen Schriften abgeleitet und empirisch durch diverse Untersuchungen gestützt (vgl. Boltanski und Thévenot 2007).

Dabei argumentieren Boltanski und Thévenot, dass die einzelnen Rechtfertigungsordnungen systemübergreifend auftauchen können und nicht nur für einen Bereich gelten (vgl. Beckert undMusselin2013,S.12),z.B.dieökonomischeArgumentation(„WeltdesMarktes“) be-schränktsichnichtaufdasWirtschaftssystem,bzw.werdenimWirtschaftssystemauchandere Werteordnungenfürlegitimerachtet(vgl.Diaz-Bone2015,S.141).

GrundsätzlichsinddieWerteordnungenalsgleichwertiganzusehen(vgl.Stark2009,S.24).So gibteskeineLetztbegründung,dieerklärt,warumbestimmteWerteordnungenhöher anzu-siedelnsindalsandere.Stark(2009)sprichtindiesemZusammenhangvoneinerHeterarchie von Werteordnungen. In Bezug auf konkrete Handlungsprozesse ist es jedoch notwendig,

Exkurs: Qualität von Schule 71

eine Entscheidung darüber zu treffen, welche Werteordnungen angewandt bzw. miteinander kombiniert werden sollen.

In Bezug auf diese Arbeit lassen sich die theoretischen Überlegungen zu Rechtfertigungs- bzw.

Werteordnungen auf verschiedene Aspekte anwenden: Beispielsweise wenn begründet werden soll, welches Verständnis von guter Schule in Form von Indikatoren operationalisiert werden sollte. So könnte argumentiert werden, dass eine Schule gut ist, wenn sie im Wohnort eine hohe Reputation genießt („Welt der Meinung“) oder sich stets weiterentwickelt („Welt der Innovation“). Ausgehend von der Fragestellung der Arbeit dient das theoretische Konzept der Rechtfertigungsordnungen im Folgenden primär als Grundlage, um zu verstehen, wie dieMitarbeiter_innenvonSchulinspektionenbeiderEntwicklungvonIndikatorenzu Inklusionvorgegangensindbzw.wiesieihrHandelnbegründen.Esgehtdaherumdie Frage,wiebegründetwird,welcheRahmenbedingungenbeiderEntwicklungvonIndikatoren fürrelevanterachtetwurden.