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Talente, ähnliche Leidenschaften und Meritokratien:

Innovation braucht Partizipation Nadine Müller

4.4.2 Talente, ähnliche Leidenschaften und Meritokratien:

Rationalität at last

Es wurde bereits angemerkt, dass die Rolle des Individuums in der Pull-Ökonomie ge-stärkt werden und die Prozesse und Strukturen der Organisation um die handelnden Per-sonen herum (und nicht umgekehrt) entworfen werden sollten. Konsequenterweise müssen auch Managementaufgaben zurückgenommen bzw. adaptiert werden, um entsprechende innovationsfördernde Freiräume zu erschließen (Hamel 2008: 65ff.; Hofmann 2010: 47;

Komus/Wauch 2008: 254ff.). Die Rolle des Topmanagements muss sich vor allem darauf fokussieren, Talente zu erkennen, anzuziehen, Incentives für engagierte Mitarbeitende und Interessierte zu schaffen und darauf zu achten, dass gerade in der krisenbehafteten Transformationsphase von der Push- zur Pull-Ökonomie nicht die falschen Mitglieder das Unternehmen/die Plattform verlassen.102 Die Gewährung von mehr individuellen Frei-räumen wird ermöglicht, weil das Problem, dass individuelle Ziele und die Ziele der Or-ganisation nicht immer kompatibel sind und gerade deshalb Hierarchien und Kontrollen notwendig werden, eine zumindest theoretische Lösung erfährt. Geht doch der Ansatz der Pull-Ökonomie davon aus, dass es früher oder später gelingen muss, auf allen Ebenen die Mitarbeiter gemäß ihrer Interessen und Leidenschaften einzusetzen. Damit kann oppor-tunistisches Verhalten minimiert werden:

102 Hier ist vor allem das beschriebene fatale Zusammenwirken der Effekte von Abwanderung und Widerspruch zu beachten: Kommt es zu einem Leistungsabfall, so werden vor allem jene Mitarbeiter und Kunden abwandern, die wertvollen Widerspruch äußern und einen Um-schwung bewirken könnten. Ihr kognitives Potenzial geht der Organisation verloren und der Lock-in schlechter Lösungen wird weiter verstärkt (Hirschman 1974: 59ff.; Ortmann 1995:

127ff.). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Gehaltspolitik von Google, welche die Teil-nahme an Lösungsplattformen bzw. Innovation extrem fördert (Hamel 2008: 164f.).

„[…] because we share passions with these people, we are more likely to develop deep, long-term relationships with them rather than resorting to opportunistic, short-long-term transactions with less potential for sustained knowledge fl ows.“ (Hagel et al. 2010: 168)

Dies ist natürlich eine sehr idealistische Sichtweise, die nicht unwidersprochen sein sollte, da viele Beziehungen in Plattformen wohl auch kurzfristiger Natur sind. Allerdings erhöht sich zumindest die theoretische Wahrscheinlichkeit, dass op portunistisches Verhalten unter gleichgesinnten, sich wertschätzenden Individuen minimiert werden kann. Die Art und Weise der Durchsetzung individueller Ziele und Strategien sowie ihre Synthese und Koordination mit den Zielen anderer erfährt somit eine Änderung. Konnte man vorher auf der individuellen Ebene nur festhalten, dass die Durchsetzung bestimmter Ziele immer auch Ergebnis von entsprechenden Machtspielen zwischen den beteiligten Akteuren ist (siehe Kapitel 3), so ist es nun scheinbar möglich, eine rationalisierende Ebene einzu-ziehen. Dies geschieht, indem das Individuum mit ‚Gleichgesinnten‘ interagiert, und vor allem nach seiner Leistung bewertet wird:

„[…] what makes the online community a more effi cient workforce than one managed by a fi rm? The short answer is that communities are better at both identifying people and evalua-ting their output.“ (Howe 2009: 115)

Das Individuum identifi ziert sich also selbst für eine Aufgabe und tritt idealtypischer-weise erst einer Plattform bei, wenn diese seinen Zielsetzungen zumindest weitgehend entspricht. Zielkonfl ikte werden gemäß dieser Sichtweise minimiert. Die Zielkonvergenz wird ebenfalls dadurch gefördert, indem Plattformen immer nur einen überschaubaren

‚Ausschnitt‘ des Individuums integrieren müssen. Dies im Gegensatz zu hierarchischen Organisationen, die oft ein ‚Mehr‘ an Inklusion vornehmen, um eine möglichst hohe Aus-nutzung der Ressourcen zu erzielen.103 Zudem zählen allein die Beiträge, die ein Mitglied zur Plattform beisteuert, um seine Rechte und Pfl ichte zu bestimmen. Es sind also reine Leistungsverbünde. Dieses meritokratische Prinzip legt auf Basis der Beiträge des Indi-viduums fest, wer welche Rolle hat und welche Entscheidung trifft. So kann verhindert werden, dass sich Individuen mit Zielen und Verhaltensweisen durchsetzen, die gegen die Protokolle der Plattform verstoßen.104 Hier scheinen sich also Kulturelemente der Tech-103 Es ist klar, dass dies ein zweischneidiges Schwert ist. Zwar wird niemals der ganze Mensch in

die Organisation gezogen, sondern er wird immer nur in „Teilen benötigt“ (Neuberger 2000:

500), allerdings bleiben solche interessengeleiteten Plattformen nicht davon verschont, dass ihre Mitglieder u.U. auch nicht erwünschte Gefühle, Bedürfnisse, Pläne und Verpflichtun-gen haben. SelbstinszenierunVerpflichtun-gen, die aufgrund der Tatsache, dass man die Menschen im Web weniger kennt als den „Kollegen gegenüber“ sind deshalb nicht unüblich, können aber durch Leistungs- und Meritenverfahren abgefangen werden (Ebersbach et al. 2011: 224f.).

104 Meritokratie bei Plattformen im IT-Bereich ist ein sehr praktikables und akzeptiertes Ver-fahren, da die ‚Zählen, Messen, Wiegen‘-Problematik so in den Griff bekommen wird: „IBM und Red Hat wollen genau wie AT&T, Canonical, HP, Nebula, Rackspace und Suse ‚Platinum

no-Eliten durchzusetzen, die in der Gelehrten-Tradition stehen und deren Praktiken sich in Elementen wie etwa Peer-Reviews, freier Zugang zu Forschungsergebnissen und An-erkennung der Urheber von Entdeckungen, materialisieren (Castells 2005: 49ff.; Florida 2011). Die ‚Übereinstimmung‘ zwischen den Interessen der Plattformmitglieder ist natür-lich dann am höchsten, wenn dieser Beitritt freiwillig geschieht. Werden Mitarbeiter von Unternehmen abgeordnet, einer Plattform beizutreten, muss dies natürlich nicht der Fall sein. Wie wir sehen werden, liegt hierin ein potenzieller motivatorischer Vorteil von Peers, d.h. freiwilligen Produzenten eines Netzwerkes, gegenüber den ‚abgestellten‘ Mitarbeite-rinnen und Mitarbeitern einer Hierarchie.

Das Verhalten des Individuums wird in einem solchen Modell nun plötzlich berechen-barer bzw. scheint sich die Qualität der Beiträge des Individuums innerhalb der Gruppe zu einer kollektiven Intelligenz zu steigern, sogar und vor allem dann, wenn Individuen unterschiedliche Kontexte mitbringen und damit neue, innovative Sichtweisen ermögli-chen (Ebersbach et al. 2011: 210). Dieses Phänomen ist unter dem Stichwort Intelligenz der Massen bekannt. Dabei handelt es sich im Prinzip um einen statistischen Effekt, der die individuelle Ungenauigkeit bei Erzielung von Abschätzungen richtiger Lösungen unter bestimmten Umständen (diverse Gruppen, Grundverständnis der Materie) zu bereinigen scheint und der in verschiedenen Varianten angewendet wird, um Lösungen zu bewerten (Crowd Voting), komplexe Probleme durch Informationsweitergabe zu lösen (Schwarm-intelligenz) oder Ideen mit anderen zu teilen, um neue Problemlösungen zu entwickeln (Schwarmkreativität) (Fliess et al. 2011: 14f.).

Auch wenn davon auszugehen ist, dass dieser Effekt und seine rationalisierenden bzw.

qualitätssteigernden Auswirkungen überschätzt und eine manchmal blinde Gläubigkeit in die Intelligenz der Massen gesetzt wird,105 so ist die Faszination, eine Organisationsform gefunden zu haben, die einerseits die Qualität individueller Beiträge erhöht und anderer-seits die Kreativität des Einzelnen in eine ‚berechenbare Kurve‘ bringt, ungemein hoch.

Es wird sogar die Meinung vertreten, dass durch ein solches Upgrade bislang schwacher Beziehungen zu externen Individuen, und die so ermöglichte Aufwertung des „Amateurs“

Partner‘ der Stiftung werden. Die fünf letztgenannten Firmen sind schon jetzt ‚Participating Companies‘ bei der Weiterentwicklung der Cloud Computing Platform; […]. Wie die Mit-teilung zu den Fortschritten bei der Stiftungsgründung erläutert, habe sich das Projekt sehr genau angesehen, wie ähnliche Stiftungen arbeiten. Eine finale Version der Organisations- und Arbeitsstrukturen soll im dritten Quartal stehen. Die Weiterentwicklung der Cloud-Plattform soll in einem offenen Prozess stattfinden und durch Meritokratie geprägt sein, bei der vor al-lem die Leistungsträger wichtige Entscheidungen treffen sollen […].“ (Heise Online 13.4.2012) 105 „In the last year or two the trend has been to remove the scent of people, so as to come as clo-se as possible to stimulating the appearance of content emerging out of the Web as if it were speaking to us as a supernatural oracle. This is where the use of the Internet crosses the line into delusion.“ (Lanier 2006)

bzw. der „Herrschaft der Dilettanten“ (Howe 2009: 33ff.) wieder zu einer stärkeren Annä-herung der Wissenschaften an die sozialen Aktivitäten vieler Interessierter führen kann.106