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Am Anfang war die Tat: Diskurs und Aktion

Die Zukunft radikaler Politik, 2009: 24

7.2 Neue Organisationsoptionen in der Politik

7.2.5 Am Anfang war die Tat: Diskurs und Aktion

Die skizzierte Wirkungsweise des Webs für die Sache der partizipativen Demokratie im Sinne der Deliberation bzw. der Zivilisierung des Kapitalismus ist in letzter Zeit aus ver-schiedenen Gründen unter Druck geraten. Eine Kritik betrifft die fortschreitende Frag-mentierung der Gesellschaft (quasi analog zur FragFrag-mentierung des Individuums durch Plattformen), die andere Kritikrichtung bemängelt, dass durch Gespräche bzw. Diskurs allein die Möglichkeiten des Netzes und vor allem die Motivationen der Betroffenen im Web nicht ausreichend genutzt werden. Für die Nutzung der Aktionskompetenz von P2P wiederum, fehlt die demokratische Anbindung.

Gerade die Heterogenität, die Vielfalt und der Pluralismus des Webs bergen zwar für Widerstand in totalitären Gesellschaften zweifelsohne Vorteile, da hier Meinungsäuße-rungen an rigiden Institutionen vorbei stattfi nden können. In demokratischen

Gesellschaf-174 Der „Action Place“ der Obama Plattform (mybarackObama.com) involvierte Wähler direkt in einzelne Kampagnen und Wahlkampfmaßnahmen. Allerding traten hier die Möglichkeiten, autark und selbstgesteuert etwas zu tun, doch eindeutig hinter die Maßnahmen der Wahl-kampfzentrale zurück.

ten – so Habermas (2008: 161) – führt sie allerdings zu gegenläufi gen Tendenzen. Hier fördert die Entstehung von Millionen von Chatrooms und weltweit verstreuter Issue Pu-blics eher eine Fragmentierung der Gesellschaft bzw. des Massenpublikums, das trotzdem auf die gleichen Fragestellungen zentriert bleibt. Auf diese Weise werden die nationalen Öffentlichkeiten unterminiert.175 Das Web liefert die Hardware für die Enträumlichung einer verdichteten und beschleunigten Kommunikation, aber von sich aus kann es den zentrifugalen Tendenzen nichts entgegensetzen (Habermas 2008: 161). Hier ist allerdings anzumerken, dass die zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft bereits in vollem Gange ist und mehr mit der Ausdifferenzierung bzw. den Ungleichheiten des Wirtschafts-systems zu tun hat. Insofern könnte man dem Web und den digitalen Medien maximal den Vorwurf machen, hier einen historischen Trend fortzusetzen der bereits besteht (Münker 2009: 110). Immerhin scheint jedoch gerade das Netz in der Lage zu sein, auf diese Frag-mentierung zu reagieren, indem es hilft, Beziehungen zu aktualisieren (Open Social Net-works) und somit die Wiederherstellung des Sozialen für sich immer schneller aufl ösende Freundschaftsbeziehungen und familiäre Bindungen ermöglicht (Ebersbach et al. 2011:

222f.). Das Netz bietet auch, wie bereits dargestellt, die Möglichkeit, Kommunikation von unten nach oben zu konsolidieren und somit gemeinsame Referenzpunkte sowie eine ge-meinsame Öffentlichkeit zu schaffen, die viel authentischer sind, als die herkömmliche vorgesetzte Top-down-Kommunikation der traditionellen Medien (Benkler 2006: 241ff.;

Münker 2009: 112). Zudem ist die Kommunikation im Web so aufgebaut, dass die einzel-nen Websites aufeinander Bezug nehmen, miteinander verlinkt sind und damit nicht un-bedingt einem fragmentierten und isolierten Bild entsprechen müssen.176

Ein weiterer Kritikpunkt an der Rolle virtueller Plattformen in der partizipativen Poli-tik bzw. der deliberativen Demokratie ist der, dass sich die Nutzung des Webs meist auf

175 Allerdings gesteht Habermas dem Web generell positive Effekte zu: „Das World Wide Web scheint freilich mit der Internetkommunikation die Schwächen des anonymen und asymme-trischen Charakters der Massenkommunikation auszugleichen, indem es den Wiedereinzug interaktiver und deliberativer Elemente in einen unreglementierten Austausch zwischen Part-nern zulässt, die virtuell, aber auf gleicher Augenhöhe miteinander kommunizieren.“ (Haber-mas 2008: 161)

176 Die von Habermas angesprochen Issues bekommen so eine ganz andere Bedeutung, insofern sie das Ergebnis von Wechselwirkung und gegenseitiger Befruchtung ganz unterschiedlicher Beiträge sind. Diese können zwar ideologische Grenzen nicht ohne Weiteres überschreiten, al-lerdings wird ermöglicht, dass diese Issues zumindest unter Gleichgesinnten intensiv erarbei-tet und breit diskutiert werden können, bevor sie in eine Arena mit dem politischen Gegner geworfen werden: „Each cluster of more or less like-minded blogs tended to read each other and quote each other much more than they did the other (political) side. This operated not so much as an echo chamber (but) as a forum for working out of observations and interpretations internally, among like minded people. Many of these initial statements or inquiries die becau-se the community finds them uninteresting or fruitless. Some reach greater salience, and are distributed through high visibility sites throughout the community of interest. Issues that in this form reached political salience became topics of conversation and commentary across the divide.“ (Benkler 2006: 257)

reine Kommunikation und zu wenig auf die tatsächliche Produktion von politischen Ak-tionen und Lösungen fokussiert. Folgende Punkte können hierzu angemerkt werden:

• Personen mit unterschiedlichen Ansichten zusammenzubringen, kann einen positiven Effekt haben, sogar eine Rationalisierung bzw. Objektivierung der Politik bewirken.177 Die Deliberation ist jedoch oft weit von dem Ort der eigentlichen politischen Entschei-dung entfernt. Die von Habermas festgestellte Lücke zwischen dem politischen Zen-trum und der Peripherie wird letztendlich nicht infrage gestellt bzw. überwunden;178

• Es ist für die etablierten Institutionen meist noch sehr schwierig, neue Netzwerke zu bedienen und für sich zu nutzen, weil sie kaum Erfahrungen mit diesen Medien haben und es ihnen deshalb kaum gelingt, genügend Aufmerksamkeit und Resonanz für ihre Themen zu etablieren;179

• Der Ausgangspunkt der gegenwärtigen politischen Diskurse besteht oftmals aus ‚vor-bereiteten‘ politischen Lösungen, die als „General Will“ im beschränkten Ausmaß zur Diskussion freigegeben werden, um letztendlich die Akzeptanz der Ergebnisse zu ver-bessern. So gesehen, ist die Mitarbeit bei der eigentlichen Entwicklung der Lösung weniger gefragt: “Deliberative democracy relegates the role of citizens to discussions only indirectly related to decisionmaking and action. The reality of deliberation is that it is toothless.“ (Noveck 2009: 37).

177 Die Finanzkrise ist wohl ein gutes Beispiel für die Nichtbeachtung dieser Erkenntnis: „[Die]

bloß additive Zusammenfassung ausgewiesener Einzelintelligenzen zu ‚Expertengremien‘

oder – etwas altmodischer – ‚Weisenräten‘ wird der Vielschichtigkeit und Veränderungsge-schwindigkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft zunehmend nicht mehr gerecht. Wo etwa war das Expertengremium, das uns vor dem 15. September 2008 vor einer fundamentalen Krise der internationalen Finanzmärkte gewarnt hätte? Hier wurde bereits das Minimalgebot des Entstehens innovativer Lösungen, nämlich die Diversität der Diskursteilnehmer, nicht be-rücksichtigt. Schätzungen zufolge sind gut 90 Prozent aller Lehrstühle für Volkswirtschaft von Anhängern wirtschaftsliberaler und monetaristischer Doktrinen besetzt. Diese Experten haben sich praktisch bis zur Lehman-Pleite nur gegenseitig auf die Schulter geklopft.“ (Gebel/

Gercke 2009: 106)

178 Dies wird auch von Habermas (1998: 389) erkannt. Allerdings hegt er trotzdem die Hoffnung, dass sich die Abkopplung der politischen Steuerung vom parlamentarischen Komplex nicht widerstandslos vollzieht und die „demokratische Frage“ immer wieder auf die Agenda ge-langt.

179 „Natürlich kann man sich als Partei einen ‚Digital Native‘ in den Beirat holen oder ‚ganz professionelle virale Videos‘ produzieren lassen. Wenn es aber nicht gelingt, reale Resonanz-punkte zu treffen, ist alles umsonst und die Wirkung im Netz eher ‚tote Hose‘. Es können ja nicht alle ihre Dekolletees als Ankerreiz zu Markte tragen, sexuelle Vorlieben in die Waag-schale werfen oder Sprüche klopfen wie Dieter Bohlen. Bei Themen, die in der Maslowschen Bedürfnispyramide im etwas anspruchsvolleren Bereich verankert sind, ist viel Einfühlungs-vermögen gefragt: Was bewegt die Menschen im Netz wirklich? Wie viel Transparenz bin ich bereit zuzulassen und wie viel Mut zum Risiko bringe ich auf? Bei bedeutungsvolleren Motivlagen kann man Resonanz erhoffen aber nicht erzwingen.“ (Kruse 2010: 50)

Ob dieser Einschränkungen der Deliberation mag die Notwendigkeit, P2P für die Aktion und die Umsetzung zu nutzen, auf der Hand zu liegen:

„But in practice civic talk is largely disconnected from power. It does not take into account of the fact that in a web 2.0 world ordinary people can collaborate with one another to do extraordinary things.“ (Noveck 2009: 37)

Allerdings sieht die aktionistische Funktionsweise der P2P-Netzwerke im Sinne eines Issue Solvings keine demokratiepolitischen Grundierungen und Effekte per se vor. Im Vordergrund stehen folglich auch weniger die Einhaltung irgendwelcher demokratischer Richtlinien und Agenden oder die weitest gehende Integration von Beteiligten. Im Gegen-teil: Möglicherweise braucht man gar nicht so viele Skills, um einen Issue zu lösen, son-dern nur die genau richtigen. In diesem Zusammenhang wird bereits von einer Mikroelite gesprochen, die man für Lösungsplattformen braucht, im Gegensatz zu den Gesprächen der Deliberation, die eine möglichst vollständige Teilnahme aller Stakeholder erfordern (A.a.O.: 39). Während einige Issues eine Vielzahl von Interessierten anziehen, gibt es eine Vielzahl von Issues, die nur von einer kleinen Anzahl von Experten und Enthusiasten ge-löst werden können.180 Auch ist es nicht das Ziel der P2P-Produktion, einen großen gesell-schaftlichen Zusammenhang zwischen den Themen herzustellen. Im Gegenteil: Um einen Issue einer Plattform bzw. einem oder mehreren Experten zuzuweisen, muss das Thema in der Regel modularisiert werden, d.h. das Problem muss in Bestandteile herunter gebro-chen werden, die eine Abarbeitung durch Peers ermögligebro-chen bzw. diesen direkt zugewie-sen werden können (Benkler 2006: 100f.; Noveck 2009: 39). Diese Modularität ermöglicht zudem eine weitgehende Autonomie der einzelnen Peers der Plattform. Dies ist auch not-wendig, da Mitarbeit im P2P-Modell – wie wir gesehen haben – oft neben dem eigentli-chen Erwerbsleben stattfi ndet und deshalb weitestgehend selbstbestimmt sein sollte. Auch wenn die Modularisierung nicht die Ausmaße und negativen Effekte der Arbeitsteilung haben sollte, da möglichst kohärente Arbeitspakete defi niert werden müssen, erschwert diese Notwendigkeit möglicherweise das Erkennen der Zusammenhänge für Peers und schränkt deren Handlungsfähigkeit ein.

180 Der Terminus Microelite tauchte im Zusammenhang mit dem Peer-to-Patent-Projekt auf, dessen Ziel es ist, möglichst effektiv, die richtigen Experten den angesammelten Patentanträ-gen zuzuordnen, um diese zu be- und verwerten (Noveck 2009). „The excitement of modern collaborative environments (call it Web 2.0 or what you will) lies in the hope of bringing the masses on board to create something collectively. Hundreds of thousands, it is thought, can be not only consumers but producers. But more often than you’d think, what you need is not hundreds of thousands, but just five or ten people who know best. […] The idea of micro-eli-tes actually came to me when looking at the Peer to Patent project. There are currently 1611 signed-up contributors searching for prior art on patent applications. But you don’t want 1611 people examining each patent. You want the 20 people who understand the subject deeply and intimately. A different 20 people on each patent adds up to 1611 (and hopefully the project will continue, and grow to a hundred or a thousand times that number).“ (Oram 2007)

Wenn die P2P-Kollaboration die aktionistische Form der Technologie-unterstützten Politik ist, müssen also vom Standpunkt der Repräsentativität, wie sie eine deliberati-ve Demokratie erfordert, Abstriche gemacht werden. Der P2P-Kooperation geht es sel-ten darum, eine demokratisch legitimierte Lösung zu fi nden, sondern primär um eine technisch bzw. sachlich gute Lösung im Sinne der kollaborierenden Peers.181 Allerdings könnte man den Widerspruch zwischen den beiden Elementen P2P und Deliberation theo-retisch zumindest teilweise aufl ösen, wenn man den Aktionismus bzw. die Lösung von Issues durch P2P in einen deliberativen Prozess einbaut. Es ist durchaus vorstellbar, dass aus der Deliberation der Wunsch und die Notwendigkeit einer Aktion erst entstehen und diese dann kollaborativ umgesetzt wird. So entwickelten sich etwa aus der Occupy-Bewe-gung ganz konkrete Leistungen, die die angesprochenen Missstände nicht nur diskutieren, sondern auch beheben sollen.182 Durch die Verbindung mit der P2P-Kollaboration kann also die Deliberation Handlungsoptionen gewinnen und sich gegenüber dem politischen Zentrum durchsetzen bzw. kann die Kollaboration in einen demokratischen Verfahrens-prozess integriert werden und somit die Transformation von originären Sonderinteressen in ein politisches Gesamtprogramm ermöglichen. Ein solches Programm aus sich heraus zu entwickeln, scheint wiederum für P2P sehr schwierig zu sein. Diese politische Pro-grammierung würde etwa eine gemeinsame Vision benötigen und auch eine gewisse Go-vernance bzw. einen Zwang, sich den gefällten Entscheidungen zu unterwerfen und nicht abzuwandern. Da diese gemeinsame politische Vision fehlt bzw. unterschiedliche, schwer aggregierbare Ansichten bei den diversen Mitgliedern existieren, verzichtet etwa Wiki-pedia auf die Abhaltung von Wahlen und sucht Konsensentscheidungen.183 Keine loyali-tätsverpfl ichtende Ideologie würde die Peers ja davon abhalten, die Plattform zu verlassen,

181 Gilding (2011: 251), der erfolgreiche Beispiele der Netzkooperationen im Umwelt- und Sozial-bereich betrachtet, postuliert dieses Axiom in einer positiven Weise: „What these examples show is that people have stopped talking and started acting.“ Ähnlich auch Lindner (2010: 76) bei seiner Betrachtung deutscher Netzpolitik: „Das neue digitale Informations-Ökosystem, nennen wir es ‚Google Galaxie‘ hat seinen Kern nicht mehr in der Bürgerversammlung mit Reden und Wahl der Repräsentanten, nicht mehr im stillen Wechselgespräch der bürgerlichen Zeitungsleser mit ihren Leitartiklern, nicht mehr in Tagesschau-Auftritten, Talk Shows und Statements in Wahlsondersendungen. Nun stehen ‚User‘ im Zentrum, für die Information im-mer nur einen Klick entfernt ist und die aus eigener Kraft und in kurzer Zeit komplexe Netz-werke bilden können.“

182 So gründeten Occupy-Aktivisten etwa eine Plattform, die auf Basis von Spenden, private Schulden aufkauft und löscht: „The group, an offshoot of the Occupy Wall Street movement called Strike Debt, is trying to buy some of the debts that people have accrued – which lenders often sell for pennies on the dollar to third parties who either try to collect on it or bundle it up for resale. Strike Debt, however, is not looking to collect on them; instead it plans to give some debtors the surprise of a lifetime.“ (New York Times 2012a)

183 „In fact voting is considered anticonsensual, as it does not allow the full expression of all views in a discussion. One of the norms explicitly says that ‘Wikipedia is not a democracy’ [DEM];

another states that polling ‘is not a substitute for a discussion’ [POLL] […].” (Jemielniak 2014:

Pos 499)

wenn Mehrheitsentscheidungen gefällt würden, denen sie nicht zustimmen. Deshalb ist

„kollektives Handeln“ im Sinne der Vertretung der Interessen größerer Bevölkerungs-gruppen bei politischen Selbstorganisationen auch noch selten anzutreffen (Shirky 2008:

52ff.).184 Der Fokus liegt oftmals auf dem Konkreten, Unmittelbaren, der Aktion. So ge-sehen erscheint eine Kopplung zwischen Deliberation bzw. demokratischen Institutionen und aktionsgetriebenen P2P-Commons, wie wir sie in Kapitel 8.2. entwerfen werden, eine sinnvolle Kombination, um dieses Defi zit auszugleichen. Die Verbindungsmöglichkeiten zwischen Kollaboration und Deliberation sowie deren Nutzen für die Politik werden zur-zeit noch unterschätzt.185 Nachdem die politischen Parteien allerdings vor der Heraus-forderung stehen, eine neue Strategie für die dezentrale Gesellschaftsverfassung zu ent-wickeln, kann man davon ausgehen, dass diese Organisationen sowohl die Potenziale der P2P-Modelle ausnutzen werden als auch die Möglichkeiten, durch neue Technologien und Verfahren den deliberativen Prozess stärker zu beeinfl ussen bzw. auszuweiten. Diese Ko-operation/Kooptation – analog zur Kooperation von P2P und Unternehmen – erscheint sinnvoll, weil sich die Art und Weise, wie Politik stattfi ndet durch die Globalisierung und Virtualisierung in eine Richtung transformiert, die die Vernetzung diverser politischer Akteure notwendig macht.