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Politischer Widerstand oder doch Manufacturing Consent?

Die Zukunft radikaler Politik, 2009: 24

7.1 Politischer Widerstand oder doch Manufacturing Consent?

7.1 Politischer Widerstand oder doch Manufacturing Consent?

Wie wir bei der Beschreibung der Hierarchie als Steuerungsinstrument menschlicher Arbeitsleistung im Kapitalismus bereits diskutiert haben, ist die allumfassende Durch-dringung des Systems durch die hierarchische und arbeitsteilige Arbeit ein besonderes Merkmal. Der Kapitalismus war, wie Polanyi feststellte, in der Lage, die traditionellen Arbeitsweisen und die traditionelle Kultur weitgehend zu verdrängen. Dies geschah vor allem mit der Durchsetzung von privaten Eigentumsrechten zulasten gemeinschaftlichen Eigentums (Einhegungen) sowie durch die Verwendung der Arbeitsteilung anstatt der wenig disziplinierten Gruppenorganisation. Diese Veränderungen waren dauerhaft und haben sich als eine Art Master/Servant-Struktur oftmals bis in die gegenwärtigen Institu-tionen ‚herübergerettet‘.159

Nach dem Untergang des kommunistischen Systems und dem Siegeszug der Globali-sierung, kann man annehmen, dass der Kapitalismus nichts von seiner Energie und He-gemonie eingebüßt hat. Im Gegenteil, man muss sich wohl eher die Frage stellen, ob und

159 „The movement into capitalism, thus, can be seen as a movement from the notion of com-mon rights to the notion of private rights. This may sound benign until we remember that the movement represented a life-changing loss for commoners and a huge boon for those who held property – the landowners. These landowners became part of a ‚civil society‘, which the early Enlightenment defined as a refined way of living. But civil society included only owners of property. The workers were seen as servants of masters, not as citizens. This relationship of master and servant was based on the property rights of the master. The servant lost the common rights that allowed an independence from living on wages and the master gained an exclusive right to control property. Most contemporary business law, at least in the United States, continues to be based, for the most part, on this master servant relationship.“ (Brown 2010: 63)

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2017

A. Al-Ani, Widerstand in Organisationen • Organisationen im Widerstand, Organisation und Gesellschaft, DOI 10.1007/978-3-658-12570-7_7

wie in einem solchen System Widerstand überhaupt möglich ist. Und dies nicht aus einer prinzipiellen Systemfrage heraus, sondern vor allem, um zu untersuchen, welche Kräfte für eine Weiterentwicklung des Systems überhaupt zur Verfügung stehen? Diese Frage erscheint vor dem Hintergrund der ungeheuren Sogwirkung dieses Systems und seiner Institutionen durchaus berechtigt:

„In weltgeschichtlicher Perspektive ist der moderne Kapitalismus ein einmaliges Phänomen:

Es ist keine Gesellschaftsformation bekannt, die in diesem Umfang eine fast vollständige Unterwerfung nahezu aller Menschen des Globus unter ihre Strukturprinzipien erreicht hät-te. Soweit nicht reell, so sind die meisten Menschen doch formell den Mechanismen der

‚ökonomischen Struktur‘ des Kapitalismus subsumiert. Diese Subsumtion wird befördert durch eine universalistische Ideologie, die sich in hegemonialen Beschreibungen der Institu-tionen ausdrückt […] wie z.B. im ‚demokratischen Rechtsstaat‘, in Verfassungen und in der Institution des Privateigentums. Diese Institutionen sind durchwegs getragen von der Idee bzw. dem Anspruch der Inklusion aller Menschen (z.B. formale Partizipationsrechte), und für diese Inklusion kämpfen seit Mitte des letzten Jahrhunderts jeweils Unterprivilegierte, die auch alle mitmachen und sich nicht etwa von den Systemimperativen befreien wollen.“

(Türk 2000: 161)

Nun sind jedoch die Einbindungen und damit auch die Lebensumstände der Menschen in diesem System durchwegs sehr unterschiedlich und die Notwendigkeit benachteiligter In-dividuen und Gruppen, Widerstand bzw. Widerspruch im Sinne Hirschmans einzulegen, naheliegend. Ist die Unzufriedenheit groß genug, besteht die Tendenz, dass sich Individu-en zu SonderinteressIndividu-engruppIndividu-en zusammIndividu-enschließIndividu-en und versuchIndividu-en, ihrIndividu-en Anteil an dIndividu-en Ressourcen bzw. Renten zu erhöhen. Dies ist natürlich eine rein theoretische, spekulative Betrachtung. In der Regel sind politische Regime bestrebt, Widerstand bzw. Sonderinter-essengruppen nur insoweit zuzulassen, wie sie diese in ihren politischen Institutionen auch

‚verarbeiten‘ können (und wollen). Diese wichtige Formel hat Huntington schon in den 1960er-Jahren aufgestellt, als man sich Sorgen um progressive Umstürze in den Ländern des Südens machte und nach Veränderungsagenten suchte, die das kapitalistische System gegen allfällige Widerstände einführen und bewahren sollten. Eine wichtige Feststellung Huntingtons (1968) war, dass derartige Transformationsphasen und Konfl ikte vor allem dazu führen, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sich ihrer Identität be-wusst werden, sich politisch mobilisieren und versuchen, Partizipation einzufordern, um ihre Ziele umzusetzen – so wie es das Modell von Olsen vorsieht (s.o. Kap 2.6).

Diese Partizipation muss jedoch von den Institutionen bewältigt werden, da sonst Instabi-lität das politische System prägen wird.160 Und so ist es wohl auch nicht sehr verwunder-lich, dass sich demokratische Strukturen in den meisten institutionenschwachen Ländern des Südens noch immer nicht durchgängig durchgesetzt haben.161 Es bleibt bei der nüch-ternen Erkenntnis, dass trotz Inklusion individuelle Freiheiten in Marktwirtschaften und ihren hierarchischen Organisationen beschränkt bleiben. Diese Einschränkungen haben viel mit der Notwendigkeit der Einpassung in eine Organisationshierarchie bzw. mit dem mikropolitischen Erfolg innerhalb dieser zu tun:

„Needless to say, this freedom of action is, from a certain point of view, somewhat illusory. It can be very small indeed if […] income is very low. What one’s income is, is not determined here by justice, but by a complicated system of interactions whose ethical meaning is hard to defi ne. The realization of freedom through the market completely ignores the fact that this freedom can be, to a large number of people, very limited in scope.“ (Arrow 1974: 21)

Allerdings haben diese Limitationen nicht dazu geführt, dass das Konzept des Kapitalis-mus an Attraktivität verloren hat. Dies hat einerseits mit den ökonomischen Erfolgen des Kapitalismus zu tun und andererseits mit der Tatsache, dass die herrschenden Systeme ihre Zwänge und Ungleichheiten sehr viel subtiler reproduzieren und somit massiven Wi-derstand vermeiden können. Offene Unterdrückung von Meinungen wird vermieden, da dies auch ein allzu offensichtlicher Bruch mit der vorherrschenden Ideologie wäre. Anstatt plumper Ausbeutung fi ndet dann etwa ein Mehrwehrtransfer statt. Es ist die Frage, ob es sinnvoll ist zu sagen, dass der osteuropäische Arbeiter ausgebeutet wird, wenn er ein Vier-tel des Lohnes bekommt. Er steht im Kontext seiner Wirtschaft damit noch immer besser da als ohne diese Arbeit (Türk 2000: 163).

Doch nicht nur die Subtilität und Alternativlosigkeit des Systems führt zu dessen Ak-zeptanz und Attraktivität. Eine Art „Verschleierung“ von Widersprüchen (Burawoy 1985) setzt sich auf institutioneller und organisatorischer Ebene fest,162 wo es dann zu einer 160 Huntingtons ‚Formel‘ (1968: 55) lautete:

161 Es lag vielleicht auch daran, dass Huntington das Militär als Modernisierungsagent favorisier-te, weil es wohlorganisiert und diszipliniert agiert. Dass gerade diese hierarchisch organisierte Gruppe keine demokratischen bzw. partizipatorischen Tendenzen verfolgte, ist rückblickend auch wenig überraschend (Al-Ani 2007: 326ff).

162 Mit durchaus hygienischen Wirkungen für die Betroffenen, denn „[…] nur unter der Bedin-gung, daß sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist Macht erträglich.“ (Foucault 1983a: 87).

„inkludierenden Exklusion“ (Türk 2000: 165) kommt. Paradoxerweise führt die Gleich-schaltung aller Individuen (man bedenke, dass der Kleinbauer in der Eifel mit Plantagen-kapitalisten aus Südamerika in einem System lebt) zu einer Entmutigung und Unterbin-dung der Selbstorganisation. Das Supersystem macht es sehr schwierig, eigene Systeme aufzubauen, da das System ja für alle da ist bzw. da sein sollte. Ein Ausscheren ist zudem mit sehr hohen Kosten verbunden, die nicht für jedermann bezahlbar sind. Restriktive Eigentumsrechte tun ein Übriges. Die materielle Exklusion, die in den unterschiedlichen Regionen der Welt bis zum Hungertod gehen kann, muss dann in letzter Instanz durch das Prinzip der Selbstverschuldung als einzige Rechtfertigung aufrechterhalten werden.

Organisationen sind in diesem Kontext Teil der zivilgesellschaftlichen Struktur im Sinne Gramscis:

„Die Organisationsform ist der strukturell entscheidende Modus der ‚Zivilgesellschaft‘;

Organisationen verkoppeln Staat und ‚Gesellschaft‘, indem sie implizite (ideologische und legitimatorische) oder explizite (strategische) korporatistische Arrangements mit staatlichen Einrichtungen eingehen. Nahezu alle einzelnen Arten formaler Organisation sind auffälli-gerweise staatlich geregelt […]. Es gibt keine ‚systemfeindlichen‘ formalen Organisationen (allenfalls sehr kurzfristig).“ (Türk, 2000:165, Hervorhebung durch Verf.)

Dies bedeutet nicht, dass es keine Freiräume für Widerstand gibt. Nur werden diese zu-meist zum Zwecke des Systemerhalts bzw. als eine Art „Immunsystem“ zur Sicherung der Autopoiesis (Luhmann 1996: 17) verwendet. Man hat es folglich immer wieder mit einer Art „Schaukampf“ zu tun und diese Konsensbildung führt letzten Endes zu einer Reproduktion bestehender Verhältnisse – zu einem Manufacturing Consent (Burawoys 1985: 36). Bemerkenswert an dieser Darstellung ist, dass die Arbeitnehmer hier zwar ihren Spielraum auch mikropolitisch nutzen können. Diese Strategie – wir erinnern uns an Willis Studie über die lads der Arbeiterklasse (siehe Kapitel 1.1.) – ist aber trügerisch, da die Arbeitnehmer zwar nicht wie bei Bravermann dem Diktat des Managements völlig ausgeliefert sind, aber Komplizen ihrer eigenen Ausbeutung werden (Bruch 2000: 194).

Meist werden derartig raffi nierte und selbsttäuschende Effekte nicht auf den ersten Blick erkenntlich. So attestiert etwa Elsenhans (2012: 216) den in den Ländern des Südens aktiv und vermehrt für die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung auftretenden NGOs, dass diese durch ihre Nähe zu großen Konzernen empfänglich für deren Interessen sind und, schlim-mer noch, auch die Entwicklung autochthonen Widerstandes behindern.

Die bereits beschriebenen Veränderungen in Unternehmen und neuen Commons-ba-sierten P2P-Produktionsorganisationen stellen zweifelsohne ebenfalls eine Entwicklung dar, die der Kapitalismus aus sich heraus – wenn auch unbeabsichtigt – evoziert, indem sich der durch die Erfolge des Systems generierte, aber ungenützte ‚kognitive Surplus‘

organisiert und Unternehmen bzw. auch das politische System beeinfl usst. Dieser neue Sektor zwingt sich nicht auf, sondern ist durch seine Produktivität und Innovationskraft sowohl für den Markt als auch für den Staat ein Reservoir an Ideen und Tatkraft, das es zu nutzen gilt, um im Hyperwettbewerb und angesichts der politischen Herausforderungen

zu bestehen. Somit kann man diesen Prozess als eine systemimmanente Entwicklung cha-rakterisieren, möglicherweise hin zu einem „kognitiven Kapitalismus“ (Bauwens 2005b;

Boutang 2011). Nachdem dieser Prozess die Ressourcen des Kapitalismus dazu nutzt, eigene Strukturen und Beziehungen aufzubauen, um diese auf Kosten der Hierarchie und des traditionellen politischen Systems zu expandieren, ist jedoch die letztendliche Beurtei-lung über die Andersartigkeit schwer zu treffen – zumal P2P ja auch ‚nur‘ vorhandene Prinzipien (Demokratie, Selbststeuerung etc.) und Technologien einsetzt, anders konfi -guriert bzw. gewichtet und nach wie vor vom Staat (Transferleistungen) und dem Markt (Beschäftigung) alimentiert wird.

Bevor wir hier zu einem Fazit gelangen, mag es zunächst zielgerichteter sein, zu unter-suchen, ob die Ergänzung von Markt und Staat durch die neuen Modelle zu Veränderun-gen führt bzw. welche Konsequenzen eine Substituierung bzw. Ergänzung des Staates und des Unternehmens durch P2P haben kann. Um sich einem derartigen Urteil anzunähern, müssen hier zunächst die Auswirkungen von P2P in der politischen Sphäre betrachtet wer-den, da die neuen Kooperationsformen auch neue politische Beziehungen generieren bzw.

die Politik die Entstehung und Reproduktion von P2P beeinfl ussen wird (Property Rights, Transferzahlungen etc.). Auf der Basis von Beispielen über Umbrüche in Bildung, Kul-tur und Geschlechterverhältnissen in Organisationen und den gegenwärtigen Problemen des Staates werden dann Kooptationsmechanismen der Politik analysiert. Ähnlich wie im Bereich der Wirtschaft ist nämlich zu vermuten, dass traditionelle politische Akteure Elemente der innovativen und tatkräftigen politischen P2P-Organisationsform kooptieren werden. Damit sollen entsprechende neue Fähigkeiten aufgebaut bzw. angereichert wer-den. Auf der anderen Seite kann die politische P2P-Organisation von der Konnektivität zu politisch legitimierten Organisationen ebenfalls profi tieren. Im letzten Abschnitt wird dann eine abschließende Evaluierung versucht.