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6 Empirisches Design 87

6.2 Analyse der Experteninterviews

6.2.4 Reflexion der Interviews

Im Rahmen einer kritischen Reflexion geht es im Folgenden darum zu diskutieren, welche Aspekte den Verlauf des Interviews sowie die Auswahl der Informationen, die kommuniziert wurden, geprägt haben. Hierbei wird zum einen auf die Arbeiten von Becker (2006) sowie Alvesson (2003) zurückgegriffen. So wurden die Erkenntnisse beispielsweise in der Datenaus-wertung bei der Gewichtung von widersprüchlichen Aussagen berücksichtigt. Zum anderen dienen diese Informationen dazu, das vorhandene Material in Hinblick auf seine Aussagekraft einordnen zu können. Nachfolgend werden daher verschiedene Aspekte thematisiert, wie das Verhältnis zwischen Interviewerin und interviewter Person, Konstruktion von Identitäten, stra-tegisches Verhalten durch die interviewte Person, Unsicherheit sowie geringe Thematisierung von persönlichen Erfahrungen.

Wahrnehmung der Interviewsituation: Nach Alvesson stellen Interviews „komplexe soziale Situationen“ (ebd., S. 18) dar. Hierbei spielt u. a. auch eine Rolle, wie die Interviewerin – in diesem Falle die Autorin dieser Arbeit – von den interviewten Personen wahrgenommen wird.

Bei manchen Interviews hatte vorher bereits persönlicher Kontakt bestanden, z. B. inhaltlicher AustauschimRahmenvonTagungen.Diesspiegeltesichinvielen(abernichtinallen)Interviews darinwider,dassrechtschnelleinesehrvertrauteGesprächsatmosphärevorhandenwar.Die vertraute Gesprächsatmosphäreunddie Sympathiegegenüber deninterviewten Personen stellteindiesbezüglichderDatenauswertungfürdieAutorineineHerausforderungdar,da

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es ein langwieriger Prozess war, sich von den ersten oberflächlichen Interpretationen und Zuschreibungen zu lösen und eine Distanz zum Interviewmaterial aufzubauen.

Des Weiteren hatte die Autorin den Eindruck, dass ihr Geschlecht, Expertise und Alter im Gespräch mit einigen Interviewten eine Rolle spielten. So hatten manche Interviewpartner vor dem Interview bereits einen allgemeinen Vortrag der Autorin zur Umsetzung von Inklusion in Deutschland gehört. Dies hatte zur Folge, dass der Autorin von manchen Interviewpartnern ein

„Expertenstatus“ in den Interviews zugeschrieben wurde, weshalb es während der Interviews zu interessierten Nachfragen kam, wie die Autorin dieser Arbeit bestimmte Aspekte einschätzen würde. Während des Interviews ist die Autorin diesen Fragen ausgewichen.

JedochgabesauchgegenteiligeErfahrungen:Als„junge“FrauinderQualifizierungsphasegab eseinzelneMomente,wodieAutorindenEindruckhatte,dassinsbesondereeinigemännliche InterviewpartnereineväterlicheRolleeinnahmen.DieshattehäufigzurImplikation,dassim erklärendenStilrelativvielundoffenerzähltwurde.EsgabjedochauchSituationen,indenen bestimmteproblematischeThemenbewusstumgangenwurden,weildavonausgegangenwurde, dassdieProblematikderThemenderAutorindieserArbeitnichtbekanntsei.DasNachhaken der nicht angesprochenen Themen zum Ende des Interviews, führte dann – nach Eindruck der Autorin – zu Überraschungsmomenten. In diesem Zusammenhang ist es möglich, dass weitere Themen explizit nicht angesprochen wurden und dies aufgrund fehlender Kenntnisse durch die Autorin nicht bemerkt wurde.

Konstruktion von Identitäten: Nach Alvesson (2003) können Interviews als Instrument für die Interviewten dienen, um eigene Identitäten zu konstruieren bzw. zu „reparieren“. Dies spiegelt sich unter anderem darin wider, dass bei den Erzählungen unbewusst eine Rolle spielt, welche Identität sie von sich selbst erzeugen möchten. Dies kann unter anderem implizieren, dass Fehlverhalten nicht als solches gesehen und dementsprechend anders dargestellt wird.

Inwiefern die Interviews zur Konstruktion oder zur Reparatur von Identitäten genutzt wurden, zeigte sich teilweise beim Vergleich der Interviews.

Die Mehrheit der Interviewten sprach zwar von Herausforderungen bei der Entwicklung der Bewertungsinstrumente, aber den finalen Bewertungsinstrumenten wurden kaum Mängel attestiert.SogabesnurwenigeFällen,indenendieInstrumentebzw.dieEntwicklung kri-tischreflektiertwurde:SogabeseinenFall,indemderStatusderInspektionunsicherwar (keineweiterenInformationenausAnonymisierungsgründen)undeinenanderenFall,wo dieInstrumentenichtmehrangewandtwurden.InBezugaufdieDatenauswertungistder VorgangderIdentitätskonstruktionnurschwerzugänglich,daeskaumabschätzbarist,welche Implikationendieshinsichtlichdesvorhandenenbzw.fehlendenDatenmaterialsergeben.

PolitischeInteressenbzw.strategischesVerhalten: DieErzählungenderInterviewtensind auchdavongeprägt,welcheBotschaftensiederInterviewpersongernemitgebenwürde.Dabei kanndasKommunizierenvonBotschaftensowohlunbewusstalsauchintentionalstattfinden (vgl.ebd.).

In einzelnen Interviewsituationen entstand der Eindruck, dass bewusst bestimmte Positionen vertreten bzw. Informationen weggelassen wurden. Zum Beispiel: Das Interview mit einer Lei-tungsperson war aus gesundheitlichen Gründen nach hinten verschoben worden. Die anderen Interviews, eine Präsentation zu den bundesländerspezifischen Ergebnissen durch die Autorin dieser Arbeit sowie eine anschließende Plenumsdiskussion hatten in dem jeweiligen Bundesland bereits eine Woche zuvor stattgefunden. Im Rahmen der Präsentation und der anschließenden

Diskussion wurde deutlich, dass die Mehrheit der Mitarbeiter_innen der Schulinspektion dem Thema Inklusion kritisch gegenübersteht. Beispielsweise wurde die Präsentation der Autorin mit den Worten angekündigt „Es wird heute ein Vortrag über ein Thema gehalten, das uns auch noch heimsuchen wird.“ In der Diskussion kam die Frage auf, warum Inklusion über-haupt notwendig sei und was so schlecht an den Förderschulen sei. Die hier beschriebene Interviewperson war zwar nicht anwesend, aber wies zu Beginn des Interviews darauf hin, dass sie das Protokoll gelesen habe und von den Mitarbeiter_innen informiert worden sei. In dem Interview fiel eine Vielzahl von Aussagen, die mit den Kenntnissen, die die Autorin im Rahmen der anderen Interviews, der Diskussion sowie durch die Analyse der Instrumente erworben hatte,nichtkohärentwar.SowurdeInklusionzumTeilalseinThemadargestellt,dassfürdie Mitarbeiter_innenderSchulinspektionrelevantundunterstützenswertsei.Demnachkames innerhalbdesInterviewszuwidersprüchlichenAussagendazu,welcheRelevanzdemThema beigemessenwird.ZusätzlichgabesnochvonSeitenderInterviewpersondenHinweis,dass esvomKultusministeriumindenletztenTagendasSignalgegebenhätte,dassdasThema InklusionnunaufdieAgendamüsste.WährenddesInterviewsentstandderEindruck,dassdie Interviewperson aus strategischen Gründen eine bestimmte Position vertrat, wonach Inklusion eine große Bedeutung zugemessen wurde. Diese Position wurde jedoch im Laufe des Interviews nicht konsequent aufrecht gehalten. Für die Datenanalyse hatte diese Einschätzung zur Folge, dass einzelne Aussagen im Interview unterschiedlich gewichtet und eingeordnet wurden.

Unsicherheit bei den Interviewpersonen: Bei der Analyse des Interviews ist zu berücksich-tigen, dass die Interviewsituation eine Ausnahmesituation darstellt, die häufig mit bestimmten Unsicherheiten einhergeht. Beispielsweise fragen sich Interviewte häufig, ob die Fragestellungen, die von den Forscher_innen kommuniziert wurden, die tatsächlichen Fragestellung sind (vgl.

Alvesson 2003). In diesem Fall wurde die Fragestellung den Interviewten offen kommuniziert, aber dies kann den Interviewten nicht die Unsicherheit darüber nehmen, ob dies der Wahr-heit entspricht. So zeigte sich in einem Fall, dass der Interviewpartner bereits im Vorhinein Nachfragen über das geplante Vorgehen bzw. während des Interviews mehrfach erkundigte, wie bestimmte Fragen gemeint seien. Bei der Beantwortung der Forschungsfragen nahm sich diePersonsehrvielZeitundwägtehäufigab,ober/sieinderLagesei,bestimmteFragen zubeantwortenbzw.verwiesaufKolleg_innen.DesWeiterenhattedieszurFolge,dassder Erzählflussnurschwerzustandekam.DiesesVorgehenerklärtesichdieAutorinzumeinenmit InteresseanwissenschaftlichenFragestellungenunddemAnspruchderinterviewtenPerson alsBerufsanfänger_inkeineFehlermachenzuwollen.ZumanderenhattedieAutorinbeiden InterviewsdenEindruck,dassUnsicherheiteninBezugaufdieZielsetzungdesInterviewsbei den anderen Interviewpartnern kaum vorhanden waren, bzw. im Laufe des Gesprächs abgebaut wurden.

GeringeThematisierungvonpersönlichenErfahrungen: ImRahmendes Sensemaking-AnsatzeswerdendiepersönlichenÜberzeugungenundErfahrungendesjeweiligenSensemakers als ein Element genannt. So prägen diese die kognitive Auseinandersetzung mit Inklusion. Bei der Analyse der Interviews zeigte sich, dass ein Teilaspekt von persönlichen Überzeugungen, nämlich Aspekte auf der Gefühlsebene sowie Erfahrungen mit Inklusion im privaten Bereich, keine große Rolle gespielt haben. Es gibt verschiedene Erklärungen, die Hinweise darauf geben können, warum diese eine geringere Rolle gespielt haben, als dies vorab von der Autorin erwartet wurde: Eine Möglichkeit wäre, dass persönliche Erfahrungen bei der kognitiven

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Auseinandersetzung mit Inklusion keine Rolle spielen. Dies lässt sich im Rahmen meiner Daten nicht falsifizieren. Dennoch ist diese Option bei einem normativ besetzten Konzept wie Inklusion eher unwahrscheinlich.

Eine weitere Möglichkeit ist, dass dieser Aspekt im Rahmen des Interviews kaum explizit thematisiert wurde: So ist bei der retrospektiven Betrachtung des Leitfadens sichtbar geworden, dass es nur wenige Fragen gab, die diesen Aspekt ansprechen. In diesem Zusammenhang sind jedoch zwei Aspekte zu nennen, die die Erklärungsmacht des Arguments zum Teil schwächen:

So kennzeichnet sich der Leitfaden dadurch, dass recht allgemeine Fragen formuliert wurden bzw. viel Freiraum für Rahmenbedingungen gelassen wurde, die von Seiten der Interviewten eingebrachtwurden.DervorhandeneFreiraumspiegeltsichbeispielsweiseinBezugaufdas Element„situativerKontext“inderDatenauswertunginsofernwider,alsdasseineVielzahl vonAkteurenundRahmenbedingungenherausgearbeitetwurden,diebeiderEntwicklungdes Leitfadensnochnichtbekanntwaren.Danachkönnteargumentiertwerden,dassdurchausdie Möglichkeitbestandenhätte,ErfahrungenzuInklusionausdemprivatenBereicheinzubringen, auchwenndiesenichtexplizitabgefragtwurde.EinweitererGrundfürdienichtallzugroße Thematisierung könnte sein, dass die Interviewten in ihren professionellen Rollen angesprochen wurden. In diesem Zusammenhang wäre eine mögliche These, dass sie Erfahrungen aus dem privaten Bereich oder persönliche Überzeugungen von ihrer professionellen Rolle abgrenzen wollten und es daher kaum thematisiert wurde. Es stellt sich die Frage, wie diese Problematik bei zukünftigen Erhebungen umgangen werden könnte: Möglicherweise wären hierfür explizite Nachfragen nach Erfahrungen aus dem privaten Bereich notwendig. Abschließend lässt sich festhalten: Auch wenn Informationen zu Erfahrungen zu Inklusion aus dem privaten Bereich fehlen, gibt es eine Vielzahl von Rahmenbedingungenn, die der Dimension „persönliche Attribute des Sensemakers“ zugeordnet werden können.

Positionierung und Expertise zu Inklusion von Seiten der Interviewten: Bei der Deutung von Inklusion ist ein Aspekt, welche Haltung gegenüber Inklusion eingenommen wurde. Hier stellt sich die Frage, inwiefern die Auswahl an Gesprächspartnern dadurch verzerrt war, dass die Autorin bei der Interviewanfrage an die Schulinspektionen bereits angegeben hatte, dass

„BewertungskriterienundInklusion“ dieThemendesInterviewsseinwerden. Soliegt die Vermutungnahe,dassdieInterviewpartnerimVergleichzuanderenMitarbeiter_innender SchulinspektionmithoherWahrscheinlichkeitimDurchschnittpositivergegenüberInklusion eingestelltsindundübermehrExpertiseverfügen.DieseHypotheseistnichtzuüberprüfen.

Gleichwohlzeigtsichnachder AuswertungderDateneinheterogenesBild inBezugauf diePositionierungundExpertisezuInklusion.SolässtsichdurchdieInterviewseinbreites Spektrum an Positionen abbilden. Dies lässt sich unter anderem damit erklären, dass nicht nur Personen interviewt wurden, die für den Themenbereich Inklusion zuständig sind.