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Die Zukunft radikaler Politik, 2009: 24

7.2 Neue Organisationsoptionen in der Politik

7.2.4 Neue Diskursmöglichkeiten:

ziviler Kapitalismus und deliberative Demokratie im Web

Die Möglichkeiten des Webs sollen aber nicht nur die Mobilisierung und Stimmabgabe vereinfachen. Die demokratischen Ziele sind ja durchaus weitergehend. Nichts anderes als eine Diskurstangente entlang aller demokratischen Institutionen wurde bereits etwa im Zuge der deliberativen Demokratie (Bessette 1980) bzw. der Stakeholderdemokratie gefordert (Brown 2010). Dies bedeutet, dass das ökonomische System, das auf anonymen, Property-Rights-strukturierten Austauschprozessen basiert, durch einen Diskurs (Discus-sions) ergänzt wird, der zwischen den relevanten Interessengruppen bzw. Stakeholdern einer Gesellschaft stattfi ndet und thematisiert, wie das Leben organisiert werden soll.172 Damit soll eine Zivilisierung des Kapitalismus erreicht werden, da nicht nur die Art der Versorgung besprochen wird, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Um-stände, die bei den Produzenten, Händlern und auch Konsumenten relevant sind, und die heute vor allem durch den Preismechanismus überlagert werden. Wie diese Gespräche stattfi nden können, ist jedoch zumeist unbestimmt: „The discussion would occur at the neighbourhood, local, regional, national and international level“ (Brown 2010: 168).

171 Hier nur verkürzt wiedergegeben. Über die Rolle von Institutionen im Detail vgl. Schülein (1983) und Claessens (1980).

172 „When we sit at a dinner table, for example, we can ask questions as ‚who provided this food?‘,

‚Where did it come from?‘, ‚How are the providers doing?‘ […]. At a neighborhood or city council meeting, we might ask: ‚Where is the source of our water?‘, ‚How do we ensure its quality?‘ […]. In meetings in corporations and public policy agencies, we can ask: ‚Are all providers receiving their due?‘, ‚Is the current set of products or commodities the best way of providing people with what they need?‘“ (Brown 2010: 168)

Allerdings wird erkennbar, dass insbesondere der urbane Raum für eine derartige Diskussionsstruktur am geeignetsten erscheint, weil er sehr viel vom unmittelbaren Le-bensumfeld bzw. von den notwendigen Versorgungsbedarfen abdeckt und zudem eine greifbare und überschaubare Räumlichkeit darstellt (A.a.O.: 174; Barber 2013).173 Selbst-verständlich kann diese Art von Gesprächen durch Tools und Mechanismen des Webs unterstützt werden. Man denke nur an Bürgerinitiativen, die über Facebook ihre Termine koordinieren und Aktionen steuern, oder an politische Aktivisten, die in ihren Blogs Auf-klärung oder auch Propaganda betreiben (Münker 2009: 109). Die Offenlegung der kapi-talistischen Reproduktions- und Austauschprozesse kann somit leichter vonstattengehen und politische Meinungen und Interaktionen können entlang dieser Prozesse leichter und effi zienter initiiert werden.

Mehr auf die politische Meinungsbildung abzielend und weniger auf die gesellschaft-liche Untermauerung bzw. Steuerung kapitalistischer Prozesse (obwohl diese auch nicht ausgeschlossen werden) sind die Absichten der deliberativen Demokratie. Diese inten-diert die Miteinbeziehung aller Bürger im Sinne einer partizipativen Demokratie, indem sie einen Diskurs über alle relevanten Themen ermöglichen will. Gemäß der Idee einer starken Zivilgesellschaft stellt die Deliberation nach Habermas’ Theorie zweigleisiger Politik das Bindeglied zwischen politischer Peripherie und dem politischen Zentrum dar.

Das politische administrative Zentrum, ein aus der konkreten Lebenswelt ausgegliedertes Handlungssystem, trifft verbindliche administrative Entscheidungen. Typische Akteure sind etwa Mitglieder einer Regierung, Verwaltung oder klassische Parteien. Gleichwohl sind sie auf Input aus der Peripherie angewiesen und mit dieser auch über den Mechanis-mus der Wahl oder durch Kooptionsmechanismen verbunden. Die politische Peripherie kann nicht selbst herrschen. Dennoch kommt ihr, und insbesondere der zivilgesellschaft-lichen Öffentlichkeit als Rückgrat deliberativer Politik, eine überaus wichtige Aufgabe zu.

Sie fungiert als wichtigste Schleuse für die diskursive Rationalisierung der Entscheidun-gen einer an Recht und Gesetz gebundenen Regierung und Verwaltung (Habermas 1998:

364). In ihr vollzieht sich somit eine demokratische Willensbildung, welche die Ausübung politischer Macht nicht nur nachträglich kontrolliert, sondern mehr oder weniger „auch programmiert“ (Ebd.). Ähnlich wie Brown sieht allerdings auch Habermas die eigentliche Organisation der Deliberation erstaunlich unscharf:

„[…] die von den Beschlüssen entkoppelte Meinungsbildung (sic) vollzieht sich in einem of-fenen und inklusiven Netzwerk von sich überlappenden subkulturellen Öffentlichkeiten mit fl ießenden zeitlichen, sozialen und sachlichen Grenzen. Die Strukturen einer solchen plura-listischen Öffentlichkeit bilden sich, innerhalb eines grundrechtlich garantierten Rahmens, mehr oder weniger spontan. Die prinzipiell unbegrenzten Kommunikationsströme fl ießen durch die vereinsintern veranstalteten Öffentlichkeiten (sic), die informelle Bestandteile der Öffentlichkeit bilden, hindurch. Insgesamt bilden sie einen wilden Komplex, der sich nicht mehr im Ganzen organisieren lässt.“ (A.a.O.: 373f.)

173 Siehe hier auch die Beispiele und Toolfunktionalitäten für eine Bürgerpartizipation, die in der Beteiligungsplattform der Bertelsmann-Stiftung (2015) hinterlegt sind.

Wenn auch die konkreten Organisationsformen offen bleiben, so zitiert Habermas doch gewisse Grundprinzipien, damit Deliberation erfolgreich sein kann (A.a.O.: 370):

• Die Beratungen vollziehen sich in argumentativer Form zwischen einzelnen Parteien durch den Austausch von Informationen und Gründen;

• Die Beratungen sind inklusiv und öffentlich. Im Prinzip darf niemand ausgeschlossen werden;

• Die Beratungen sind frei von externen Zwängen. Die Teilnehmer sind lediglich an die Verfahrensregeln der Kommunikation und die Kommunikationsvoraussetzungen ge-bunden;

• Die Beratungen sind frei von internen Zwängen. Jeder hat die Chance gehört zu wer-den, Themen einzubringen etc.;

• Beratungen zielen auf ein rational motiviertes Einverständnis ab und können im Prin-zip unbegrenzt fortgesetzt werden;

• Politische Beratungen erstrecken sich über sämtliche Materien, die im gleichmäßigen Interesse aller geregelt werden können;

• Politische Beratungen erstrecken sich auch auf Bedürfnisse und Präferenzen.

Natürlich können derartige Diskurse über Netzmechanismen ebenfalls integrativer und effi zienter unterstützt werden, und man kann sich vorstellen, wie derartige Townhall-Ge-spräche über das Web stärker und effi zienter gewünschte Effekte erzielen können. Die

‚Kommunikationsvoraussetzungen‘ könnten im Sinne der Deliberation integrierter umge-setzt werden. Derartige Gespräche könnten etwa in verschiedene Themenblogs aufgeteilt werden. Die Koordination und Meinungsbildung sowie die Abstimmung innerhalb der einzelnen Themenblöcke könnte über das Web bzw. Liquid-Democracy-Tools abgewi-ckelt werden (Fischaleck 2012: 12). Auch hier treffen wir wieder auf die Notwendigkeit der Modularisierung, um Komplexität und Arbeitsbewältigung in den Griff zu bekom-men. Diese Modularisierung bedeutet aber auch, dass eine optimale Deliberationsplatt-form technisch noch schwer erreichbar ist:

„Es werden also Regeln und Werkzeuge benutzt, um in der realen Welt zu mehrheitsfähigen Entscheidungen oder Vorschlägen zu gelangen. In der virtuellen Welt ist dies nicht anders.

Auch wenn die virtuelle Welt die Kommunikation in großen Gruppen nahezu ohne fi nanziel-len Aufwand ermöglicht, existieren bisher keine Mainstream-Tools, um in großen virtuelnanziel-len Gruppen konsensfähige Ideen, Meinungen und Fragen zu ermitteln. Solch ein Werkzeug gilt es zu entwickeln, um die kollektive Intelligenz unserer Gesellschaft nutzbar zu machen.“

(Gebel/Gerke 2010: 108)

Zunächst können wir heute schon beobachten, dass traditionelle Parteien beginnen, Web-Tools einzusetzen, um die Kommunikation mit den Wählern zu erweitern und zu ver-vielfachen – insbesondere zu Zeiten der Wählermobilisierung. So nutzen bereits heute in den USA knapp 10 Prozent der Wähler regelmäßig Blogs. Der Einsatz von Open Source Politics – in Analogie zu der Open-Source-Software-Bewegung – begann mit dem

Wahl-kampf von Howard Dean 2004, als dieser Plattformen einsetzte, welche beispielsweise automatisch Meetings mit ihm planten, sobald die Antworten auf seine Nachrichten eine kritische Masse erreichten, oder um für die Fragen seiner Unterstützer ein Forum bereit-zustellen (Sifry 2004). Die Idee hinter einer solchen Strategie ist:

„[…] Opening up participation in planning and implementation to the community, letting competing actors evaluate the value of your plans and actions, being able to shift resources away from bad plans and bad planners and toward better ones, and expecting more of par-ticipants in return. It would mean moving away from egocentric organizations and toward network-centric organizing.“ (Sifry 2004)

Der Einsatz derartiger Tools erreichte mit dem ersten Wahlkampf Obamas einen vor-läufi gen Höhepunkt. In dieser Kampagne überschritt der Prozentsatz der politisch online Aktiven erstmals 50 Prozent (1996 waren es noch vier Prozent). Damit zog das Web mit den Tageszeitungen praktisch gleich (Heigl/Hacker 2010: 17). Beachtenswert ist, dass sich die aktionistische Komponente derartiger Plattformen nach wie vor auf die Mobilisierung von Wählern fokussiert, und in europäischen Imitationen der für den Wahlkampf Obamas verwendeten Plattform ist oft nicht einmal diese Funktion vorgesehen (Ebd.).174 Es bleibt festzuhalten, dass Plattformen für eine intensivere Kommunikation zwischen Politik und Wähler zwar vorhanden sind, diese jedoch nach wie vor eher Top-down zur Vermittlung von Zielen an eine weitgehend passive Zuhörerschaft verwendet werden – was wohl auch den Arbeitsweisen und Kommunikationsstrukturen der traditionellen Parteien entspricht.